Ferien sind viel zu kostbar, als sie im Land des Staatsterrors zu genießen

Gezi-ParkDer Tourismus ist eine der wichtigsten Einnahmequellen der Türkei
Serdar Eroglu

An der südlichen Ägaisküste liegt die Ferien- und Hafenstadt Marmaris. Westlich von Marmaris erstrecken sich zwei Halbinseln. Datça die eine, auf der auch der Ort Resadiye liegt, Bozburun die andere. Aufgrund der bergigen Landschaft um die Küste von Marmaris liegen in diesem Gebiet viele Dörfer, auf Bozburun insbesondere Dörfer mit wunderschönen traditionellen Steinbauten. Eines dieser Dörfer ist Kumlubük, das zu den schönsten in Marmaris zählt. Ein reicher Geschäftsmann hat in diesem Dorf eine Boutique-Hotel-Anlage errichtet, sie wurde nach dem Gott des Weines, Dionysos, benannt. Die Anlage mit Meeresblick ist an eine Bergwand gelehnt und nur über einen steinigen Fußsteig zu erreichen. Die Fläche liegt mitten in einem Weinberg und der Aufenthalt kostet hier 900 Euro für eine Woche. Vor allem britische, niederländische und deutsche Touristen bevorzugen Dionysos. Es ist eine der zahlreichen elitären touristischen Anlagen im Gebiet Marmaris.

1300 Kilometer östlich von Dionysos liegt auf demselben Breitengrad das Dorf Roboskî (Ortasu), nahe der irakischen Grenze und genau wie Dionysos ein Dorf in den Bergen. Allerdings führen die engen Fußwege hier nicht zu den schönsten Buchten der Welt, vielmehr führen sie dorthin, wo am 28.12.2011 34 kurdische Dorfbewohner im Bombardement türkischer F16 getötet wurden. Im Dorf Ballikaya, 30 Kilometer westlich von Roboskî, lebt gar kein Mensch. Dort sind aufgrund der Gefechte zwischen türkischer Armee und PKK viele Menschen ums Leben gekommen, weshalb das Dorf einen großen Friedhof hat. In einer Höhle außerhalb des Dorfes sind die Gebeine von 20 PKK-Guerillas gefunden worden, die im Jahr 1999 von der türkischen Armee umgebracht wurden.
In der Türkei herrscht seit knapp 30 Jahren ein grausamer Krieg zwischen der türkischen Armee und der PKK. Von Zeit zu Zeit ändert sich die Intensität des Krieges, aber in jeder Phase finden Massaker statt, die im Bewusstsein der Kurden eingeprägt sind. Jede Stadt, jedes Dorf in Kurdistan hat in der nahen Vergangenheit Ähnliches erlebt. Beispielsweise kann einem Touris­ten in Amed (Diyarbakir) nach der Information, dass es sich bei der antiken Stadtmauer dort um die zweitlängste in der Welt handelt, dann fast ausschließlich nur von der blutigen Vergangenheit der Stadt berichtet werden. So wurde beispielsweise Shech Said1 1925 in Dagkapi erhängt, die Leiche von Vedat Aydin2 1991 unter einer Brücke in Amed gefunden, Musa Anter3 im Stadtteil Seyrantepe erschossen, die noch immer unaufgeklärten „Morde unbekannter Täter“ fanden täglich in der Melik-Ahmet-Straße statt und die Glo­cken der Kirchen der 1915 massakrierten Armenier sind mittlerweile einmal im Jahr zu hören.

Von der Dionysos-Anlage aus betrachtet ist Kurdistan ein ganz anderes Land.

Bis zu den 1980er Jahren war der Tourismus in der Türkei nicht sehr weit entwickelt. Die jetzt mit Hotels bebauten Gebiete an der Ägäis- und Mittelmeerküste waren in den 80ern zu 85?% unbebaut. Dass der Tourismus für das Land eine wichtige wirtschaftliche Rolle spielen kann, stammt seltsamerweise von der Militärjunta von 1980. 1982 wurde das Gesetz zur Förderung des Tourismus verabschiedet, im Rahmen dessen wurden sowohl Inves­toren als auch Reiseagenturen finanziell unterstützt, um ausländische Touristen in die Türkei zu bringen. Mit den Jahren ist der Tourismussektor zu einer der wichtigsten Einnahmequellen der Türkei geworden. 1983 konnten 1,6?Mill. Touristen in die Türkei gelockt werden, die 411?Mill.?Dollar an Devisen einbrachten. 2009 kamen 32?Mill. Touristen in die Türkei, die dem Land 21,2?Mrd.?Dollar brachten. Nach ersten Schätzungen hat der Sektor im Jahr 2011 25?Mrd.?Dollar eingefahren. 88?% der Einnahmen im Tourismussektor sind ausschließlich auf ausländische Touristen zurückzuführen. Die Militärausgaben der Türkei betragen 10,5? Mrd. Dollar. Davon werden 6,2 Mrd. für die Innere Sicherheit verwendet. Oder anders ausgedrückt, für den Krieg gegen die Kurden. Somit ist der Tourismussektor in der Türkei so groß, dass er allein in der Lage ist, den Krieg, insbesondere gegen die Kurden, aber im Allgemeinen gegen die Oppositionellen in der Türkei, mehr als einmal zu tragen.

