Eine Lösung der kurdischen Frage nur durch eine Mentalitätsänderung des türkischen Staates

Interview mit Besê Hozat, Ko-Vorsitzende der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK); ein Ausschnitt aus dem Buch »2005–2015 Gespräche Türkei–PKK« vom Journalisten Amed Dicle, 19.07.2018

Nach einer intensiven Daten- und Archivrecherche hat der Journalist Amed Dicle das Buch »2005–2015 Gespräche Türkei–PKK: Die ›Operation des Lösungsprozesses‹ gegen die Lösung der kurdischen Frage« über die zehn Jahre andauernden (geheimen) Verhandlungen bzw. Gespräche zwischen der Türkei und der PKK veröffentlicht. Es wurde viel über diese Gespräche geschrieben. In diesem Buch wird zum ersten Mal veröffentlicht, wie und wann sie begannen, wer die Treffen vermittelte und an ihnen teilnahm. Vertreter der kurdischen Seite, die daran beteiligt waren, kommen selbst zu Wort. Ab dem 24. Juli 2015 flammte der Krieg zwischen der Türkei und der PKK von Neuem auf. Er dauert heute noch mit unverminderter Härte an und erstreckt sich drei Jahre später bis nach Rojava/Nordsyrien mit der Besetzung des Kantons Efrîn und von Gebieten in Südkurdistan/Nordirak. Im Folgenden veröffentlichen wir ein exklusiv für den Kurdistan Report übersetztes Interview aus dem Buch mit der Ko-Vorsitzenden der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) Besê Hozat, in dem die Geschichte der Verhandlungen, die auch eine Vorgeschichte der erneuten gewaltsamen Eskalation in Kurdistan ist, und der Charakter des türkischen Staates ausführlich erörtert werden.

Insbesondere zwischen 2005 und 2015 gab es zwischen Ihrer Seite und dem Staat sporadisch mittelbare Gespräche. Von Seiten der USA und Europas gab es immer wieder Aufrufe zu einem Waffenstillstand. Zwar brachen die Gespräche immer wieder ab, aber insgesamt gab es doch eine Kontinuität. Allerdings kam es zu keinem Lösungsansatz. Können Sie diesen Zeitraum für uns zusammenfassen und bewerten?

Zur Beurteilung müssen wir das internationale Komplott einbeziehen. Es hatte zum Ziel, die Bewegung zu vernichten. Doch das neue Paradigma und die neue Strategie unseres Vorsitzenden, der einseitige Waffenstillstand und der Rückzug der Guerilla sowie die politischen und militärischen Schritte unsererseits haben dazu geführt, dass überall der Widerstandsgeist und die Verbundenheit mit der Bewegung und unserem Vorsitzenden gewachsen sind. Es war dieser Haltung und diesem Kampf geschuldet, dass das internationale Komplott ins Leere gelaufen ist. Die Gespräche ab 2005 sind das direkte Ergebnis dieses Scheiterns.

In der Zeit des Komplotts machte die Türkei eine ernsthafte wirtschaftliche und politische Krise durch. Mit Ausbruch der Wirtschaftskrise wurde die Regierung Ecevits gestürzt. Das Erscheinen der AKP ist als Ergebnis dieser Entwicklung zu sehen. Natürlich kam sie nicht aus heiterem Himmel. Die Machtergreifung der AKP ist eine Folge der Politik, die nach dem Putsch vom 12. September 1980 in der Türkei verfolgt wurde.

An die Regierung gelangte die AKP zu einer Zeit eines einseitigen Waffenstillstands unsererseits. Trotz all unserer Aufforderungen weigerte sich die neue Regierung aber, Schritte in Richtung einer Lösung zu gehen. So sahen wir uns als Bewegung gezwungen, ab dem 1. Juni 2004 wieder den bewaffneten Kampf aufzunehmen. Der Staat hatte in den Jahren von 1999 bis zum Juni 2004 nicht angemessen auf unser Entgegenkommen reagiert. Trotz einiger Versprechungen und der sporadisch anhaltenden Gespräche mit unserem Vorsitzenden wurde uns klar, dass der Staat eigentlich einen Plan verfolgte, der auf die Vernichtung unserer Organisation abzielte. Dafür wollten sie Einzelne innerhalb unserer Organisation beeinflussen und so gemeinsam mit internationalen Strukturen die Partei von innen heraus handlungsunfähig machen. Als dies scheiterte, wurden die Angriffe von außen plötzlich stärker. Daraufhin sahen wir uns genötigt, unseren Waffenstillstand am 1. Juni 2004 für beendet zu erklären.

