Erdogan lässt Intellektuelle inhaftieren – AKP naher Politiker ruft zum Massaker auf

Michael KnappMichael Knapp, 16.01.2015

„Wir fordern den Staat auf, die Gewalt die er gegen seine Bürgerinnen und Bürger ausübt, sofort zu beenden. Wir als Akademikerinnen und Akademiker, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dieses Landes erklären, dass wir kein Teil dieses Verbrechens sein werden und versprechen, dass wir für unsere Haltung gegenüber politischen Parteien, dem Parlament und der internationalen Öffentlichkeit eintreten werden.“

So beginnt der Appell von über 1128 Akademikerinnen und Akademikern, von 89 Universitäten in der Türkei und über 355 aus dem Ausland, in dem sie den türkischen Staat auffordern, seine Gewaltpolitik zu beenden und für Verhandlungen einen Boden zu bereiten. Unter den Unterzeichnerinnen und Unterzeichnern befinden sich bekannte Persönlichkeiten wie Noam Chomsky, David Harvey, Judith Butler und andere. ((http://bianet.org/english/human-rights/170978-academics-we-will-not-be-a-party-to-this-crime))

Die Kampagne, welche unter dem Namen ‚Akademiker_innen für den Frieden‘ auftritt, kritisierte scharf das Vorgehen gegen die Bevölkerung der Städte und Stadtteile Sur, Silvan, Nusaybin, Silopi und vieler anderer Orte und thematisierte die Angriffe mit schweren Kriegswaffen, die Ausgangssperren und die damit zusammenhängenden Probleme mit Hunger, medizinischer Versorgung und Einschränkung bzw. Aufhebung des Rechts auf Leben und Sicherheit, des Verbots von Folter und Misshandlung, wie sie in internationalen Konventionen garantiert sind. Das Vorgehen der Türkei wird in der Petition als ein „absichtliches und geplantes Massaker bewertet, welches sowohl gegen türkisches Recht als auch gegen internationale Konventionen, welche die Türkei unterzeichnet hat, ernsthaft verstößt“, bewertet.

Erdogan reagierte auf die internationalen Unterzeichnenden auf typische Art und Weise, indem er ihnen Kolonialismus vorwarf, dass sie im Namen einer „fünften Kolonne“ agierten und sie einlud ihnen die „Wahrheit“ zu zeigen. Der Philosoph und renommierte Linguist Prof. Dr. Noam Chomsky erklärte gegenüber der Reaktion Erdogans: „Wenn ich mich entscheide in die Türkei zureisen, dann nicht auf seine Einladung hin, sondern wie schon of vorher, auf die Einladung der vielen mutigen Dissidenten hin, enschließlich der Kruden, die seit vielen Jahren brutal angegriffen werden… Die Türkei erklärte ISIS als Schuldigen für den Angriff [in Istanbul], die Organisation der Erdogan auf viele Weisen geholfen hat und während er die Al Nusra Front ebenfalls unterstützt, die sich kaum davon unterscheidet. Dann fängt er mit einer Tirade gegen diejenigen an, die seine Verbrechen an den Kurden verurteilen – welche die stärkste Bodentruppe sind, die gegen ISIS in Syrien und Irak darstellen. Ist dazu noch ein weiterer Kommentar notwendig?“  ((http://www.theguardian.com/us-news/2016/jan/14/chomsky-hits-back-erdogan-double-standards-terrorism-bomb-istanbul))

während er am 13.01. gegen die Mehrzahl von ihnen aus der Türkei mit offenen Drohungen regelrecht zur Jagd blies:
„Dies [der Appell, Anm. d. Üs.] ist keine Angelegenheit der Meinungsfreiheit. Sie haben kein vaterländisches oder nationales Anliegen. Sie wollen nur unser Land, unser Vaterland ins Chaos stürzen und streben danach, diese Nation gegen sich selbst aufzubringen. Dies ist sicherlich keine Frage der Demokratie, der Rechte und Freiheiten, der Freiheit der Meinung und der Gedanken. Es ist eine Frage des Bestehens unseres Staates und unserer Nation… …Ich gehe davon aus, dass unsere betreffenden Institutionen entsprechend unserer Verfassung und den Gesetzen , gegen diesen offen verbrechensfördernden Verrat das Notwendige tun werden.“

