Es gibt keinen anderen Ausweg als einen neuen Verhandlungsprozess

mahmut sakarMahmut Sakar, Rechtsanwalt

Eine kurze Geschichte der Verhandlungen zwischen Staat und Öcalan

Der Frieden ist noch immer für das kurdische Volk ein Traum. Man will ihn, doch scheint er unerreichbar. Mal scheint er nur eine Armlänge entfernt, mal fern wie ein Stern in der Nacht. Die Sehnsucht nach ihm brennt wie Durst in der Wüste, er ist wie Brot für die Hungernden. Denn die Alternative ist Schmerz, der Verlust geliebter Menschen. Jeden Tag vergießen wir Tränen über Jugendliche, an die wir uns noch als Krabbelkinder erinnern. Söhne und Töchter verglühen wie Sternschnuppen vor den Augen der Eltern. Nur der Frieden kann dieses Schicksal wenden. Eine friedliche Verhandlungslösung ist also nicht nur eine politische Forderung des kurdischen Volkes, sondern eine Lebensnotwendigkeit. Aus diesen Grunde sind Lösungen wie in Südafrika und Nordirland Beispiele, die Hoffnung geben und über die fast alle Kurden Bescheid wissen.

Natürlich existieren spezifische Schwierigkeiten für eine friedliche Lösung der kurdischen Frage. Kurdistan ist auf vier Staaten des Mittleren Ostens aufgeteilt. Sowohl die antikurdischen Bündnisse unter diesen Staaten als auch ihre Beziehungen mit internationalen Mächten verhindern, dass eine dauerhafte Lösung der kurdischen Frage auch nur auf die Tagesordnung kommt. Veränderungen in der Position der Kurden sind nur Nebeneffekte, wenn der traditionelle Status quo des Mittleren Ostens erschüttert wird, wie dies bei der militärischen Operation des Bündnisses aus USA und westlichen Mächten gegen den Irak der Fall war.

Die Rolle der Türkei in diesen Gleichungen können wir beinahe als entscheidend bezeichnen. Der größte Teil Kurdistans liegt auf dem Territorium dieses Staates. Darüber hinaus besitzt sie die stärksten und am weitesten reichenden Beziehungen zum westlichen System. Das wichtigste Merkmal jedoch, das die Türkei zudem von den anderen Staaten unterscheidet, ist die Tatsache, dass sie die Existenz der Kurden negierte, ihre Sprache verbot und nicht nur die Namen von Menschen und Orten, sondern selbst die lateinischen Bezeichnungen von Pflanzen und Tieren geändert hat. Diese Politik der Assimilation, welche seit der Gründung der Republik Türkei angewandt und konsequent über das Bildungssystem und die Medien betrieben wurde, erschwert eine Lösung der kurdischen Frage. Ganze Generationen sind mit dieser Strategie der Verleugnung aufgewachsen. Diese Generationen bilden heute die Basis für nationalistische und chauvinistische Politik und setzen selbst die politischen Machthaber unter Druck. Besonders die von A bis Z nationalistische und militaristische Sprache der Medien liefert dem ständig neue Nahrung.

Trotz all dieser Schwierigkeiten gab es auch einige vorteilhafte Faktoren. Die Republik hatte offiziell ihren Ausgangspunkt in Kurdistan genommen. Ihr Gründer, Mustafa Kemal, war mit religiösen und politischen Führern der Kurden zusammengekommen, man hatte sich geeinigt, und auf dieser Grundlage waren auch die Kurden als wichtige Akteure am Aufbau der Republik beteiligt gewesen. Noch nach ihrem Aufbau wurden die gegebenen Versprechen gebrochen, die kurdische gesellschaftliche Dynamik sollte vernichtet werden. Die Jahre von 1925–1938 sind aus kurdischer Sicht Jahre des Massakers. Zeitgleich mit diesen Massakern wurde die oben beschriebene Assimilationspolitik umgesetzt. Eine Republik war gegründet worden, doch die Chance, ihr einen demokratischen Kern zu verleihen, wurde vertan und stattdessen ein autoritärer Kurs eingeschlagen.

Nach dem Aufbruch der Bewegung um die PKK war es nicht länger möglich, die Kurden zu verleugnen. Die Politik der Assimilation hatte Schiffbruch erlitten. Es kostete viel Leid, bis der türkische Staat dies verstand und akzeptierte. Die Landschaft Kurdistans wurde geradezu umgepflügt, rund 4000 Dörfer abgebrannt oder entvölkert, Tausende Intellektuelle und Führungspersönlichkeiten ermordet, Folter zum Teil des täglichen Lebens, ein großer Teil der Kurden zu Opfern dieser Flut von Gewalt gemacht – und doch zeigte sich, dass all dies nichts nutzte.