Worin besteht die Bedeutung dieser Erklärung und was wäre passiert, wenn die Bewegung die Entscheidung zur Beendigung des Waffenstillstands nicht getroffen hätte?

Mit dem 1. Juni begann eine äußerst intensive Phase des Widerstands. Das wurde auch in der Gesellschaft schnell aufgegriffen. Die Bewegung ist sowohl politisch als auch militärisch rasch gewachsen und stärker geworden. Mit Beginn dieser Phase endeten auch die Bemühungen, uns von innen heraus zu zerrütten. Das neue Paradigma war die Grundlage für einen enorm wichtigen Vorstoß der Bewegung, und die PKK hat sich in diesem Sinne mit einem Kongress eine neue Form gegeben.

Wegen dieser Entwicklung sah sich auch der Staat gezwungen, die Lage neu zu bewerten. Die AKP war neu an die Macht gekommen. Ihr Einfluss auf die staatliche Bürokratie war noch schwach ausgeprägt. Doch sie verfolgte eine Strategie, mit der sie das kemalistisch-nationalstaatliche und laizistische Regime bezwingen und stattdessen ihr eigenes religiös-nationalistisches nationalstaatliches Regime zu errichten beabsichtigte. Doch gerade zu Beginn ihrer Macht stand die AKP auf wackeligen Beinen. Im Staatsapparat und im Militär wehte ein ernstzunehmender Gegenwind. Auch große Teile der Gesellschaft stellten sich noch gegen die von der AKP vertretene Geisteshaltung. Die AKP ihrerseits hatte sich große Ziele gesteckt. Sie visierte die Veränderung des bestehenden Regimes bis zum Jahr 2023 an. Aus taktischen Gründen sprach sie das damals selbstverständlich nicht offen aus. Doch um die eigene Macht festigen und ihre weiteren Ziele verfolgen zu können, bedurfte sie einer gemäßigten und entspannten Atmosphäre. Bewaffnete Auseinandersetzungen waren hierfür natürlich kontraproduktiv, weswegen sie einen Waffenstillstand benötigte. Deshalb hat sie ihre Rhetorik geändert und einige taktische Schritte eingeleitet. Erdoğan selbst ist nach Amed gereist und erkannte öffentlich an, dass eine kurdische Frage existiere und er sie lösen wolle.

Seine Worte, die kurdische Frage sei auch seine Frage, waren Teil eines taktischen Plans. In der Folgezeit wurde das völlig offensichtlich. Natürlich haben wir uns als Bewegung in jener Zeit auch schon gefragt, ob die AKP sich der Frage ernsthaft annehme oder nicht, ob sie die Frage lösen oder nur instrumentalisieren wolle. Sowohl unser Vorsitzender als auch die Gesellschaft setzten sich mit dieser Frage auseinander. Es handelte sich um eine neue Form der Rhetorik, um eine andere Sprache. Neben Zweifeln und Unsicherheit wurden auch Erwartungen geweckt. Wir als Bewegung versuchten diese Veränderung einzuschätzen und gut zu verstehen. Wir waren uns aber auch stets bewusst, dass dieser Staat seit etwa 90, 95 Jahren auf eine gleichbleibende Politik den Kurden gegenüber gesetzt hat. Aus diesem Grund war uns klar, dass wir diese vermeintliche Veränderung nicht direkt für bare Münze nehmen konnten; aber wir wollten dem Ganzen eine Chance geben. Wenn es also tatsächlich einen ernsthaften Versuch zur Lösung der kurdischen Frage gäbe, wenn ein entsprechender Plan und eine entsprechende Haltung bestünden, dann würde unsere Seite entsprechend darauf reagieren und die Umsetzung erleichtern. Aus dieser Überlegung heraus haben wir am 1. Oktober 2006 einen Waffenstillstand ausgerufen. Das war unsere Antwort. Doch die noch junge Regierung hat unseren Schritt nicht richtig genutzt. Sie hat zu keinem Zeitpunkt ihre Versprechungen in die Tat umgesetzt. Im Gegenteil, wir konnten in ihrer Rhetorik sogar den Rückfall in alte Muster erkennen. An einem Tag wurde noch von der Lösung der kurdischen Frage gesprochen, während am nächsten Tag selbst die bloße Existenz einer solchen Frage verleugnet wurde. Gelegentlich sagte Erdoğan: »Was ist denn die kurdische Frage? Wenn ihr nicht über sie nachdenkt, existiert sie auch nicht.« Äußerungen wie diese machten deutlich, dass die AKP taktisch und berechnend war und Zeit zu gewinnen versuchte.

