„Erdogan könnte gemeinsam mit Abdullah Öcalan den Friedensnobelpreis bekommen …“

Essa MoosaUlf Petersen führte das Interview mit Essa Moosa

(…) Abdullah Öcalan genießt unter den ehemals Unterdrückten in Südafrika viel Sympathie und Unterstützung, da ihre Anführer gleiche Erfahrungen gemacht haben. Sie haben sich mit dem Kampf des kurdischen Volkes identifiziert. Wir haben eine Organisation von Veteranen des Kampfes gegen die Apartheid. Sie haben Verbindungen zu einer kurdischen Veteranenorganisation aufgebaut und Abdullah Öcalan einen Friedenspreis für seine Rolle als Initiator eines friedlichen Dialogs mit der Erdogan-Regierung verliehen. Sie suchen noch nach einem Weg, ihm diesen Preis zukommen zu lassen. (…)

Essa Moosa war einer der Anwälte Nelson Mandelas. Er ist 1936 in Kapstadt geboren, arbeitete über 40 Jahre lang als Anwalt und war auch Aktivist gegen das Apartheid-Regime. Er verteidigte politisch Angeklagte und kümmerte sich um ihre Haftbedingungen. Auf diesem Weg lernte er Nelson Mandela kennen, der seit 1962 gefangen war. Anfang der 1990er Jahre, während der Verhandlungen über den Übergang von der Apart­heid zur Demokratie, war er Sekretär des Verfassungskomitees des Afrikanischen Nationalkongresses (ANC), das an der Erarbeitung und Einführung einer neuen demokratischen Verfassung für das neue Südafrika beteiligt war. Nach der Wahl des ANC an die Regierung 1994 wurde er zum Politikberater im Justizministerium ernannt, um das Justizsystem nach den Werten und Prinzipien der neuen Verfassung zu reformieren.
1997 beteiligte sich Essa Moosa an der Gründung der südafrikanischen Kurdish Human Rights Action Group (KHRAG, http://www.khrag.org) und nahm 2005, 2009 und 2011 an internationalen Anwaltsdelegationen nach Nordkurdistan teil. Von 1998 bis 2011 war er Richter am Obersten Gericht Südafrikas. Er lebt heute in Kapstadt.
Wir trafen Essa Moosa im September in Köln, er war dort bei einer Veranstaltung des Verbands der Studierenden aus Kurdistan (YXK) zu Gast. Er leitete das Interview ein mit einer Darstellung des Friedensprozesses, der mit den inoffiziellen Gesprächen zwischen Nelson Mandela und der regierenden Nationalen Partei 1985 begonnen hatte.

Essa Moosa: Es gab zwei Wege der Kontaktaufnahme: mit Mandela im Gefängnis und mit dem ANC außerhalb. Sie liefen zusammen, als P. W. Botha [Regierungschef bis 1989, wurde dann von De Klerk abgelöst] sich weigerte, mit dem ANC zu verhandeln, wenn dieser nicht der Gewalt abschwören würde. Mandela sagte: „Seht, wir haben nicht mit der Gewalt angefangen, Ihr, das Apartheid-Regime, habt mit der Gewalt begonnen. Wir waren gezwungen, uns zu verteidigen, und wir können die Gewalt nicht aufgeben, wenn Ihr die Gewalt nicht aufgebt.“

Der damalige US-Präsident Ronald Reagan und die britische Premierministerin Margaret Thatcher übten Druck auf Botha aus, aber er weigerte sich, mit Nelson Mandela im Gefängnis und dem verbotenen ANC zu sprechen. 1985 wurde erwartet, dass Botha auf dem Jahreskongress der Nationalen Partei, die er damals anführte, eine wichtige Erklärung abgeben würde. Sowohl die internationale als auch die südafrikanische Öffentlichkeit erwarteten, dass er „den Rubikon überschreiten“1 und Verhandlungen mit Nelson Mandela und dem ANC beginnen würde.

Bothas Haltung war einfach, dass er bereit wäre zu verhandeln, wenn sie bereit wären, auf Gewalt zu verzichten, und er sagte auch, dass er nicht mit „Terroristen“ und einer „terroristischen Organisation“ verhandeln würde. Das weiße südafrikanische Establishment, das die Nationale Partei kontrollierte, war mit dieser Reaktion nicht glücklich. Es spürte, dass angesichts des internationalen Drucks die Zeit für Veränderung gekommen war. Sie sahen keine Aussicht mehr für eine erfolgreiche Fortsetzung der Apartheid. Und irgendwie ging Botha seinen Weg und überschritt nicht den Rubikon.

