Eine großtürkische, islamistische, totalitäre Türkei

Baki Gül zu den Zielen der AKP; für den Kurdistan Report Mai/Juni 2017

Die Adalet ve Kalkınma Partisi (AKP), deutsch: Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung, wurde von Recep Tayyip Erdoğan und seinen Freunden am 14. August 2001 gegründet. Die Gründer wie Tayyip Erdoğan, Abdullah Gül, Bülent Arınç und Abdullatif Şener folgten einer politischen Linie, die der Refah Partisi (RP, Wohlfahrtspartei) und Saadet Partisi (SAADET, Partei der Glückseligkeit) aus der Tradition der islamisch geprägten Bewegung Milli Görüş (»Nationale Sicht«) unter Führung Necmettin Erbakans entstammte. Nur umfasste sie in ihrer Gründungszeit in einer Synthese eine Spanne von Turgut Özals liberalnationalistischer Anavatan Partisi (ANAP, Mutterlandspartei) über Süleyman Demirels Doğru Yol Partisi (DYP, Partei des Rechten Weges) bis hin zur Milliyetçi Hareket Partisi (MHP, Partei der Nationalistischen Bewegung). Unter Einbeziehung der Liberalen und sogar Sozialdemokraten wie Ertuğrul Günay erklärten sie sich zur »Neuen Türkei« und stellten sich dar als Partei mit der Identität »konservativer Demokraten«.

Die Auffassung der AKP von »Konservatismus« und »demokratischer Gesinnung« hat sich im Laufe der Zeit gewandelt. Insbesondere die »Ein-Mann-Herrschaft«, mit der Erdoğan charakterisiert wird, offenbart aktuell sehr deutlich, dass das AKP-Projekt der »konservativen Demokratie« zu Gründungszeiten für sie ein Instrument zur Machtübernahme und Machterhaltung war. Und am deutlichsten und wichtigsten, dass das Regime, das die AKP in der Türkei verfestigen will, auf der Synthese von türkischem Rassismus und islamischem Fundamentalismus basiert und in Wahrheit ein totalitäres nationalistisch-fundamentalistisches Projekt ist. Wie aber ist die AKP zu diesem Prozess gelangt und wie hat sie sich während und nach ihrer Gründung in der Gesellschaft und in der internationalen Arena verkauft? Es lohnt, sich hierzu die Türkei und die Entwicklungen in der Region vor der AKP-Gründung anzuschauen.

Die Türkei war nach der Auslieferung des PKK-Gründers und -Vorsitzenden Abdullah Öcalan am 15. Februar 1999 in eine neue Phase eingetreten. Der seit dem 15. August 1984 andauernde Krieg zwischen der PKK-Guerilla und dem türkischen Staat wurde ausgesetzt und es kam dort zu einer relativen Normalisierung der Lage. Die Basisparteien der Türkei, die nationalistisch-liberalen Parteien ANAP und DYP, die auf bewaffnete Auseinandersetzungen spekulierten, konnten sich dieser neuen Phase nicht anpassen. Und die RP bzw. deren Nachfolgerin SAADET unter dem Vorsitz Erbakans waren mit ihrer »islamischen« Identität inakzeptabel für den NATO-Staat Türkei. Die Koalition im Jahr 1999 wiederum zwischen der nationalistisch-rassistischen MHP und der sozialdemokratisch-nationalistisch geprägten Demokratik Sol Parti (DSP, Demokratische Linkspartei) Bülent Ecevits schuf weder eine zeitgemäße noch eine den Entwicklungen in der Türkei adäquate Politik. Die sich nach den Al-Qaida-Angriffen vom 11. September 2001 in Afghanistan begonnene und auf den Irak und etliche andere Staaten des Mittleren Ostens auswirkende neue Welle der globalen Politik störte das Gleichgewicht. Mit dem Aufkommen lokaler Dynamiken und der Phase einer Neuordnung des Mittleren Ostens begann die Diskussion über die Anpassung der Türkei an diese Zeit.

Genau dann trat die AKP unter dem Vorsitz Erdoğans auf die Bühne. Während ihrer Gründungsphase wurde sie offen von wichtigen US-Lobbyisten und -Politikern unterstützt. Erdoğan erklärte sich zum Kovorsitzenden des »Greater Middle East Project«. Ähnlich stützte auch die EU die Entstehung der AKP. Liberale, nationalistische und religiöse Kreise sahen mit Erdoğan die Neustrukturierung der Türkei voraus und Bewegungen wie diejenige Fethullah Gülens und religiöse Organisationen kamen in der Allianz mit der AKP zusammen. Da sich nationalistische Gruppen und kemalistische Revisionisten den Erfordernissen der Zeit politisch nicht anpassen konnten, bluteten sie aus. Und am 3. November 2002 schaffte es die AKP bei den Parlamentswahlen, die Regierung allein zu übernehmen. Erdoğan, mit einem politischen Betätigungsverbot belegt, kam nach Gesetzesreformen an die Spitze seiner Partei, Abdullah Gül übernahm die Präsidentschaft der Türkei.