Selbst in dieser Phase der schärfsten Gewaltausübung zeigten die Erklärungen der türkischen politischen Führung, dass sie verstanden hatten, dass diese Gewaltpolitik keine Lösung sein konnte. Es gelang ihnen jedoch nicht, stattdessen eine andere Politik zu entwickeln. So entschieden sie sich für den einfacheren Weg, die Angelegenheit den militärischen Kräften zu überlassen.

Die PKK andererseits hatte sich seit 1993 klar für eine Verhandlungslösung entschieden. Mit dieser Wahl hatte sie auch demonstriert, dass ihre eigentliche Absicht nicht in der Abspaltung lag. Es war die PKK, die Verhandlungen wollte, sie einforderte, dafür appellierte. Tatsächlich kam es zu verschiedenen Zeiten zu indirekten Verhandlungen. Der erste ernst­hafte Versuch wurde 1993 unternommen, als die PKK auf Wunsch von Präsident Özal und durch Vermittlung des heutigen irakischen Präsidenten Talabani einen Waffenstillstand verkündete. Als jedoch Özal getötet wurde und auf provozierende Weise 33 unbewaffnete Soldaten ermordet wurden, schwanden die Hoffnungen auf Frieden und an ihre Stelle trat eine Phase fürchterlicher Gewalt. 1998 begann eine ähnliche Phase indirekter Gespräche, die trotz der Entführung Öcalans am 15. Februar 1999 in die Türkei nicht abbrach, sondern in radikalen Entscheidungen wie dem Abzug der Guerilla vom Territorium der Türkei ihre Fortsetzung fand.

Der bisher ernsthafteste Verhandlungsprozess begann 2009. Eine Delegation bestehend aus dem Direktor des Geheimdienstes MIT, seiner Stellvertreterin und einem Sondergesandten des Ministerpräsidenten, der später zum MIT-Direktor befördert wurde, führte parallel Gespräche mit Abdullah Öcalan auf der Insel Imrali und mit hochrangigen Vertretern der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans KCK. In der Anfangsphase dieser Gespräche legte Abdullah Öcalan eine schriftliche „Roadmap“ vor, in der er wahrscheinliche intellektuelle und kulturelle Hindernisse für einen Friedensprozess und konkrete Lösungsmöglichkeiten darlegte. Dieser Text wurde auch offiziell von der KCK akzeptiert, und alle Seiten nahmen ihn zur Arbeitsgrundlage. In der Folge reis­te eine Friedensdelegation aus Kandil und Mexmûr über den Grenzübergang Habur in die Türkei ein. Die kurdische Gesellschaft begrüßte diese Gruppe, die voller Hoffnung ihre Waffen niedergelegt hatte, begeistert und betrachtete sie als ein Omen für den Frieden. Dieses Ereignis hat in einem Ausmaß die Sehnsucht des kurdischen Volkes und seinen Hunger nach Frieden demonstriert wie kein zweites.

Informationen über den Gesprächsprozess drangen auch an die Öffentlichkeit, die in bedeutendem Ausmaß positiv und mit Unterstützung reagierte. Von vielen Seiten wurde die Wichtigkeit dieser Gespräche betont. Gleichzeitig wurden unter dem Namen „KCK-Operation“ 51 Personen, darunter Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, ParteifunktionärInnen und MenschenrechtlerInnen, verhaftet und in Handschellen in einer Reihe vorgeführt. Die Gespräche liefen trotzdem weiter. Doch während ihrer gesamten Dauer rissen weder diese Operationen noch die militärischen Operationen je ab.

Über die Gespräche zwischen Öcalan und dem Staat äußerte er sich mehrfach hoffnungsvoll und bezeichnete sie als Prozess von historischer Bedeutung. Er verwendete größte Anstrengungen darauf zu verhindern, dass negative Vorfälle den Verhandlungsprozess blockieren, und bemühte sich darum, in der Öffentlichkeit eine Atmosphäre der Zustimmung zum Frieden zu schaffen. Als konkretes Ergebnis der in dieser Zeit geführten Gespräche wurde mit der Delegation Übereinstimmung über drei separate Protokolle erzielt. Dieser Konsens umfasste die Gründung einer Verfassungskommission, um eine neue Verfassung auszuarbeiten, einer Wahrheits- und Gerechtigkeitskommission, um die Menschenrechtsverletzungen der Vergangenheit aufzuarbeiten, und einer Kommission, die die Bedingungen einer Entwaffnung ausarbeiten sollte. Diese Protokolle wurden Ministerpräsident Erdogan zur Billigung vorgelegt.