Die Leute im Land und weltweit waren sehr enttäuscht, besonders die Geschäftsleute. Die internationalen Sanktionen und der Widerstand im Land wurden verstärkt. Im September 1989 wurde Botha als Führer der Nationalen Partei ersetzt und De Klerk Präsident Südafrikas. Im Februar 1990 kündigte De Klerk an, dass er mit Nelson Mandela und dem ANC verhandeln und alle verbotenen Organisationen legalisieren würde. Er war bereit, alle laufenden Anklagen gegen politische Aktivisten im Land zurückzuziehen. Er war bereit, alle politischen Gefangenen freizulassen, einschließlich Nelson Mandelas. Und er war bereit, die Exilierten zurück ins Land zu lassen und ihnen eine Art vorläufiger Immunität zu gewähren, damit die Verhandlungen weitergehen könnten.

So schuf De Klerk das nötige Klima für Verhandlungen, er „überschritt den Rubikon“ und bekam später den Friedensnobelpreis gemeinsam mit Nelson Mandela. Und ich glaube, dass P. W. Botha es bereut hat – das ist meine persönliche Sicht, nachdem ich mit ihm später gesprochen habe –, diesen Schritt nicht getan zu haben. Er hat das nie öffentlich gesagt, aber im privaten Gespräch bekam ich den Eindruck, dass er es bereute. Ich bin sicher, dass er zusammen mit Mandela den Nobelpreis anstelle von Botha bekommen hätte, wenn er es getan hätte.

Jetzt eröffnet sich die gleiche Gelegenheit für Erdogan. Wenn er diese Gelegenheit nutzt und mit Abdullah Öcalan verhandelt, könnten sie vielleicht den Friedensnobelpreis bekommen. In diesem Fall würden wir in Südafrika sie dafür nominieren. Aber ob Erdogan ein De Klerk oder ein Botha sein wird, bleibt abzuwarten.

Vertrauliche Gespräche als Anfang

Eine schwierige Phase eines solchen Friedensprozesses ist es, wenn die Verhandlungen noch geheim und nicht öffentlich sind. Die Gespräche brauchen anfangs Diskretion. Wie wurde damit umgegangen?

Als die Gespräche begannen, zunächst mit Nelson Mandela im Gefängnis, wurde das völlig geheim gehalten. Beide Seiten haben nur vorgefühlt, um das Vertrauen aufzubauen, denn sie waren ja Feinde. Weiterhin gab es außerhalb des Landes private Gespräche mit Geschäftsleuten, politischen und religiösen Führern und einflussreichen Akademikern, nachdem die Gespräche mit Mandela begonnen hatten. Damals gab es im Land nicht wirklich ein Klima dafür, diese Gespräche öffentlich zu machen, denn:

Erstens hätten die Unterdrückten gesagt: „Wie könnt Ihr mit dem Feind sprechen? Wir bekämpfen ihn und wollen ihn zerstören. Ihr habt kein Recht, in unserem Namen zu sprechen.“ Zweitens hätten die Weißen gesagt: „Schaut, Ihr sprecht mit den Terroristen und ihr habt kein Recht dazu.“ Also mussten beide Seiten vorsichtig ihre Basis auf die schließlich stattfindenden Gespräche vorbereiten. Und das passierte schrittweise. Anfangs hatten der ANC und seine Unterstützer im Land und außerhalb Probleme damit, dass Mandela mit dem Apartheid-Regime verhandelt. Sie hatten Angst, dass er ihre Position gefährden würde. Also hat er ihnen versichert, dass sie sich keine Sorge machen müssten, dass er dies nicht tun würde. Aber die Leute hatten ihre Vorbehalte, sie sagten, er sei im Gefängnis, und er verhandle aus einer Position der Schwäche.

Währenddessen gab es auch die Gespräche außerhalb des Gefängnisses. Der Kontakt zwischen Mandela und dem ANC lief hauptsächlich über Winnie Mandela und die Anwälte, die ihn immer wieder besuchten. Auch gab es einige internationale Politiker, die öfters kamen und ihn im Gefängnis besuchten. Und sie berichteten, was er sagte. Das lief alles vertraulich und geheim ab und entwickelte sich zu einem breiteren Netzwerk.