Gleichzeitig holte Erdogan gegen die Politiker_innen der HDP aus und bezeichnete sie als „ebenso wenig als Politiker wie diese sogenannten Akademiker solche sind.“ Er ging weiter und sagte „In meinen Augen sind das keine Politiker mehr, sondern Werkzeuge der Terrororganisation.“

((http://www.cumhuriyet.com.tr/haber/siyaset/464135/Erdogan_dan_yargiya_talimat_gibi_sozler.html))

Interessant sind die Reaktionen: selbst die in vielen Punkten als Opposition auftretende CHP erklärte, distanzierte sich von dem Schreiben und bestätigte damit ihre Teilnahme am Kriegskonzept der AKP. ((http://diclehaber.com/tr/news/content/view/494291?page=2&from=1072129438))

Sowohl die Hochschulkommission als auch die Justiz folgten der Aufforderung Erdogans zum Vorgehen gegen die Meinungsfreiheit. Am Morgen des 15.01. wurden 24 Hochschulangehörige der Kocaleli Universität und drei von der Bolu Universität festgenommen. Die Staatsanwaltschaft wirft den Festgenommenen„die Herabwürdigung des türkischen Parlaments, der türkischen Regierung und der judikativen Organe des Staates“ (bis zu fünf Jahre Haft) und „Werbung für eine Terroristische Vereinigung“ vor. Dieser Straftatbestand wird mit bis zu 7,5 Jahren Haft wegen besonderer Schwere bestraft, wenn die Tat über Medien erfolgte. ((http://www.turkhukuksitesi.com/mevzuat.php?mid=9923)). Die Hochschulkommission hat in Antep gegen vier Unterzeichner Disziplinarverfahren eingeleitet. ((http://www.yuksekovahaber.com/haber/24-akademisyen-gozaltina-alindi-173688.htm)) Nach Angaben der Nachrichtenagentur ANF hat die Generalstaatsanwaltschaft in Istanbul Verfahren gegen alle 1128 Unterzeichner_innen eingeleitet. ((http://anfturkce.net/guncel/akademisyenler-hakkinda-sorusturma-baslatildi))

In einigen Teilen seiner Stellungnahme heizt Erdogan ebenfalls eine Pogromstimmung gegenüber den Intellektuellen weiter an: „Um wie diese sogenannten Akademiker, welche dieses Flugblatt unterzeichnet haben, an der Seite der Terrororganisation Stellung zu beziehen, muss euer Geist verschmutzt und benebelt sein und jegliche menschliche Züge verloren haben. Ich habe keine Zweifel, dass unsere Nation diesen Überresten der Mandatsmächte die Antwort, welche sie verdienen, geben wird.“ ((http://www.cumhuriyet.com.tr/haber/siyaset/464135/Erdogan_dan_yargiya_talimat_gibi_sozler.html))

Erdogan wurde von dem ihm nahestehenden rechtsextremen Politiker mit Verbindungen ins Organisierte Verbrechen, Sedat Peker sekundiert, er hatte bzgl. der Unterzeichnenden erklärt: „Wir werden Euer Blut in Strömen fließen lassen und wir werden uns mit Eurem Blut duschen.“ Diese Erklärung des Faschistenführers Sedat Peker ist nichts Neues. Kurz vor dem Anschlag in Ankara letzten Jahres auf eine Friedenskundgebung, bei der mehr als hundert Teilnehmerinnen und Teilnehmer getötet wurden, hatte er auf einer Kundgebung unter dem Motto „Wir sind mit Dir, Meister [Bild von Erdogan] gedroht: „Sie [die kurdische Bewegung] machen einen großen Fehler. Wenn sie es bemerken, wird es für sie zu spät sein. Wir werden, wie als wenn die Schlagadern der Welt geöffnet würden, Blut in Strömen fließen lassen.“ ((http://www.diken.com.tr/boyle-olur-sedat-pekerin-mitingi-erdogani-seviyorum-oluk-oluk-kan-akacak/))