Der von der türkischen Regierung gegen die Kurden geführte Krieg mit seinen ganzen Menschenrechtsverletzungen löste nach 1990 in der auswärtigen Öffentlichkeit deutliche Reaktionen aus. Diese Reaktionen führten unter anderem dazu, dass im zivilen Bereich Boykottkampagnen gegen den Tourismussektor in der Türkei begonnen wurden. Auch in der Gegenwart gibt es eine solche Boykotthaltung, wenn auch nicht so ausgeprägt wie in der Vergangenheit. Jüngst erklärte der bekannte Schriftsteller Paul Auster, die Staaten mit autoritären Gesetzen besuche er nicht. Damit hat er wieder den zivilen Boykott gegen autoritäre Regime auf die Tagesordnung gebracht.

Bei zivilen Boykottaktionen gegen die Türkei sind zwei entscheidende Aspekte zu beachten.
Erstens der Fall, wenn die Touristen nicht darüber informiert sind, welche Unterstützung sie dem autoritären Regime in der Türkei mit ihrem Besuch in dem Land leisten. Die zum Boykott aufrufen, hegen den Wunsch, dass die Touristen mit ihren Besuchen in der Türkei nicht die Politik Ankaras gegen die Kurden unterstützen sollen. Die Menschen sollten damit, dass sie den Boykottaufruf unterstützen, zeigen, dass sie sich gegen die Unterdrückung eines Volkes, gegen dessen Festnahmen und Folter einsetzen.
Im zweiten Fall, wenn sie sich über die Hintergründe im Klaren, aber der Ansicht sind, ihre Boykotthandlung sei irrelevant. Die Türkei ist im Gegensatz zu anderen autoritären Staaten auf der Welt dringend auf die westlichen Staaten und den Devisenzufluss von dort angewiesen. Die Auswirkungen von Investitionen oder dem Besuch von Touris­ten aus den westlichen Staaten auf Myanmar sind sehr beschränkt. Für die Türkei allerdings sind die Auswirkungen sehr bedeutend. An diesem Punkt kann das Beispiel Südafrika herangezogen werden. In der Phase, als sich das Apartheidregime langsam in Richtung seines Endes bewegte, war in den westlichen europäischen Staaten Mitte der Achtziger die Ansicht vorherrschend, dass Südafrika aufgrund der aktuellen Lage sanktioniert werden müsste. Im September 1986 verhängten neben den westlichen europäischen Staaten auch die USA und Kanada solche Sanktionen. Ende der Achtziger hatten die Sanktionen die Reduzierung des Kapitalflusses nach Südafrika und somit die Schwächung der Machtposition der Weißen dort zur Folge. Anfang der Neunziger war bei der Administration in Südafrika die Idee der Beendigung des Apartheidregimes weit verbreitet. Die Rolle, welche die internationale Gemeinschaft und die zivilen Bewegungen beim Ende des Apartheidregimes spielten, ist groß. In den Achtzigern durchlebte der ANC eine sehr schwache Phase, in der er keine bedeutende, das Regime in Südafrika in seinen Grundzügen erschütternde, Aktion durchführte oder durchführen konnte. Aber die internationale Gemeinschaft hat mit dazu beigetragen, eines der rückständigsten und rassistischsten Regime durch den Einsatz der wirtschaftlichen Waffen zu Fall zu bringen.

In der Türkei sind die Bedingungen, vor allem die ökonomischen, für zivile Boykottaktionen und das Erreichen der Ziele einer solchen Aktion sehr günstig. Die Folgen eines ein- oder zweijährigen zivilen Boykotts würde die Türkei ernsthaft zu spüren bekommen und die Folgen eines unbefristeten Boykotts wären von immensem Ausmaß. Ein Tourismusboykott kann in der Türkei eine Schlüsselrolle spielen und die Führung in Ankara zu einem Kurswechsel zwingen.

Fußnoten:
1) Berühmter kurdischer Aufstandsführer, 1925 hingerichtet
2) Damaliger HEP-Kreisvorsitzender, wurde zwei Tage, nachdem er aus seiner Wohnung abgeführt worden war, tot aufgefunden. Auf seiner Beerdigung wurde die 100000 Menschen zählende Menge beschossen; 10 Tote.
3) Kurdischer Schriftsteller (Apê Mûsa – Onkel Musa), wurde 1992 entführt und anschließend erschossen aufgefunden.

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