In der ersten Zeit vereinigte die AKP liberale Demokratie mit islamischem Konservatismus. Dabei kollidierten der politische Islam und die laizistischen Revisionisten des kemalistischen Staates leicht. Die Widersprüche des revisionistischen kemalistischen Staates in seiner antikurdischen und linksfeindlichen Politik verwertete die AKP in ihrem Sinne, so dass sie Vertreter des politischen Islam bis hin zu liberalen Kreisen, Nationalisten, intellektuellen EU-Befürwortern und Zivilorganisationen auf ihre Seite zog. Militärische Waffenstillstände der kurdischen politischen Bewegung und Gespräche über »Lösungen« in der Kurdenfrage verlängerten den Machterhalt. Die AKP, die bei den Parlamentswahlen am 3. November 2002 34 % der Stimmen erzielte, bekam mit dieser Politik bei den Wahlen am 22. Juli 2007 47,58 % und am 12. Juni 2011 49,83 %. Am 7. Juni 2015 schaffte sie es mit 40 % nicht, die Regierung allein zu stellen. Und am 1. November 2015 erhielt sie 49,5 % der Stimmen.

Neben Abdullatif Şener, der seit der Gründung 2002 bis 2008 dabei war, wurden von der AKP noch weitere Namen ausgemustert, wie z. B. die kurdischen Gründungsmitglieder Cüneyd Zapsu und Dengir Mir Mehmet Fırat. Sie entfernte sich von der EU-freundlichen Politik und schaffte es, sich wegen Unstimmigkeiten mit dem türkischen Militär in Bezug auf den Laizismus als »Opfer« darzustellen. Der AKP-Erdoğan-Block verbündete sich zu Beginn mit den Gülenisten und blockierte bzw. schwächte zwischen 2002 und 2009 die türkischen bewaffneten Kräfte, die nationalistische, türkisch-rassistische Ergenekonisten beherbergten. Mit Gülen bis 2009/2010 alliiert, begann er ab 2011 in Oslo heimliche Gespräche mit der PKK und überwarf sich dadurch mit den Gülenisten und den Ergenekonisten. Nach dem Krach mit den Gülenisten scharte er wiederum den ergenekonistisch-türkischen Nationalistenkreis um sich und richtete sich selbst im Staatsapparat ein. Diese Allianz und Auseinandersetzung demonstriert, dass das Ziel der AKP nicht die Schaffung eines gesellschaftlichen Projekts der gesellschaftlichen Demokratie, des Laizismus und einer EU-Orientierung ist, sondern die Neugestaltung eines pantürkisch-islamistischen Staates.

Zu der Zeit begann in Tunesien, Libyen und Ägypten der im gesamten Mittleren Osten aufkommende »arabische Frühling«, in dem die AKP und Erdoğan ihren Einfluss auf dem politischen Parkett als Hauptdarsteller des sunnitischen Islam konkretisieren wollten. Erdoğan versuchte sich als Vertreter der islamischen Welt und als deren Führer hinzustellen. Mit seiner »one minute«-Szene in Davos gegen Israel und seinem Auftreten als Patron der Muslimbruderschaft in Ägypten passte er mit deren »Rabia«-Fingerzeichen die Position des Stellvertreters für den Islam an seine neue osmanische Politik an. Aus diesem Grund übernahm er im Bürgerkrieg in Syrien eine direkte Rolle, als er fundamentalistische Gruppen wie insbesondere den Islamischen Staat (IS) unterstützte. Mit dieser Politik setzte er die These, die Türkei solle ein Teil des Spiels sein, wenn die Region stabilisiert wird, in die Praxis um. Er schulte alle radikalen und faschistischen islamistischen Gruppen militärisch und politisch und unterstützte sie finanziell. Auf dem diplomatischen Parkett übernahm er die Beschützerrolle für sie. Und er brachte sein gesellschaftliches Projekt mit dem islamistischen Radikalismus, der neoosmanischen Politik und heute dem Pantürkismus auf eine Linie.

Erdoğan und sein Umfeld planten mit ihrem gesellschaftlichen Projekt keinesfalls eine Annäherung an die demokratischen und freiheitlichen Werte der Europäischen Union. Die AKP brachte das gesellschaftliche Leben auf eine islamische Linie, indem sie den Laizismus des türkischen Staates deformierte. Auf jeder Kundgebung hat sie aufs Neue islamische Symbolik mit pantürkischem Anstrich wiederbelebt. Die staatliche Bürokratie, die geschwächte Armee, der von den Gülenisten bereinigte Polizeiapparat, der Nationale Geheimdienst, Medien und zivilgesellschaftliche Organisationen wurden auf dieser Linie neu formiert. Mithilfe diplomatischer Beziehungen, die dieser Neuformierung entsprachen, versuchte sie ein Gleichgewicht zu Russland und China zu schaffen.

Erdoğan und seine Equipe schritten voran, sein de facto totalitäres, osmanisches Staatsgebilde mit einer neuen Verfassung zu legalisieren.