Die Ermittlungen, die gegen Peker damals eingeleitet worden waren, sind im Sande verlaufen. Aufgrund der aktuellen Äußerungen erklärt der Anwalt der Angehörigen des Ermordeten Agos Redakteurs Hrant Dink, Erdal Dogan: „Die heutige Erklärung von Peker ist konkreter und ausführlicher als die Letzte. Denn er verbreitet konkrete Morddrohungen, die eine direkte Gefahr bilden können. Gestern hat auch Erdogan die Akademiker bedroht. Es ist offensichtlich, dass sich Peker als der Revolvermann von Erdogan geriert. Dies zeigt unserer Meinung nach, dass das gemeinsame Foto der beiden auf einer Hochzeit kein Zufall ist.“ ((http://www.diken.com.tr/sedat-peker-cumhurbaskani-erdoganin-tetikcisi-gibi-derhal-sorusturma-baslatilmali/))

Auch die neofaschistischen „Ülkü Ocaklar“, welche den Grauen Wölfen nahe stehen, forderten vom Unterzeichnenden Prof. Dr. Bülent Tanju den Rücktritt und drohten „In Kayseri wird es eng für dich werden.“ ((http://www.diken.com.tr/barisci-akademisyene-ulku-ocaklarindan-tehdit-kayseri-sana-dar-gelir/))

Diese Drohungen stellen keine leeren Drohungen dar, stattdessen besteht in der Türkei eine enge Verbindung zwischen neofaschistischen Banden, Polizei, Geheimdienst und Militär. Früher traten diese Einheiten als JITEM auf, mittlerweile bewegen sie sich als Polizeieinheiten unter dem Namen „Löwen Allahs“ Esadullah, als Hizbullah, als Türkische Rachebrigaden und unter vielen weiteren Pseudonymen. Unterstrichen wird die Tatsache davon, dass wir in den letzten 25 Jahren etwa von 17.000 „Verschwundenen“ in der Türkei ausgehen können, aber auch von den engen Verbindungen der Türkei zu jihadistischen Terrorbanden, welche diese als sicheres Hinterland benutzen. Auf Twitteraccounts brüsten sich mutmaßliche Angehörige von Spezialeinheiten damit, wie sie Körper Getöteter misshandeln, oder wie in Sirnak geschehen, am Panzer durch die Stadt schleifen. Vor wenigen Tagen waren, wie berichtet, 12 Personen in Van Edremit zum Großteil per Kopfschuss getötet worden. Mittlerweile ist klar, dass die Personen Angehörige der kurdischen Guerilla waren. Auf dem Twitteraccount @J_I_T_E_M hieß es:
„So wie wir heute in Van zwölf Kurden hingerichtet haben, werden wir jetzt jedem Kurden, den wir Festnehmen, einen Genickschuss verpassen. Das schwören wir.“ Der Tweet wurde 20 Minuten später wieder gelöscht. ((http://diclehaber.com/tr/news/content/view/493670?from=1815887918))

Personen, welche die Waffenlieferungen an diese Terroristen aufdecken, sind ebenfalls von staatlicher Repression betroffen, wie beispielsweise der inhaftierte Chefradakteur der Zeitung Cumhurriyet Can Dündar.

