Geeint im Schicksal, geteilt im Kampf

Dastan Jasim über die Diskussionen zu den Wahlen im Irak, 22.05.2018

Die widersprüchlichen Meldungen und mangelnden Analysen seitens vieler linker und kurdischer Öffentlichkeitsarbeiter zu den Wahlen im Irak und deren Implikationen für die kurdische Frage zeugen von der zunehmenden Komplexität mit der diese Wahl einhergeht.

Tatsächlich sahen die Akteurskonstellationen ab 2014 wesentlich einleuchtender aus. im Norden gab es sowohl die Gerîla als auch Peshmerga-Einheiten, im Kernland hauptsächlich die Hashd al Sha’abi (Volksmobilisierungseinheiten). Da die eine Seite vom Norden, die andere vom Süden aus gegen den gemeinsamen Feind des Islamischen Staats (IS) kämpfte, blieben Eskalationen weitestgehend aus.

Nun sind wir vier Jahre später in einer strategisch, militärisch und politisch hochkomplizierten Situation. Da sind auf der einen Seite die Peshmerga, bei denen weiterhin unklar ist, was im Oktober vergangenen Jahres beim Einmarsch der Hashd al Sha’abi und der irakischen Armee vorgefallen ist. Ob der irakische Coup mit den Peshmerga abgesprochen war, oder ob die Führungskräfte der kurdischen Parteien, allen voran der YNK, hinter vorgehaltener Hand den Verrat an den kurdischen Gebieten genehmigt haben, ist weiterhin ein Rätsel. Zurück bleibt eine demoralisierte Einheit, deren heldenhaften Tage während des Kampfes gegen den IS gezählt zu sein scheinen, wobei das bei den KDP-Peshmerga schon seit August 2014 und dem Verrat von Shengal besiegelt war.

Auf der anderen Seite haben wir die YBŞ, die sich Anfang dieses Jahres auflöste und den Êzîd*innen das Kommando mit der Begründung überließ, dass die bisherigen Aufgaben erledigt seien und die Führungsriege aus HPG-Kreisen sich zurückziehen muss, bevor die Türkei ihre Drohungen wahr werden lässt und Shengal erneut bombardiert. Nun verläuft knapp nördlich von Kocho, dem kleinen êzîdischen Ort, der traurige Berühmtheit durch das dort stattgefundene Massaker an mehr als 1000 Zivilist*innen erlangte, eine Grenze zwischen KDP-loyalen Bewohnern, die sich wieder der Peshmerga angeschlossen haben und ehemaligen YBŞ Kämpfer*innen, die nun in einer Subfraktion der Hashd al Sha’abi kämpfen.

So weit so paradox. Eine kurdische Subgruppe kämpft in den Reihen derselbigen, die in Tuz Khurmatu beispielsweise dutzende Zivilist*innen beraubt, getötet und vergewaltigt haben. Genauso paradox ist, dass diejenigen Parteien Südkurdistans, die sich mit dem Sieg gegen den IS brüsten, die Verteidigung der umstrittenen Gebiete nicht geschafft haben und diese widerstandslos an den Irak übergeben haben.

Dann haben wir die zivil-revolutionären Kräfte, wie beispielsweise die Tevgera Azadi in Südkurdistan. Hier schaffte es die Vertreterin Yusra Rajab über die Liste der „Neuen Generation“ ins Parlament einzuziehen. Das seltsame: Initiator der Liste der „Neuen Generation“ ist Shaswar Abdulwahid, seines Zeichens einer der zwei größten Oligarchen Südkurdistans, der durch zweifelhafte Geschäfte in der Mobilfunkbranche zu seiner Macht gekommen ist. Wie das mit den Inhalten der Tevgera Azadi zu vereinen ist, bleibt zweifelhaft.

Den Gipfel der Widersprüche stellt aber die Kommunistische Partei des Irak dar. Die Partei blickt auf eine sehr lange und schwere Geschichte zurück. Seit ihrer Gründung wurde sie verfolgt, besonders unter Saddam litten sie unter schwerster Repression. Sie ermöglichte vor der Gründung der YNK besonders linken Kurd*innen Teilhabe und politische Selbstorganisation und übte stetigen Widerstand aus. Diese glänzende Vergangenheit scheint eine Vergangenheit zu bleiben. Mit dem nationalistischen Kleriker Muqtada as Sadr haben sie nun eine gemeinsame Liste gebildet und die meisten Wählerstimmen bei dieser Wahl erlangt, was hiesige Kommunist*innen wohl zum Jubel bringt. Die Liste hat sich immerhin dem Kampf gegen die Korruption verschrieben und widmet sich revolutionären Zielen.