Die AKP verfolgte eine äußerst pragmatische Politik. Sie missbrauchte die kurdische Frage und instrumentalisierte die Erwartung einer Lösung für ihre eigenen Interessen. Die Bevölkerung sollte Hoffnungen hegen und daraus sollten Wählerstimmen für die AKP hervorgehen. Auch unsere Bewegung wollte sie zu einer ständig abwartenden Haltung bewegen, damit wir im Zustand des Waffenstillstands verharren und unsere Widerstandskraft verlieren. Darüber sollte auch das Widerstandspotential der Bevölkerung gebrochen und die gesamte Bewegung mit der Zeit in die Bedeutungslosigkeit und zur Selbstaufgabe gedrängt werden. Ab Ende 2006 und im gesamten Jahr 2007 verfolgte die AKP ausschließlich eine Hinhaltetaktik, die wir als Teil eines Vernichtungskonzepts begriffen. Es zeigte sich, dass sie letztlich gar kein Interesse an der Lösung der kurdischen Frage hatte. Mit ihrer Rhetorik und dem Gerede von einer Lösung wollte sie ausschließlich Zeit gewinnen, die eigene Organisierung innerhalb des Staates voranzubringen, und die Stimmen der Kurden für die nächsten Wahlen gewinnen.

Ende 2006 erreichten uns allerdings auch schwerwiegende Informationen, wonach unser Vorsitzender auf der Gefängnisinsel Imralı vergiftet worden sei und der Staat ein umfassendes Vernichtungskonzept gegen unsere Bewegung vorbereite. Die Anwälte unseres Vorsitzenden und das CPT [Anti-Folter-Komitee des Europarates; Anm.] haben interveniert. Es zeigte sich, dass es tatsächlich eine Vergiftung gab. Die AKP sprach also einerseits von der Lösung der kurdischen Frage und andererseits setzte sie auf ein Vernichtungskonzept gegen unseren Vorsitzenden in Imralı und unsere gesamte Bewegung.

Wie haben Sie auf diese Situation reagiert?

Gegen die Vernichtungspläne der AKP haben wir unter dem Motto »Êdî Bese« [Es reicht; Anm.] eine neue Widerstandsphase für die Freiheit unseres Vorsitzenden und ein Ende seiner Isolation eingeleitet. Sie fand in der Bevölkerung großen Anklang. Daraufhin hat der Staat sein vorher durchgeplantes Kriegskonzept umgesetzt. Es fanden großflächige Luftangriffe in den Medya-Verteidigungsgebieten statt. 2008 wurde dann die große Militäroperation im Zap-Gebiet gestartet, ein großflächiger Krieg mit der Rückendeckung der NATO und der USA.

Fanden gleichzeitig auch die Gespräche statt?

Ja, parallel zu diesen ganzen Ereignissen wurden die Gespräche in Oslo geführt. Einerseits setzte der Staat mit aller Kraft auf den Krieg, und andererseits versuchte er mit den Gesprächen in Oslo unsere Bewegung hinzuhalten und uns unserer Widerstandskraft zu berauben. In diesem Sinne ging es bei den Oslo-Gesprächen nicht aufrichtig um die demokratische und politische Lösung der kurdischen Frage. Hinter den Gesprächen steckte bei der AKP dieselbe Taktik wie bei Erdoğans Rede 2005 in Amed.