Dafür wurden in allen staatlichen und privaten Medien neue Projekte ins Leben gerufen, die dem populären, islamisch-pantürkischen Grundsatz folgten. Wir können feststellen, dass die heutige Situation in der Türkei in gewisser Weise dem Verlauf der Iranisch-Islamischen Revolution unter Ajatollah Chomeini ähnelt. So wie Chomeini Sozialisten und Demokraten als Schah-Gegner zusammenhielt und nach der Revolution liquidierte und den iranischen Staat übernahm, so benutzte auch Erdoğan die Liberalen und EU-Befürworter auf dem Weg zu seiner heutigen Position.

Nach dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 wurden in der hohen Staatsbürokratie, in Justiz, Beamtenapparat, Medien und Ähnlichem Säuberungsaktionen durchgeführt, bei denen Aleviten, Kurden, Gülenisten, Laizisten und andere ihrer Ämter enthoben wurden. Das war eine sehr rigorose Abrechnung:

– Nach den Zahlen des Justizministeriums, die es der Nachrichtenagentur Anadolu bekannt gegeben hat, wurden gegen 103 850 Verdächtige juristische Schritte eingeleitet.

– Gegen 103 850 Personen wurden Untersuchungen eingeleitet von denen dann 41 326 in Haft genommen wurden.

– Gesundheitsminister Mehmet Müezzinoğlu äußerte bei einem Auftritt in CNN Türk am 10. Januar, dass 97 679 öffentliche Mitarbeiter aus dem Amt entfernt und gegen 135 356 Personen juristische Schritte eingeleitet worden seien.

– Aus dem türkischen Militär wurden 4 619 Personen per Dekret vom Dienst suspendiert, aus der Gendarmerie 1 922 und aus der Küstenwache 30.

– 20 417 Akademiker oder akademische Mitarbeiter sind im Rahmen der erlassenen Dekrete während des Ausnahmezustands oder der Schließung von Universitäten durch Dekret suspendiert oder arbeitslos geworden, bzw. haben durch die Streichung von Förderprogrammen für den wissenschaftlichen Nachwuchs eine garantierte Forschungsstelle verloren.

– Per Dekret wurden die Dienstverhältnisse von 30 395 Personen beendet, die für das Bildungsministerium gearbeitet hatten.

– Akademiker oder wissenschaftliche Mitarbeiter verloren ihre Rechte, wurden suspendiert oder verloren wegen Schließung der jeweiligen Universität ihre Stelle.

– Per Dekret wurden 155 Medienanstalten geschlossen, von denen 20 wieder geöffnet haben. Der Zeitung Cumhuriyet zufolge wurden 12 TV-Sender und 10 Radiosender auf Beschluss des per Dekret autorisierten Ministers geschlossen.

– Nach veröffentlichten Zahlen der unabhängigen Journalistenplattform P24 vom 18. Januar wurden während des Ausnahmezustands 121 Journalisten verhaftet.

– Unternehmervermögen im Wert von 12 Milliarden Lira wurde der Staatskasse zugeführt.

Und die AKP hat anstelle der entfernten Soldaten, Polizisten, Staatsanwälte, Rechtsanwälte, Lehrer, öffentlich Bediensteten, Journalisten und Akademiker ihr selbst nahestehende gewählt. Sämtliche staatlichen Möglichkeiten hat sie nach Bedarf für sich ausgenutzt und es geschafft, dass der neue Charakter des türkischen Staates ein osmanisch orientierter, pantürkisch-islamistischer, totalitärer ist.

Erdoğans Türkei in Zahlen

– Von 2002 bis 2015 wurden 5 406 Frauen ermordet. Seit der Machtübernahme der AKP hat sich die Zahl der Frauenmorde um bis zu 1 400 % erhöht.

– Während 13 Jahren Zerstörung durch die AKP sind Scheidungen um 37 % angestiegen, Prostitution um 790 %, Morde um 261 %, Missbrauch an Kindern um 434 %, Drogensucht um 678 % und sexuelle Straftaten um 449 %. Die Zahl der minderjährigen Gefangenen ist in 5 Jahren um das 5-Fache gestiegen.

– Und, so traurig es klingt, in der Türkei gibt es 181 036 Kinderbräute.

– Gefängnisse: Während es 2002 59 429 Gefangene oder Strafgefangene gab, ist diese Zahl bis 2016 um 211 % gestiegen.

Im Vergleich dazu saßen 1970 56 511 Personen im Gefängnis, deren Zahl sich nach dem bekannten 12. März [Militärputsch] bis zum Ende des Jahres 1971 auf 61 463 erhöhte. Nach dem Putsch vom 12. September 1980 bis zum Ende desselben Jahres saßen 70 171 Menschen ein, ihre Zahl stieg 1981 auf 79 786. Diese Angaben zeigen, dass sich die Zahlen zu Putschzeiten um 10 bis 14 % erhöhten.

Zur Zeit der AKP und insbesondere in den letzten 6 Jahren sind die Gefangenenzahlen um ca. 60 000 gestiegen, also eine Erhöhung um ca. 50 %. Justizminister Bekir Bozdağ erklärte, dass am 12. Oktober 2016 194 973 Gefangene in den 372 Vollzugsanstalten gesessen hätten. Zudem sollen 2017 175 neue Strafvollzugsanstalten gebaut werden.