Aber als nach der Aufhebung der Organisations-Verbote 1990 die wirklichen Verhandlungen begannen, war dieser Prozess sehr transparent. Die Presse durfte an diesen Gesprächen teilnehmen. Nur bestimmte vertrauliche Fragen wurden vielleicht geheim verhandelt. Aber die wesentlichen Gespräche waren sehr offen und transparent. Ich glaube, das hat es sehr erleichtert, die Mentalität der Leute in Richtung auf eine Akzeptanz dieser Gespräche zu verändern.

Der ANC führte einen bewaffneten Kampf. War dies der kritischste Punkt für die Regierung?

Ja. Anfangs war P. W. Botha nicht bereit, mit dem ANC zu verhandeln. De Klerk hatte dann den Mut, die Aufhebung des ANC-Verbots zu verkünden. Und danach begannen sie zu verhandeln, was mit dem bewaffneten Arm, der Guerilla, passieren würde, wie sie in die nationale Armee integriert werden könnte und was mit den Waffen gemacht würde. Aber das geschah viel später im Verhandlungsprozess. Worauf sie sich im Prinzip geeinigt haben: dass die Gewalt von beiden Seiten aufhört; dass Verhandlungen stattfinden; dass die Guerilla-Bewegung in die Verteidigungskräfte aufgenommen wird, sobald eine neue Verfassung angenommen ist; dass sie die Waffen abgeben und eine neue demokratische Regierung sie übernehmen wird.

Nach 1994 wurden dann viele Guerilla-Kämpfer in die nationale Armee aufgenommen. Nicht alle, aber die Mehrheit der Leute. Viele, die nicht in die Armee aufgenommen werden konnten, kamen zur Polizei und einige auch zum Geheimdienst.

Was würden Sie also zu den Leuten in der Türkei sagen, die von der PKK fordern, dass sie bedingungslos die Waffen niederlegt, als Vorbereitung für einen Friedensprozess?

Nein, diese Frage sollte Teil der Verhandlungen sein. Man kann von ihnen nicht erwarten, dass sie die Waffen niederlegen, ohne zu wissen, was mit der anderen Seite passiert. Nach den Bestimmungen des internationalen Rechts haben sie das Recht auf Selbstbestimmung und auf Selbstverteidigung. Ja, der bewaffnete Konflikt sollte von beiden Seiten nicht weitergeführt werden. Es muss aber die Bereitschaft beider Seiten geben. Sie müssen Verhandlungen beginnen, um zunächst das Klima zu schaffen. Zweitens ist die Erarbeitung einer neuen Verfassung nötig, die die Rechte des kurdischen Volkes als solches ga­rantiert. Und dann kann es auch ein Aufgehen der PKK in der Armee einer neuen demokratischen Türkei geben. Das ist alles Inhalt des Verhandlungsprozesses.

Wir in Südafrika haben all dies sehr erfolgreich zwischen den beiden Feinden ausgehandelt. Obwohl das Apartheid-Regime das Niederlegen der Waffen als Vorbedingung verlangen wollte, war der ANC dazu nicht bereit. Sie befürchteten, was passieren würde, wenn sie ihre Waffen niederlegten und das Apartheid-Regime dann nicht mit guten Absichten verhandeln würde. Das wurde international akzeptiert.

Wahrheits- und Versöhnungskommission 1996–1998

In der Zeit der Übergangsverfassung nach 1990 gab es ein Amnestiegesetz. Zwischen 1996 und 1998 wurde es mit der Wahrheits- und Versöhnungskommission (engl. Truth and Reconciliation Commission (TRC)) umgesetzt. So blieben viele Leute, die Verbrechen begangen hatten, frei von Strafverfolgung. Wie beurteilen Sie die Reaktion der schwarzen Bevölkerungsmehrheit angesichts der ehemaligen Täter in Freiheit?

Während des Verhandlungsprozesses befürchteten beide Parteien, bestimmte illegale Taten begangen zu haben, zum Beispiel haben sie vielleicht unschuldige Zivilisten getötet, keine Kämpfer. Es bestand die Möglichkeit, strafrechtlich verfolgt zu werden. Es gibt weltweit verschiedene Optionen, wie man die Frage der Versöhnung behandelt. Die Konfliktparteien hätten entscheiden können, beiden Seiten eine pauschale Amnestie zuzugestehen, also unabhängig davon, was passiert war, jedem Straffreiheit zu gewähren.