Aber auch internationale Akteure waren in diese Phase involviert. Hatte Ankara eine andere Absicht als die internationalen Vermittler?

Wir glauben schon. Es gibt internationale Akteure, die sich mit ähnlichen Konflikten in anderen Teilen der Welt beschäftigen. Einige von ihnen hatten auch Interesse daran, sich mit der kurdischen Frage in der Türkei näher auseinanderzusetzen. Sie wollten einen Beitrag zur Lösung der kurdischen Frage leisten. Wir denken also nicht, dass sie schlechte Absichten hegten. Es mag sein, dass ihre Vorstellung von einer Lösung eine andere war als unsere. Aber dennoch hatten sie nicht dieselbe Absicht wie die Türkei. Die AKP wollte sie für die eigenen Zwecke instrumentalisieren. Das war das eigentliche Problem.

Alle Gespräche waren also von Seiten der AKP Teil eines wohlüberlegten Szenarios?

Ja, genau das waren sie. Die AKP hatte einen Plan und wollte die internationalen Akteure in ihren Plan integrieren, ohne dass sie es wussten. Ihre Einbindung diente der türkischen Regierung nur dazu, uns und der internationalen Öffentlichkeit den Eindruck zu vermitteln, sie gehe die Gespräche ernsthaft und glaubwürdig an.

Aber Ihre Bewegung hatte im Umgang mit der AKP in den Jahren 2005 bis 2007 Erfahrungen gesammelt. Weshalb nahmen Sie an den Gesprächen in Oslo teil, wenn Sie doch erahnen konnten, dass die AKP kein Interesse an einer Lösung hatte?

Auch in der Zeit vor der AKP waren gelegentlich Gespräche zustande gekommen. Selbst in Europa gab es Treffen, an denen unsere Freunde teilnahmen. Bestimmte Organe innerhalb der Armee, des türkischen Geheimdienstes und des Staates suchten immer wieder den Dialog und wir nahmen die Gespräche mit ihnen auf. Das gilt auch für die Zeit, in der unser Vorsitzender noch in Freiheit war. Es wurde also immer wieder aus dem Staat heraus Interesse an einer politischen und demokratischen Lösung der kurdischen Frage auf Basis von Gesprächen und Verhandlungen signalisiert. Natürlich ist es schwer zu sagen, ob und welche dieser Anfragen ernst gemeint und welche taktischer Natur waren. Doch wir wissen, dass diese Tendenz innerhalb des Staates stets äußerst schwach ausgeprägt war.

Unser Vorsitzender maß sowohl vor als auch nach seiner Gefangennahme diesen Gesprächsinitiativen von Seiten des Staates Bedeutung zu und versuchte sie wahrzunehmen. Das war stets seine Herangehensweise und die unserer Bewegung, und mit dem Paradigmenwechsel haben wir ein noch stärkeres Gewicht auf den politischen Weg bei der Lösung der kurdischen Frage gelegt.

Es ist bekannt, dass unser Vorsitzender im Jahr 1993 auch auf die geringsten Hinweise auf einen politischen Lösungswillen des türkischen Staates positiv reagiert hat. Damals hatte Turgut Özal verschiedene Andeutungen gemacht, die auf eben diesen Lösungswillen in der kurdischen Frage hindeuteten. Auch die Möglichkeit einer Debatte über ein föderatives Modell kam zur Sprache. Unser Vorsitzender maß dem großen Wert bei. Nachdem auf höchster Ebene des Staates, aber auch innerhalb des Militärs und des Geheimdienstes Stellungnahmen im Sinne einer Lösung geäußert worden waren, reagierte unsere Bewegung 1993 mit dem Ausrufen eines Waffenstillstands.