Die Unterzeichnenden reagierten gefasst auf die Repression und die Drohungen. Der Vorsitzende des Exekutivkomitees des Demokratischen Kongresses der Völker (HDK) und Akademiker Prof. Dr. Onur Hamzaoğlu erklärte nach Erdogans Drohungen am Tag vor den Festnahmen: „Wenn wir uns vor Gittern fürchten würden, wären wir nicht in den Zug eingestiegen. Ich habe dies getan, um mein eigenes Gesicht im Spiegel anschauen zu können, deswegen haben ich den Brief unterschrieben.“ ((http://anfturkce.net/guncel/akademisyenler-gozaltina-alindi-yenilendi))

Die Dozentin Esra Arsan erklärte: „Ich bereue nichts…Wenn unsere Kinder uns irgendwann fragen: Und was habt ihr damals gemacht? Dann möchte ich ohne mein Haupt zu senken und aufrecht sagen können was ich getan habe. Ich denke, ich bin in der Lage dazu.“ Prof. Dr. Ishil Ünal erklärte: „Wir haben das getan, was für uns Akademikerinnen und Akademiker notwendig war und unser Wort für einen Friedensprozess und die Wiederaufnahme von Verhandlungen eingesetzt. Unsere Forderungen wurden absichtlich, gezielt abgeurteilt. Dies ist eine Nachricht der Kriegstreiber den Krieg fortzusetzen. … Für uns sind diese Drohungen nicht wichtig, wir werden unseren Kampf fortsetzen bis Frieden im Land herrscht. Wenn es anders wäre, hätten weder die Universität noch Akademikerinnen und Akademiker einen Sinn.“

Der Verfassungsrechtler Prof. Dr. Ahmet Insel ging direkt auf die Drohungen ein und antwortete: „Wenn Erdogan und sein Intellektueller Sedat Peker spricht, was sollen wir dazu sagen? Erdogan bewertet uns als Hort der Dunkelheit, ebenso Sedat Peker, der als sein [Erdogans] Intellektueller sofort auftritt und damit droht, in unserem Blut zu baden. Da gibt es nichts mehr zu reden. In diesem Sinne können sie die Türkei lesen, indem sie auf Erdogan und seinen Intellektuellen Sedat Peker schauen.“ ((http://anfturkce.net/guncel/akademisyenler-tehditlere-karsi-barista-israrli))

Mit dem Angriff auf die Akademikerinnen und Akademiker und vor allem mit der Zuspitzung eines nationalistischen Klimas in der Türkei steuert Erdogan die Türkei immer weiter in einen Bürgerkrieg. Es scheint als versuche er den Angriff des Staates auf die kurdische Zivilgesellschaft durch ein Aufhetzen der Bevölkerung gegen die kurdische Bevölkerung weiter eskalieren zu wollen. Damit unterstützt Erdogan die These, dass sich das türkische Regime auf dem Weg vom Polizeistaat zum Faschismus befindet. https://www.jungewelt.de/2015/12-31/032.php

Erinnert sei hier an die Aufrufe Erdogans im Wahlkampf gegen „den Terror“ vorzugehen: sie sorgten für Pogrome in der ganzen Türkei und für hunderte Angriffe auf HDP Büros. ((http://www.taz.de/!5228936/)) Erinnert sei auch an seinen hastig dementierten, positiven Bezug auf den Nationalsozialismus. http://www.spiegel.de/politik/ausland/tuerkei-recep-tayyip-erdogan-nennt-hitler-deutschland-als-beispiel-fuer-praesidialsystem-a-1070162.html

Mittlerweile wächst die Unterstützung für den Aufruf der Akademiker_innen weltweit, Kunst und Kulturschaffende, Filmregisseur_innen und viele andere schlossen sich dem Aufruf an. Hiermit möchte ich ebenfalls die Leser_innen dieses Artikels auffordern den Appell für Frieden und eine politische Lösung und ein Ende des Massakers durch eine Email mit Titel und Name zu unterstützen. Die Email Adresse lautet: info@barisicinakademisyenler.net