Aber dann müssen auch die Opfer und ihre Familien berück­sichtigt werden. Viele Opfer sind einfach verschwunden. Ihre Leichen wurden entweder ins Meer geworfen oder in Massengräbern begraben. Und viele der Mütter und der Familien wollten wissen, was mit ihren Lieben passiert ist. Das herauszufinden war möglich, indem die Verantwortlichen sagten: „Schaut, das haben wir getan, wir haben sie ins Meer geworfen“, oder „Wir haben sie dort vergraben“. Wenn die Familie zumindest dieses erfährt, kann sie die Gebeine nehmen und sie anständig nach den Gebräuchen der Leute begraben. In Afrika besonders gibt es eine komplette Begräbnisprozedur, wenn jemand stirbt. Für die Menschen existieren die Toten fort, sie können mit ihnen kommunizieren.

Im südafrikanischen Beispiel kamen die Konfliktparteien zu der Meinung, dass es eine Wahrheits- und Versöhnungskommission (TRC) geben soll. Ziel war, dass die Wahrheit ans Licht kommt und die Parteien versöhnt werden. Zunächst würden die Täter zugeben, was sie getan haben und dass es falsch war. Die Familie des Opfers würde genau erfahren, was passiert war. Sie würden sich dann vergeben, es gäbe eine Versöhnung, Ubuntu2.

Das war das Ziel. Ob es erreicht wurde, ist eine andere Frage. Viele, die ziemlich furchtbare Verbrechen begangen hatten, sind nicht vor die TRC gekommen. Also haben die Familien ihrer Opfer nichts erfahren. Sie könnten zwar strafrechtlich verfolgt werden. Aber das Problem war, dass diese Verbrechen während der Apartheid verübt worden waren. Und kurz bevor die Demokratie kam, wurden die Beweise vernichtet. Um jetzt nach 20, 30 oder 40 Jahren die Strafverfolgung durchführen zu können, bräuchte man diese Beweise. Also blieb es eine unmögliche Aufgabe, sie ohne brauchbare Beweise zu belangen.

Die Leute, die vor die TRC gingen, bekamen eine Amnes­tie. Aber zumindest erfuhren die Opfer, was ihren Lieben passiert war. Viele Tote wurden aufgefunden und entsprechend den Gebräuchen begraben. Dann gab es noch die dritte Gruppe, die vor der TRC nur die halbe Wahrheit gesagt haben. Viele von diesen bekamen keine Amnestie. Sie konnten strafrechtlich verfolgt werden, aber es stellte sich wieder die Frage, ob es genug Beweise gab.

Aus dem Wahrheitsfindungs- und Versöhnungsprozess ergab sich die Empfehlung, dass die Opfer entschädigt werden sollten. Das Problem waren die Ressourcen. Es wurden verschiedene Vorschläge gemacht. Einer war, dass es eine einmalige Steuer für alle geben sollte, die von der Apartheid profitiert hatten. Sie sollten 5 oder 10 Prozent ihres Reichtums abgeben. Aber es gab Opposition von den Weißen und dem Big Business.

Wenn Sie mich also fragen, ob die TRC erfolgreich war, muss ich sagen, dass sie in einem begrenzten Ausmaß den Menschen ermöglichte herauszufinden, was mit ihren Lieben passiert war. Aber insgesamt würde ich sagen, dass sie die angestrebte Aufgabe nicht erfüllt hat. Wenn mehr Leute vor die Wahrheitskommission gekommen wären, hätte es eine größere Versöhnung zwischen den Unterdrückten und den Unterdrückern gegeben.

Beispielsweise war das Big Business nicht bereit zu kommen und zu sagen: „Wir hatten Unrecht, wir haben von der Apart­heid profitiert und wir wollen Wiedergutmachung leisten.“ Und die Nationale Partei kam nicht, um zu sagen: „Wir haben Verbrechen begangen und von der Apartheid profitiert, es tut uns leid.“ Alles, was sie sagten, war: „Nein, wir haben das System vorgefunden und es akzeptiert, wie es war.“ Heute kann man niemanden im Land finden, der die Apartheid unterstützt hat.

Deshalb ist das System der TRC nicht perfekt. Aber was wäre die Alternative? Die andere Option ist, jedem eine Amnestie zu geben und sie kommen mit den Morden davon.

Sie müssen sich auch darüber klar sein, dass viele Leute nicht bereit sind, den Friedensprozess zu akzeptieren. Sie haben Angst, strafrechtlich verfolgt zu werden. Nehmen Sie die türkische Armee, die alle diese Grausamkeiten begangen hat, sie könnten versuchen, einen Friedensprozess zu sabotieren. Einfach weil sie für die Verbrechen verantwortlich gemacht werden könnten, die in der Zeit ihrer Kontrolle über das Land begangen wurden. Das ist in unserem Fall passiert. Das Militär, das für furchtbare Verbrechen während der Apartheid verantwortlich war, versuchte die Gespräche zu sabotieren.

