G20 und die Vision von Rojava

Fragen an Salih Muslim, Kovorsitzender der Partei der Demokratischen Einheit (PYD), für den Kurdistan Report Juli/August 2017

Stellen Sie sich vor, jemand hat noch nie etwas von Rojava gehört und Sie haben eine Minute Zeit, es zu erklären. Was erzählen Sie von Rojava? Was ist Ihnen wichtig?

Rojava ist ein Teil Mesopotamiens, das seit Jahrhunderten Angriffen, Ausbeutung und Besatzung ausgesetzt ist. Auch Rojava stand unter Besatzung. Ein weiterer Angriff erfolgte in jüngster Zeit durch den Islamischen Staat (IS). Der IS wollte damit eine demokratische Entwicklung in Şengal (Sindschar), Ninova und in Rojava verhindern. Dagegen wehren sich die Kurden. Im Kampf für Demokratie und ein menschenwürdiges Leben in der Region und weltweit haben sie eine Vorreiterrolle übernommen.

Sie kommen zum G20-Alternativgipfel nach Hamburg. Welche Bedeutung hat die G20 aus Ihrer Sicht? Welche Zusammenhänge sehen Sie zwischen der G20 und den Ereignissen in und um Rojava?

Der G20-Gipfel ist ein Treffen der Reichen, auf dem eine gemeinsame Politik festgelegt werden soll. Es geht dabei um die Wahrung ihrer Interessen. Somit ist es ein Treffen der kapitalistischen Moderne. Die große Mehrheit der davon Ausgeschlossenen darf das nicht hinnehmen. Es gibt inhaltliche Alternativen zur Politik dieser Mächtigen und viele Menschen demonstrieren weltweit dafür. Ein Alternativmodell wie in Rojava ist jedoch derzeit nirgendwo auf der Welt wahrzunehmen. Rojava ist die lebendige Alternative zur herrschenden Politik der Mächtigen, die sich G20 nennen. Es sind zwar noch die ersten Schritte, die in Rojava für eine demokratische Selbstbestimmung der Völker unternommen werden, aber wir werden sie weiter ausbauen. Wir sind der festen Überzeugung, dass das Modell Rojava die richtige Alternative für die Menschen und gegen die Macht des Kapitals ist.

Beim G20-Alternativgipfel werden Sie mit anderen Gästen über Alternativen zur Politik der G20-Regierungen diskutieren. Warum brauchen wir aus Ihrer Sicht Alternativen und welche Alternativen wollen Sie voranbringen?

Die G20 vertritt die Interessen des Kapitals und der Herrschenden. Ihr Herrschaftssystem hat eine ungeheuerliche wirtschaftliche Dimension. Sie versuchen, die ganze Welt zu beherrschen. Dieser Herrschaft der Reichen setzen wir eine radikale Basisdemokratie entgegen. Wir bauen ein alternatives System hinsichtlich Machtverteilung und Ökonomie auf. Es ist eindeutig, dass die kapitalistische Moderne nicht die Interessen der Menschen vertritt. Sie beutet die Ressourcen unserer Erde und die Menschen aus. Sie basiert auf knallharten Machtinteressen und auf Gewinnmaximierung. Sie vertritt nicht die Interessen der Menschen und Gesellschaften, sondern dient den Wenigen, die über das Kapital und über Macht verfügen. Die ganz große Mehrheit der Menschen ist hiervon ausgeschlossen. Unsere Welt muss täglich dafür bluten. Die Alternative dazu ist eine radikale Demokratie sowohl im Bereich der Machtverteilung als auch im Bereich der Ökonomie in Form von Selbstverwaltung und Kooperativen. Diese versuchen wir in Rojava in die Praxis umzusetzen.

Inwieweit ist Rojava eine Alternative zum westlich-kapitalistischen System? Welche Ansätze bewähren sich? Was sind dringliche Handlungsfelder? Welche Vision von Rojava bewegt Sie?