In unserer Bewegung herrschte von jeher die Überzeugung vor, dass die kurdische Frage nicht allein mit militärischen Mitteln zu lösen sei. Der bewaffnete Kampf wurde nie als einzige Option begriffen. Die Waffe ist ein Mittel und sie wurde von uns als Mittel zum Widerstand betrachtet, um eine demokratische Lösung zu ermöglichen. Wenn die kurdische Frage durch Verhandlungen und politische Mittel gelöst worden wäre, wäre der bewaffnete Kampf ohnehin unnötig gewesen. Er ist allein deshalb zur Notwendigkeit geworden, weil die kurdische Frage verleugnet und die kurdische Bevölkerung der Vernichtung ausgesetzt wurde. Es ging also nicht darum, dass wir ihn aus irgendwelchen Gründen favorisiert oder uns sehr gern für ihn entschieden hätten. Er entstand aus einer Notwendigkeit heraus. Die PKK ist eine Bewegung, die als Konsequenz von Verleugnung und Vernichtung entstand. Der bewaffnete Kampf ist ebenfalls ein Ergebnis dessen.

In diesem Sinne hat unsere Bewegung stets die politische Lösung der kurdischen Frage zu ihrer Priorität erklärt. Stets wenn unsere Bewegung eine Regung im Sinne der Lösung erkennen konnte, hat sie versucht, ihrer Verantwortung gerecht zu werden und eine Basis für die politische Lösung zu schaffen. So war es auch mit der AKP. In jener Phase wurde das erwähnte Vernichtungskonzept gegen unsere Bewegung eingeleitet – wir hatten es also mit einer Fortsetzung des internationalen Komplotts zu tun. Als dann die AKP an die Macht kam und Erdoğan erklärte, die kurdische Frage lösen zu wollen, wollten wir ihm eine Chance geben und schauen, ob er hinter seinen Worten steht. Aus diesem Grund riefen wir einen Waffenstillstand aus. Doch später zeigte sich, dass die AKP mit Rückendeckung der USA und anderer internationaler Mächte einen vollständigen Krieg gegen uns führen wollte. Sowohl unser Vorsitzender als auch unsere Bewegung sahen ein, dass die AKP keine andere Absicht hatte, als das Vernichtungskonzept gegen uns fortzuführen.

Dennoch wurden die Gespräche fortgesetzt. Wir wollten unser ernsthaftes Interesse an einer politischen Lösung der Frage zeigen. Das bedeutet natürlich nicht, dass wir keine Zweifel und kein Misstrauen gegenüber der Aufrichtigkeit der AKP hatten. Doch wir wollten letztlich auch keine Chance ungenutzt lassen und gaben deshalb unser Einverständnis, die Gespräche zu führen, und ließen unseren Vorsitzenden über diese Entscheidung informieren. Unsere Briefe erreichten ihn durch den türkischen Geheimdienst MIT. Der MIT fungierte in dieser Zeit also faktisch als Bote zwischen der Bewegung und Imralı. In den Briefwechseln wurde schnell deutlich, dass sowohl unser Vorsitzender als auch wir in den Handlungen der AKP eine Hinhaltetaktik erkannten. Wir wollten dennoch die Phase aufrechterhalten, um die wahren Absichten der AKP zu erfahren.

Durch die internationale Beteiligung an den Gesprächen bekam die kurdische Frage über die regionale hinaus nunmehr auch eine globale Dimension. Wir überlegten uns, dass der internationale Druck die AKP vielleicht trotz ihrer anderweitigen Intentionen dazu drängen könnte, sich auf eine Lösung einzulassen. Auch aus diesem Grund wollten wir dem Ganzen eine Chance geben. Ansonsten war uns aufgrund der Annäherung der türkischen Abordnung schnell klar, dass mit dieser Haltung von Seiten der AKP kaum eine Lösung zu erzielen war.

Glauben Sie vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen überhaupt noch daran, dass in der kurdischen Frage mittels Verhandlungen eine Lösung erzielt werden kann?

Ohne einen tiefgreifenden Wandel in der Mentalität dieses Staates wird es weder mit demokratischen Verhandlungen noch mit einer anderen politischen Methode eine Lösung der kurdischen Frage geben. Das ist uns sehr klar geworden. Dass über lange Zeiträume hinweg Gespräche geführt wurden, ohne dass sie in irgendwelche Verhandlungen mündeten, zeigt uns, dass der türkische Staat sich in jeglicher Hinsicht einer Lösung verweigert. Das gilt sowohl für die Oslo-Phase als auch für die regelmäßigen Gespräche zwischen 2013 und 2015 auf Imralı, bei denen die HDP involviert war. Auch damals wurde über einen langen Zeitraum hinweg ein Dialog zwischen unserem Vorsitzenden und dem Staat geführt. Doch es kam nie zu irgendeiner Form von Verhandlungen.