Es gibt auch große soziale Probleme. Das ist die Konsequenz der Kompromisse, die während des Verhandlungsprozesses gemacht werden mussten. Es gibt immer noch die Ungleichheit zwischen den Armen und den Reichen. Ich erinnere mich, dass wir zu Apartheidzeiten in den besten Teilen des Landes kein Land und Eigentum kaufen konnten. Jetzt versuchen sie, es teuer zu verkaufen, aber die meisten Menschen sind arm und können es sich nicht leisten. Das meiste Land, fast 80 Prozent, ist immer noch in den Händen der Weißen. Und die meisten der Unterdrückten leben heute, nach 17 Jahren Demokratie, immer noch in erbärmlicher Armut. Das sind die Widersprüche: Man kann wählen, wer sein Vertreter im Parlament ist, aber man lebt immer noch in einer Hütte. Die Leute hatten erwartet, dass sie von der Demokratie wirtschaftlich profitieren würden. Das ist ein Mythos, weil der Reichtum in den Händen der ehemaligen Unterdrücker geblieben ist.

Die Wahrheits- und Versöhnungskommission wird von der kurdischen Befreiungsbewegung und Abdullah Öcalan als eine Art Modell betrachtet. Aber vielleicht wäre es für die Kurden äußerst schwer, eine Amnestie für die Mörder ihrer Angehörigen zu akzeptieren. Außerdem wurden in Südafrika die Taten des Regimes und der Befreiungsbewegung gleich behandelt. Das wäre für Kurden jetzt ebenso nicht einfach hinnehmbar.

Das muss Teil der Verhandlungen und ihrer Ergebnisse sein. Die türkische Bevölkerung wurde auch mental konditioniert, dass die Kurden „Terroristen“ seien, dass die Kurden ihre Soldaten getötet hätten. Genauso fühlen die kurdischen Mütter auf der anderen Seite „nein, sie nahmen die Kinder aus unseren Häusern und ermordeten sie“. So gibt es beide zugespitzte Sichtweisen und man muss versuchen, sie mit dem Ziel der Versöhnung zusammenzubringen. Und man muss bestimmte Kompromisse eingehen.

Welches das beste Modell für die kurdische und die türkische Bevölkerung ist, hat sie zu entscheiden. Ich denke nicht, dass man ihr ein bestimmtes vorschreiben kann. Es gibt in der Welt verschiedene Optionen und ich kann Ihnen sagen, dass es kein perfektes System gibt. Kein Land, kein Volk hat jemals ein System gefunden, das für seine Situation perfekt war. Es gab immer viel Unzufriedenheit.

Manchmal muss man bestimmte Dinge akzeptieren, ohne den gesamten Prozess zu sabotieren. Wenn man sagt „ja, wir brauchen eine Wahrheitskommission, aber die muss untersuchen, wie die Armee die unschuldigen Menschen umgebracht hat“, wird diese das nicht akzeptieren. Noch wird das kurdische Volk akzeptieren, dass nur sie untersucht werden, weil sie eine legale Regierung bekämpft und kein Recht gehabt hätten, zu den Waffen zu greifen. Also braucht man einen Kompromiss; aber welcher Kompromiss, das ist eine Frage, die von der türkischen und der kurdischen Bevölkerung verhandelt werden muss. Am Ende entscheiden sie vielleicht, dass es ein so großes Problem ist und sie sich auf kein Modell einigen können, dass eine Amnestie für beide Seiten am besten wäre, um eine Versöhnung zu erreichen.

Kurdistan-Solidarität in Südafrika

1997 wurde die Kurdish Human Rights Action Group (KHRAG) in Südafrika gegründet. Wie ist diese entstanden und wie hat sie sich entwickelt?

Zwischen 1995 und 1997 besuchten uns führende Mitglieder des kurdischen Exils in Südafrika. Damals war die PKK verboten und Abdullah Öcalan befand sich außerhalb der Türkei, erst im Libanon und später in Syrien. Ziel der KHRAG war erstens, die Menschenrechtsverletzungen gegen das kurdische Volk in der Türkei zu beobachten, und zweitens, sich für das Konzept der Selbstbestimmung des kurdischen Volkes einzusetzen – das Recht, grundlegende Menschenrechte zu genießen, das Recht, die eigene Sprache zu sprechen, das Recht, in der Muttersprache unterrichtet zu werden und die eigene Kultur zu praktizieren.