Unser System, das sich noch im Aufbau befindet, ist eine Alternative zum westlichen kapitalistischen System oder zur kapitalistischen Moderne. All unsere bisherigen Unternehmungen sind auf Nachhaltigkeit angelegt. Wir sind jedoch ungeheuerlichen Angriffen ausgesetzt. Wir bauen über Selbstverwaltungsstrukturen mit einem Rätesystem eine Basisdemokratie auf. Die Rechte der Frauen und ihre Selbstbestimmung sind dabei wichtige Errungenschaften. Es geht um den Neuaufbau einer sich selbst organisierenden Gesellschaft, in der verschiedene gesellschaftliche Gruppen sich gleichberechtigt organisieren und ein selbstbestimmtes Leben miteinander führen können. Das ist es, was uns begeistert, mit Lebensmut erfüllt und auch als die Vision von Rojava bezeichnet werden kann. Es kostet viel Kraft, weil dafür eine neue Denkkultur erforderlich ist, die für manche auch einen Machtverlust bedeutet. Die Menschen sollen selbstbestimmt leben und handeln können. Es geht um die Befreiung der Gesellschaft. Die Gesellschaft wird mit neuer Lebenskraft ausgestattet und bestimmt selbst über sich.

Der G20-Alternativgipfel ist überschrieben mit »Gipfel für globale Solidarität«. Was bedeutet »globale Solidarität« für Sie?

Der Alternativgipfel zum Gipfel der G20 basiert auf weltweiter Solidarität, allein das stellt bereits eine Alternative dar. Der G20-Gipfel ist ein Treffen der Herrschenden, derjenigen, die über das Kapital und die Herrschaftsstrukturen verfügen. Unser Gipfel ist ein Gipfel der globalen Solidarität, all derjenigen, die benachteiligt, ausgebeutet und entrechtet sind. Es gilt, ihn weiter auszubauen und Schritt für Schritt eine globale Solidarität zu entwickeln, um im gemeinsamen Kampf eine alternative Position auszuarbeiten. Dafür müssen wir bestehende Alternativen wie die in Rojava stärken und weitere aufbauen. Der Kampf in Rojava sollte den Menschen wieder Mut machen und neue Hoffnung geben. Eine andere Welt als die, die uns von der G20 auferlegt werden soll, ist möglich und meiner Meinung nach dringend notwendig. Dafür gilt es global zu streiten und sich gegenseitig zu stärken. Nur gemeinsam haben wir die Möglichkeit, eine wirkliche Alternative zu entwickeln. Dieser Alternativgipfel könnte ein Anfang sein.

Welche Machtverhältnisse blockieren aus Ihrer Sicht sinnvolle Alternativen? Welche Strategien sehen Sie für soziale und ökologische Bewegungen, das Rad der Machtverhältnisse zum Rollen zu bringen?

Eine alternative Praxis beeinflusst auch die bestehenden Herrschaftsstrukturen. Sie schwächt hierarchische und militärische Systeme und setzt diktatorischen und despotischen Modellen ein Ende. Das eröffnet den Weg für soziale Bewegungen und eine Umstrukturierung der Gesellschaft zu mehr Freiheit und Selbstbestimmung. Eine aufgeklärte Gesellschaft wird die Natur nicht zerstören und dem ökologischen Gleichgewicht keinen Schaden zufügen. Will sich eine Gesellschaft schützen, muss sie ökologisch handeln. Also muss den hierarchischen und profitorientierten Verhältnissen, denen die Gesellschaften unterworfen sind, durch Aufklärung ein Ende gesetzt werden. Es sollte eine radikale Demokratie von unten, eine Graswurzeldemokratie, angestrebt werden. Darin dürfen Herrschaftsstrukturen, Despotismus, Nationalismus oder eine Herrschaft im Namen eines Volkes keinen Platz haben. Es müssen demokratische Gesellschaften aufgebaut werden, in denen diese Phänomene nichts zu suchen haben. Gesellschaften waren niemals wirklich miteinander verfeindet. Es müssen nur die Rahmenbedingungen für ein gleichberechtigtes Zusammenleben geschaffen werden, so wie wir es derzeit in Rojava versuchen. Verschiedene Volksgruppen wie KurdInnen, AraberInnen, ArmenierInnen, TurkmenInnen oder AssyrerInnen sollen gleichberechtigt und selbstbestimmt zusammenleben. Damit werden Nationalismus, Zerstörung und Krieg verhindert.

Was müsste aus Ihrer Sicht passieren, um den Syrienkrieg kurzfristig einzudämmen und mittelfristig zu beenden? Welcher Maßnahmen bedarf es Ihrer Meinung nach, um das Leben in Syrien im Sinne aller dort lebenden Menschen zu sichern?