Aber diese Phase wurde doch als »Verhandlungs- und Lösungsprozess« bezeichnet …

Dass es zu keiner Lösung kam, liegt an der Geisteshaltung des Staates. Es kam seinerseits zu keinem grundlegenden Mentalitätswandel, die Verleugnungsmentalität wurde beibehalten. Dasselbe gilt für das nationalstaatliche Denken, also den Glauben an »ein Volk, eine Fahne, eine Sprache«. Diese Geisteshaltung ist monistisch, nationalistisch, sektiererisch, rassistisch und sexistisch. Dass mit einem solchen Verständnis ein tiefgreifender Konflikt wie die kurdische Frage keineswegs gelöst werden kann, ist offensichtlich. Für die Lösung der kurdischen Frage bedarf es zunächst einmal einer demokratischen Gesinnung. Solange diese nicht entwickelt wird, ist jeder Versuch, die kurdische Frage zu lösen, von vornherein zum Scheitern verurteilt.

Mit der Beibehaltung der rassistischen Haltung unterscheidet sich die AKP nicht von den vorherigen Regierungen der Türkei. Im Gegenteil, sie ist der pure Ausdruck der Mentalität des türkischen Nationalstaates. In der Geschichte der türkischen Republik hat es gar kaum eine Epoche gegeben, in welcher der Nationalismus und der Rassismus so sehr auf die Spitze getrieben worden sind, wie unter der AKP. Die Praxis dieser Regierung ist der Beweis dafür. Es wäre falsch, ihre Praxis in Kurdistan mit den 1980er und 1990er Jahren zu vergleichen. Die Art, wie die AKP in Kurdistan vorgeht, gleicht vielmehr der Zeit zwischen 1925 und 1938. Wir haben es mit einer genozidalen Epoche zu tun. Kann es mit einer Regierung, die dafür verantwortlich ist, Gespräche geben, etwa über die demokratische Lösung der kurdischen Frage? Das ist schlichtweg unmöglich.

Eigentlich ist die gesamte Weltöffentlichkeit Zeuge geworden, dass die AKP all diese Phasen des Dialogs ausschließlich als taktisches Mittel dafür missbraucht hat, den Staat unter ihre Kontrolle zu bringen, ihr eigenes Personal an den Schlüsselstellen des Staates zu platzieren und das Regime in ihrem Sinne umzugestalten.

Wir haben den Dialog nie als eine Verhandlungsphase verstanden. Denn der Zeitpunkt von Verhandlungen wurde nie erreicht. Unser Vorsitzender hat zwar große Mühen aufgebracht, um den Schritt zu den Verhandlungen zu ermöglichen. Aber die AKP hat nie von der Verleugnung der Kurden abgelassen und die Gespräche als Mittel genutzt, um uns hinzuhalten und für sich selbst Zeit zu gewinnen.

Das Verfahren wegen des Massakers von Paris am 9. Januar 2013 wurde eingestellt. Sie hatten erklärt, Ihre drei Genossinnen seien durch die Hand des türkischen Staates ermordet worden. Ist das weiterhin Ihre Meinung? Warum soll der Staat einerseits Gespräche mit Ihnen führen und andererseits ein solches Massaker verüben?

Am Massaker von Paris war der türkische Geheimdienst MIT beteiligt. Die Gespräche in Oslo führte auch der MIT. Während sie mit uns in Oslo den Dialog führten, planten sie zeitgleich die Eliminierung der Führungskräfte unserer Bewegung. Diese Pläne wurden in Paris umgesetzt. Bei der Ermordung unserer Genossinnen agierten sie zudem zusammen mit der Organisation von Fethullah Gülen. Natürlich gab es da noch die internationale Dimension. Der französische Geheimdienst war ebenfalls involviert. In erster Linie war es aber eine Kooperation zwischen Staat und Gülen-Orden. In jener Zeit spekulierten sie, dass mit der Eliminierung von 20 bis 30 Führungskräften der PKK unsere Organisation in sich zusammenfallen würde. Um diese Pläne umzusetzen, schmiedeten sie innerhalb des Staates Bündnisse. Die AKP und der Gülen-Orden hatten ohnehin Pläne, den Staatsapparat vollständig unter Kontrolle zu bringen. Sie lenkten den Staat in jener Zeit bereits weitgehend und waren gemeinsam an der Macht. Und so haben sie das Massaker von Paris auch gemeinsam geplant und umgesetzt.