Wir hatten auch Diskussionen bezüglich politischen Asyls für Abdullah Öcalan in Südafrika. Wir sorgten uns um seine Sicherheit während der Reise nach Südafrika und wir wollten sicherstellen, dass er hier politisches Asyl bekommt. Wir haben mit bestimmten Beamten in der südafrikanischen Regierung gesprochen, um diesen Prozess zu eröffnen. Aber dies geschah sehr, sehr geheim. Wir wollten, dass weder die türkische Regierung noch internationale Geheimdienste etwas davon mitbekommen. Wir glaubten, dass sonst Druck auf Südafrika ausgeübt werden könnte, ihm kein politisches Asyl zu gewähren. Die KHRAG hat sich also auf den Empfang Abdullah Öcalans für das politische Asyl in Südafrika vorbereitet. Leider wurde er dann in Kenia gefangen genommen, ihm wurden die Augen verbunden und ihm wurde vor einem halb-militärischen Gericht der Prozess gemacht.

Wir haben dann die Kampagne für seine Freilassung begonnen. Aus unserer Sicht war der Prozess von Anfang an illegal. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hatte 2005 entschieden, dass das Gerichtsverfahren in der Türkei zulässig war, obwohl Abdullah Öcalan illegal entführt und gewaltsam in die Türkei gebracht worden war. Wir sagen, dass dieses Urteil des EGMR nach internationalem Recht juristisch keinen Bestand hat.

Wir hatten in Südafrika einen ähnlichen Fall, als 1986 Ebrahim Ebrahim – heute unser stellvertretender Außenminister – aus Swaziland nach Südafrika entführt und vor Gericht gestellt wurde. In Swaziland hatte er als Organisator für den ANC gearbeitet. Er wurde von einem unteren südafrikanischen Gericht verurteilt. Die Angelegenheit kam 1991 in die Berufung vor ein höheres Gericht. Dieses entschied, dass es illegal gewesen war, ihn zu entführen und zu bestrafen.

Ich war 2005 in Straßburg dabei, als Abdullah Öcalans Gerichtsverfahren verhandelt wurde. Der EGMR hat diesen Punkt ignoriert. Sie sind der Frage ausgewichen, ob der Prozess legal war oder nicht. Ich sage: Wenn der Ablauf nach internationalem Recht illegal war, ist alles illegal, was sich daraus ergibt. Abgesehen davon hat der EGMR den Prozess für unfair befunden. Wenn der Prozess unfair war, dann sind auch die Prozessprotokolle unfair. Man kann deshalb kein Wiederaufnahmeverfahren auf der Grundlage dieser Unterlagen führen. Dies setzt die Unfairness fort.

Die Angelegenheit wurde in der Türkei von einem höheren Gericht untersucht. Dieses entschied, dass, unabhängig vom unfairen Prozess, auch in einem fairen Prozess das gleiche Urteil gefällt worden wäre.

Abdullah Öcalan genießt unter den ehemals Unterdrückten in Südafrika viel Sympathie und Unterstützung, da ihre Anführer gleiche Erfahrungen gemacht haben. Sie haben sich mit dem Kampf des kurdischen Volkes identifiziert. Wir haben eine Organisation von Veteranen des Kampfes gegen die Apartheid. Sie haben Verbindungen zu einer kurdischen Veteranenorganisation aufgebaut und Abdullah Öcalan einen Friedenspreis für seine Rolle als Initiator eines friedlichen Dialogs mit der Erdogan-Regierung verliehen. Sie suchen noch nach einem Weg, ihm diesen Preis zukommen zu lassen.

Fußnoten:
1- Die Metapher „den Rubikon überschreiten“ bezieht sich auf die Überquerung des Flusses Rubikon durch Julius Cäsar im Jahr 49 v. u. Z. und bedeutet, dass es dann „kein Zurück mehr“ gibt.
2- Eine afrikanische Lebensphilosophie, die sich auf die Gemeinsamkeit der Menschen und deren Verbundenheit bezieht. Das Wort ist aus den Bantu-Sprachen und bedeutet in etwa „Menschlichkeit“, „Nächstenliebe“, „Gemeinsinn“.

 

 

Quelle: Kurdistan Report Nr. 158 November/Dezember 2011

 

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