Erdogan jedoch gewann zum dritten Mal in Folge die Parlamentswahlen und – wie er sich selbst ausdrückte – „zerriss“ diese Protokolle „und warf sie in den Müll“. Daraufhin zog sich Öcalan mit der Begründung, dass er keinen ernsthaften Willen erkennen könne, von den Gesprächen zurück. So wurde offenbar, dass der Verhandlungsprozess nur eine Taktik gewesen war und der Wiederwahl dienen sollte. In der Folgezeit wurden die „KCK-Operationen“ so sehr ausgeweitet, dass sie alles und jede umfassten. Die Militäroperationen wurden verstärkt, Giftgas eingesetzt, im Dorf Roboskî bei Qila­ban (Uludere) 34 Menschen, überwiegend Kinder und Jugendliche, von F-16-Bombern absichtlich massakriert. Die Politik schwenkte von einem Kurs der Hoffnung auf einen Kurs neuer Massaker.

Wichtig bei alledem ist Öcalans Position. Selbst wenn wir nur die Zeit von 1999 bis heute betrachten, sehen wir einen Mann, der ständig und beharrlich über Frieden nachdenkt, redet und schreibt. Darüber hinaus hat er immer wieder unter Beweis gestellt, dass er in der Lage ist, durch seine praktischen Vorschläge dem Friedensprozess neuen Schwung zu verleihen. Er spielte eine strategische Rolle dabei, sowohl die kurdische Gesellschaft als auch die kurdische Bewegung auf den Frieden vorzubereiten. Nach und nach fanden seine Friedensbemühungen und sein Gewicht auch Widerhall bei den türkischen Eliten. Der Gedanke, dass es keinen Frieden ohne Öcalan geben werde, setzte sich in weiten Kreisen durch, die ansons­ten mit seinen Ideen nicht übereinstimmten. Weil der AKP-Regierung dies durchaus bewusst ist, verhindert sie seit dem 27. Juli 2011 jede Konsultation Öcalans mit seinen Anwälten. Sie unterstreicht sogar öffentlich, dass dies auf einen Regierungsbeschluss zurückgeht. Im Zuge dieser Isolationspolitik wurden 36 Anwältinnen und Anwälte Öcalans verhaftet. Diese Richtungsentscheidung der Regierung können wir als Beginn einer erneuten, langfristigen Politik der Härte interpretieren.

Aus all dem wird klar, dass wir uns an einem gefährlichen Punkt befinden, der Anlass zu größter Sorge gibt. Die kurdische Gesellschaft stellt immer mehr das Leben innerhalb des türkischen Staatssystems infrage. Niemals zuvor wurde das Zusammenleben derart in Zweifel gezogen und hinterfragt. Dass nach dem Massaker an 34 jungen Leuten Erdogan sich nicht entschuldigte, nicht einmal ein ernsthaftes Bedauern äußerte, sondern den türkischen Streitkräften dankte und so das Massaker legitimierte, hat die kurdische Gesellschaft tief getroffen.

Der türkische Staat wird niemals sein Ziel erreichen, so sehr er auch die Gewalt verschärfen mag. Dies haben andere bereits in größerem Ausmaß getan. Daher ist die beste Lösung für beide Gesellschaften, die Spannungen zu entschärfen, auf rassistische und chauvinistische Diskurse zu verzichten und den Weg für Gespräche frei zu machen.
Für Friedens- und Verhandlungsprozesse ist es weiterhin wichtig, dass alle Beteiligten diese nicht als Taktik betrachten. Leider hat der Staat durch die jüngsten und alle vorherigen Erfahrungen genau diesen Eindruck bei der kurdischen Gesellschaft hinterlassen. Dieser Eindruck und das fehlende, immer wieder enttäuschte Vertrauen erschweren auch einen Neuanfang. Jede Verhandlungsphase, die mit einer Eskalation der Spannungen endet, verhärtet im Grunde beide Seiten und die Gesellschaft. Die Beteiligten stellen sich ausgehend von Konflikt und Verhärtung neu auf, und so sinken die Chancen für Frieden und eine Lösung weiter.

Doch ganz offensichtlich gibt es keinen anderen Ausweg als einen neuen Verhandlungsprozess. Früher oder später müssen die Beteiligten sich wieder an einen Tisch setzen. Je länger dies dauert, umso schlechter für das türkische und das kurdische Volk. Wenn zivile Kräfte, Intellektuelle, internationale Institutionen und Persönlichkeiten im Rahmen ihrer Möglichkeiten Druck besonders auf die Regierung ausüben, wird dies einen Neuanfang erleichtern.

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