Leider ist es nicht ganz so selbsterklärend, wie man denkt, dass eine kommunistische Partei nicht mit schiitischen Islamisten koalieren sollte. Muqtada as Sadr kommt aus einer Familie des politisch-schiitischen Widerstands gegen Saddam. Sein Vater, Sadiq as Sadr, wurde von Saddams Geheimdienstlern auf bösartigste Weise getötet. Nachdem er bei der Vergewaltigung und Tötung seiner Schwester zusehen musste, wurde er durch das mehrfache Einschlagen von Eisennägeln in seine Schädeldecke getötet. Wozu es nötig ist zu wissen, wie dieser Vater starb?

Es ist nötig, da sein Tod ein Exempel der Zeit ist, aus der Sadr und viele schiitische Politiker*innen kommen und es verdeutlicht, wieso sie es kurzerhand schaffen ein solches anti-Establishment-Image zu haben, was ihnen wiederum ermöglicht mit der kommunistischen Partei ein halbwegs harmonisches Bild abzugeben. Der Kampf gegen den Baathismus, gegen die US-Invasion, gegen implantierte irakische Eliten an der Macht, gegen iranische Einflüsse und gegen Korruption ist das, was Sadr immer wieder beschwört.

Besonders in den Jahren um 2005 schaffte Sadr es viele politikverdrossene Jugendliche des Irak, beispielsweise aus dem Arbeiterviertel Baghdads zu mobilisieren, was kurzerhand in „Sadr City“ umbenannt wurde.

Mehr als eine militante Gegenbewegung zum Establishment ist Sadr jedoch nicht und stellt eine verborgene Gefahr dar. Während er von sich behauptete, anders als sein Widersacher Ammar al Hakim nie im Iran gewesen zu sein, war er nach seinem Konflikt mit dem ehemaligen Ministerpräsidenten Nuri al Maliki im Jahre 2006 selbst im iranischen Exil und kam aus diesem mit der dubiosen Forderung nach dem Ende der iranischen Einflussnahme zurück.

Es wird also deutlich: Sadr ist gegen vieles aber es ist weder klar, ob er wirklich gegen diese Dinge ist, noch wofür er eigentlich ist. Wem das eine ausreichende Basis für eine Koalition ist, an der etwas kommunistisches teilnehmen sollte, ist an reaktionärer Verblendung nicht mehr zu übertreffen.

Desweilen hört man sogar, dass die Ergebnisse gut seien, da sie eine breite Masse ansprächen. Dem ist mitnichten so. Während der gemäßigten Freudensprünge spricht kaum einer darüber, dass nur 44% der Population des Irak an den Wahlen teilgenommen haben, was die geringste Beteiligung seit dem Ende Saddams ist und zudem massenweise Berichte über Wahlbetrug öffentlich gemacht wurden. Besonders in Mosul und Kirkuk, den Kesseln der irakischen Konflikte, sind besonders viele solcher Meldungen aufgekommen.

Dass es nun auf eine Koalition zwischen dem ehemaligen Ministerpräsidenten Haider al Abadi und Sadrs Liste hinauslaufen wird, ist hoch wahrscheinlich. Dass die kurdische Seite sich gut daran tut gegen weitere türkische Eingriffe in Kandil und Shengal den diplomatischen Weg nach Baghdad aufzusuchen, ist vollkommen klar. Dass aber diese ersten diplomatischen Schritte dazu führen, dass der kurdische Dialog in Bashur vollkommen ins Stocken gerät, eine Auseinandersetzung mit der kurdischen Opposition ausbleibt und diese gesamte Wahl ausschließlich aus reaktionären und opportunistischen Blickwinkeln analysiert wird, ist ein Armutszeugnis für den „kleinsten gemeinsamen kurdischen Nenner“, den kurdische Politik haben sollte.

Gerade dieser kleinste gemeinsame kurdische Nenner sollte sich nicht immer als Nationalismus verschreien lassen, sondern sollte ein politisch-analytischer Versuch sein gerade solche komplizierten Situationen kritisch zu hinterfragen, unliebsame Allianzen zu bedenken und im Notfall in Erwägung zu ziehen, dabei aber den größeren kurdischen Kontext nicht zu vergessen.