Um den Krieg in Syrien zu beenden, müssen sich als Erstes die ausländischen Kräfte zurückziehen. Sowohl die regionalen als auch die internationalen Kräfte müssen damit aufhören, in Syrien zu intervenieren. Sowohl die Kräfte, die das Regime unterstützen, als auch die anderen Kräfte, die über terroristische und dschihadistische Gruppen einen Stellvertreterkrieg führen, müssen ihre Aktivitäten sofort einstellen. Die Menschen in Syrien sollten ohne Einmischung von außen selbst für sich sprechen. Sie waren es, die das diktatorische und despotische Regime loswerden wollten. Einige standen ihnen bei, andere nutzten diese Situation aus. Die ausländischen Kräfte müssen aufhören, den Krieg weiter anzuheizen. Dann sind die Menschen in Syrien sehr wohl in der Lage, selbstbestimmt zu leben und selbst zu entscheiden, unter welchen Voraussetzungen sie ein gleichberechtigtes Leben wollen. Ich bin davon überzeugt, dass unser Modell einer demokratischen Selbstbestimmung und eines föderalen Systems angenommen werden würde, wenn wir die Möglichkeit hätten, es allen Menschen in Syrien präsentieren zu können. Dieses Modell des demokratischen Konföderalismus ist die realistischste Lösungsperspektive, die für Syrien in Frage kommt. Es steht für einen Neuanfang. Mit ihm kann Frieden in Syrien entstehen, denn es sieht vor, dass alle über sich selbst bestimmen können, jedes Dorf, jede Stadt und jede Lebensform.

Ein Blick in die Zukunft: Was erwarten Sie für die nächsten Jahre?

Ich gehe davon aus, dass der Krieg in Syrien aufgrund der Interessenkollision der verschiedenen Kräfte noch einige Jahre andauern wird. Eine Lösung scheint leider fern, da die verschiedenen Seiten in diesem Konflikt nicht an eine Lösung, an Frieden und einen politischen Ausweg glauben. Für uns bedeutet es, dass wir unseren Weg weitergehen werden. Unser Ziel bleibt, Frieden zu erreichen und die Mentalität der Gesellschaften in Syrien zu verändern. Dafür werden wir weiterkämpfen.

Liegt Ihnen noch etwas auf dem Herzen, aber wir haben vergessen zu fragen? Eine Antwort auf eine Frage Ihrer Wahl!

Abschließend möchte ich noch sagen: Wir müssen eine praktische globale Solidarität entwickeln. Die weltweiten Konflikte sind nicht mit Krieg und gewalttätigen Auseinandersetzungen zu lösen. Wir müssen lernen, mit Widersprüchen umzugehen, und darauf hinwirken, eine Veränderung der Verhältnisse über eine Veränderung der Denkweise zu erreichen. Ein solches Projekt wird langwierig sein. Es ist eine gesellschaftliche Frage und keine Kriegserklärung an irgendjemand, dass wir gerade in Rojava versuchen, Basisdemokratie und Selbstbestimmungsstrukturen, Kooperativen und eine kollektive Lebensweise aufzubauen. Wir versuchen lediglich, unsere Gesellschaft zu organisieren und für unsere Rechte einzutreten. Diese Bemühungen dürften eigentlich nicht auf Ablehnung stoßen. Auch die G20-Mitglieder werden, um den Schein zu wahren, nichts gegen uns sagen können, denn sie selbst behaupten, für Demokratie einzustehen. Unser Demokratieverständnis ist jedoch ein grundlegend anderes. t

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Am 5. Juli ab 19:30 Uhr wird Salih Muslim mit auf dem Podium des Gipfels der globalen Solidarität sitzen. Alternativen zur Politik der G20-Regierungen auf der lokalen, nationalen, europäischen und globalen Ebene wird das Thema des Abends sein.

Außerdem wird er auf der Abschlusskundgebung der Großdemonstration Grenzenlose Solidarität statt G20 am 8. Juli auf dem Heiliggeistfeld reden.


Mit freundlicher Genehmigung der Redaktion des Kurdistan Reports veröffentlichen wir ein Statement von Salih Muslim zum G20-Gipfel in Hamburg aus der zweimonatlich erscheinenden Zeitschrift, dessen neue Ausgabe Anfang Juli erhältlich sein wird. Bei Interesse an einem Abonnement, schickt bitte eine E-Mail mit eurer Anschrift an den Kurdistan Report (kr@nadir.org). Zur Internetpräsenz gelangt ihr HIER.