Warum waren solche Massaker nicht schon zuvor verübt worden? Warum erst mit dem Beginn der Imralı-Gespräche?

Ziel des Massakers war es, die Entschlossenheit unserer Bewegung zu brechen. Sie erhofften sich dadurch, uns ihren Willen aufdrücken zu können. Das war ihr Kalkül.

Haben Sie noch Kontakt zu den internationalen Vermittlern?

Ja, die Bemühungen der Mittler halten an, das schätzen wir sehr. Doch die Haltung der AKP und des türkischen Staates ist offenkundig, und unter den gegebenen Umständen können diese Bemühungen zu keinem Ziel führen. Wenn also etwas von der internationalen Ebene aus erreicht werden soll, muss sich zunächst einmal die Politik der EU und der europäischen Staaten gegenüber der Türkei ändern. Wenn Europa gegenüber der Türkei keine klare Haltung einnimmt, werden auch die Bemühungen dieser Organisationen zu keinem Ergebnis führen.

Eine wichtige Grundlage dafür, dass die Türkei an ihrer Verleugnungs- und Vernichtungslogik bis heute festhalten kann, ist auch der Umstand, dass die internationalen Mächte, allen voran die europäischen Staaten, stets Ankara unterstützt haben und dies weiterhin tun. Diese Unterstützung kommt einer Zustimmung zur türkischen Politik gleich. Denn die Türkei findet darin Rückhalt und schöpft daraus Kraft, dass Europa die Vernichtungspolitik des Staates gegenüber den Kurden stets als »Kampf gegen den Terror« aufgreift und der Türkei aufgrund der NATO-Partnerschaft jede Art von ökonomischer, geheimdienstlicher und technischer Unterstützung bietet. Nur durch diese Hilfe gelingt es der Türkei überhaupt, ihren Krieg gegen die Kurden weiterzuführen und zu vertiefen. Es bringt auch absolut nichts, wenn die europäischen Länder bloß wohlwollend auf die Türkei einreden, um die Partner in Ankara nicht zu sehr zu brüskieren. Dadurch wird die Türkei nichts an ihrem Kriegskurs ändern. Dessen sollte sich Europa bewusst sein.

Wie kann die Mentalität des Staates dann verändert werden? Das hängt in erster Linie von der Stärke des gesellschaftlichen Widerstandes ab. Das ist unsere Aufgabe. Doch die Aufgabe der internationalen Organisationen, die sich für den Frieden einsetzen wollen, ist es, die europäischen Staaten dazu zu bewegen, ihre Haltung zur Türkei zu ändern. Das wäre wichtig. Denn wenn Europa der Türkei keine Waffen zur Verfügung stellen würde, wenn es die wirtschaftliche, geheimdienstliche und technische Unterstützung für die Türkei aus Europa nicht gäbe, wenn die PKK von der EU-Terrorliste gestrichen werden würde, wenn also Europa mit klarer Haltung die Türkei zu einer demokratischen Lösung der kurdischen Frage auffordern würde, ja dann wäre die Türkei gezwungen, von ihrem Kriegskurs abzulassen. Dann würde sich eine Lösung entwickeln und dann müsste sich die Mentalität des türkischen Staates wandeln.

Haben Sie diese Ausführungen auch den entsprechenden Partnern mitgeteilt?

Selbstverständlich. Wir diskutieren mit ihnen über diese Punkte. Wir zeigen auf, wie die demokratische Lösung der Frage aussehen kann. Einen anderen Weg gibt es nicht. Ohne dass die Türkei ihre Haltung ändert und solange sie hierfür auch noch die Unterstützung aus dem Ausland erhält, wird es keine Schritte in Richtung einer Lösung geben. Jegliche Mühe wäre dann umsonst.