All diejenigen Kleriker, die jetzt als Freunde des Föderalismus und als Gegner der Spaltung von manchen kurzsichtigen Linken gefeiert werden, waren diejenigen, die die Jahre des Aufschwungs in Südkurdistan mit Drohungen und Sanktionen zu stoppen versuchten und sich in ihrer Verschwörungsrhetorik kaum von den Baathisten unterschieden, die Kurd*innen zuweilen als „Juden des Irak“ bezeichneten. Dass diese Gruppen aufgrund der Kurzsichtigkeit der links-kurdischen Analyse nun als „weniger schlimmes Übel“ im Vergleich zur KDP und zur YNK gehandelt werden, ist ein politischer Fehlschluss und vollkommen unangebracht.

Dass viele kurdische Parteien ihre Existenz der Spaltung des kurdischen Volkes als marginalisierte Masse zu verdanken haben, ist klar. Dass wir jedoch als Aktivist*innen diese Spaltung weiterführen, indem wir unsere Analysen auf kurzsichtige Freund/Feind und Feindes-Feind=Freund-Schemata belassen, ist nur Öl auf das Feuer der nun seit mehr als hundert Jahren anhaltenden Politik gegen das kurdische Volk. So schreibt ein kommunistisches Onlinemagazin: „Der überraschende Wahlsieg von Sayirun mit Muqtada al-Sadr als die starke Figur und den Kommunist*innen als Bündnispartner hat den etablierten Kräften des Irak sowie den USA und dem Iran einen Schock versetzt.“ Dass das Auslösen von Schocks aber kein Mittel zum Zweck sein sollte, ist selbsterklärend. Solange Bündnisse mit groben Antikorruptionsagenden blind unterstützt werden, kann nicht die Rede davon sein, dass eine wirkliche pro-kurdische Arbeit daraus automatisch folgt. Korruption, das gibt es in Baghdad und in Erbil. Das Problem des mangelnden Status der Kurd*innen sowie der militanten Herangehensweisen an die umstrittenen Gebiete zwischen Baghdad und Erbil wird so jedoch nicht gelöst. Durch den alleinigen Fokus auf diese Agenda wird die Kurdenfrage zu einer Fußnote, während es doch eigentlich deren Lösung ist, die eine weitgehende Demokratisierung und Dezentralisierung ermöglichen kann.

Die Wahlen zeigen: Es wird komplizierter und es wird undurchsichtiger. Unangenehme Koalitionen müssen eingegangen werden, um Horrorszenarien wie den Einfall der Türkei zu verhindern. Solche Koalitionen sollten einen jedoch nicht dazu zu bringen kommunistische Parteien zu verherrlichen, die mit schiitischen Hardlinern und Milizionären gemeinsame Sache machen. Ja, der Mittlere Osten braucht oft Realpolitik, das müssen wir besonders ideologischen Hardlinern erklären, die weiterhin das Anwenden theoretischer Konstrukte als wichtiger erachten, als die realpolitische Lösung von Problemen in Regionen, in der viele Annahmen derselben Theorie nicht erfüllt sind. Bei all dieser Realpolitik sollte ein Minimum an politischem und kurdischem Ideal nicht fehlen. Die kurdische Frage bleibt weiterhin eine, die parteiübergreifend als distinktes Problem betrachtet werden sollte. Nicht die kurdische Frage sollte ich der Theorie anpassen, sondern die Theoriefindung sollte vielmehr versuchen reale Probleme und Widersprüche zu erkennen. Daran scheitert jedoch die kommunistische Theorie, wenn sie den besagten Schulterschluss der Kommunistischen Partei des Irak aus reaktionären Gründen gutheißt und damit die Folgen in der kurdischen Frage ignoriert.

Es sei nicht zu vergessen, dass fast all diejenigen in dieser Partei weiterhin am künstlichen Nationalstaat Irak festhalten und reihum gegen das Referendum sowie jegliche kurdische Selbstbestimmung waren. Bei aller Zusammenarbeit der feudalen Herrscher Südkurdistans sollte nicht vergessen werden, dass es im Oktober 2017 Zivilist*innen und keine Parteischergen waren, die in Kirkuk, Tuz Khurmatu und Khanaqin von irakischen Panzern angegriffen wurden, eben weil das kurdische Volk sein Recht zur Selbstbestimmung wahrgenommen hat, unabhängig vom politischen Kalkül, das die Initiatoren des Referendums verfolgten.

Kurdische Solidaritätsarbeit und Informationsarbeit kann in diesem Kontext also nicht fortgeführt werden, solange die Solidarität nur so weit reicht, wie das eigene ideologische Spektrum reicht. Eine solche Praxis ist fahrlässig und gefährlich.