Geopolitische Interessen in Syrien und Westkurdistan

syrienErdal Rojbin, 10.01.2013

Um die geopolitischen Interessen der internationalen und regionalen Hegemonialmächte in Syrien aufzeigen zu können, gilt es einen kurzen historischen Abriss der jüngeren Entwicklung Syriens zu zeichnen. Nach dem Militärputsch 1963 gelangte die Baath-Partei erstmalig an die Macht. Dem vorausgegangen war ein weiterer Putsch zwei Jahre zuvor, der ein Ende der 1958 zusammen mit Ägypten proklamierten Staatenvereinigung „Vereinigte Arabische Republik“ zur Folge hatte. Trotzdem hatten die guten Beziehungen zu Ägypten mit seinem charismatischen Herrscher Gamal Abdel Nasser weiterhin Bestand, was in der panarabischen Ausrichtung der Ideologie der Baath-Partei seinen Ausdruck fand.

Wirtschaftlich versuchte sich die Baath-Partei, in der 1970 Hafiz al-Assad an die Spitze rückte, an einer staatlich gelenkten Planwirtschaft. Entgegen den Erwartungen des syrischen Staates konnte, trotz Investitionen in Infrastruktur und Industrie, kein Wirtschaftssystem entwickelt werden, das in der Lage war, die Staatsausgaben zu decken. Somit konstituierte sich Syrien als Rentierstaat(1), um seine defizitäre Ökonomie zu kompensieren. Die Renten setzten sich hauptsächlich aus Zahlungen von Staaten aus der Region zusammen. Dementsprechend gestaltete Syrien auch seine Außenpolitik.

Zum einen leistete die Sowjetunion, an deren Seite sich Syrien im Rahmen des Kalten Krieges positionierte, erhebliche Militärhilfe. Zum anderen profitierte Syrien von finanziellen Leistungen einiger arabischer Staaten aus der Region. Insbesondere Saudi-Arabien unterstützte Syrien lange Zeit in seiner Rolle als letzter Widerstand gegen Israel leistender Frontstaat, Syrien wiederum die neue Islamische Republik Iran in ihrem Konflikt mit dem Irak. Während der Kriegsphase (1980–88) konnte Syrien somit von hohen Renten aus dem Iran profitieren. Obwohl es sich bei seinem östlichen Nachbarn Irak um den neben Syrien einzigen Staat im Mittleren Osten handelte, in dem ebenfalls die Baath-Partei an der Macht war, bestanden seit jeher große Differenzen zwischen ihnen. Beide Staaten zeigten eine für die Region symptomatische Äquivalenz. Konfessionelle Minderheiten mit ausgeprägter Präsenz im Militär bildeten die neuen Machteliten.

Da die Politik Syriens äußerst konjunkturabhängig war, blieb es nur eine Frage der Zeit, bis dieses labile Gerüst in sich zusammenfiel. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion (1989), dem Ende des irakisch-iranischen Krieges (1988) und dem Beginn der Osloer Friedensverhandlungen zwischen Israel und der PLO (1993) klangen die Renteneinnahmen Syriens durch Leistungen anderer Staaten aus.
Mit dem Tode Hafiz al-Assads und dem Machtübergang auf seinen Sohn Bashar öffnete sich Syrien wirtschaftlich etwas. In dessen Folge kam es im Rahmen des Barcelona-Prozesses(2) erstmalig zu Handelsabkommen mit der Europäischen Union. Diese zeigte größere Präsenz in der Region des Mittleren Ostens, die bis dahin wirtschaftlich unter der Domäne der USA gestanden hatte. Auch Russland, das sich so langsam von der Wirtschaftskrise nach dem Zerfall der Sowjetunion erholte, unternahm Anstrengungen, erneut als Global Player in der Region Fuß zu fassen. Infolge dessen wurden die alten syrischen Schulden aus Sowjetunion-Zeiten großenteils getilgt und neue Wirtschafts- und Militärabkommen mit einem Volumen von 13,4 Milliarden US-Dollar(3) (2005) abgeschlossen.

Aus diesen Zahlen wird ersichtlich, wie das Interesse Russlands an Syrien an Bedeutung gewonnen hat. Neben den enormen wirtschaftlichen Investitionen dürfte Russland wohl wenig daran gelegen sein, den USA die Kontrolle über einen weiteren Teil des Mittleren Ostens zu überlassen. Zwar verfügt Syrien selbst über keine sonderlich reichen Bodenschätze, seine Bedeutung liegt jedoch in seiner geopolitischen Lage. Umgeben von krisengeschüttelten Staaten findet Syrien bei fast allen internationalen und regionalen AkteurInnen ein besonderes Interesse. Dabei können die InteressentInnen drei wesentlichen Blöcken zugeordnet werden. Zum einen wäre da der US-geführte Block, den ebenfalls die westlichen Staaten unterzuordnen sind. Zudem bilden die beiden Golfanrainer Katar und Saudi-Arabien einen separaten Block, dem derzeit auch der nördliche Nachbarn Syriens, die Türkei, zuzurechnen ist. Demgegenüber steht der Dreierblock Russland, China und Iran. Die ersteren beiden, deren Wirtschafts- und Außenpolitik miteinander korreliert, machen weiterhin von ihrem Vetorecht im UN-Sicherheitsrat Gebrauch.

Für den Iran birgt ein Zerfall des Assad-Regimes eine größere Gefahr. Die imperialen Hegemonialmächte würden sich nach dem Sturz des Regimes in Damaskus dem Vielvölkerstaat zuwenden. Im Rahmen des „Greater Middle East Project“ droht ihm eine ähnliche Spaltungsgefahr wie im Beispiel Irak. Der ist heute de facto dreigeteilt. Bezeichnend sind die Bestrebungen der westlichen Mächte, u. a. in der belutschischen Bevölkerungsgruppe die Sezessionsgedanken zu stärken. Zwar beträgt der Anteil der BelutschInnen an der Gesamtbevölkerung des Iran nur zwei Prozent, doch umfasst ihr Siedlungsgebiet einen großen Teil des südwestlichen iranischen Staatsterritoriums. Darüber hinaus leben die 5,6 Millionen BelutschInnen an der südlichen Grenze zu Afghanistan und im südwestlichen Pakistan. Überdies würde der Iran, der mit der Türkei um die Hegemonie in der Region konkurriert, seinen Einfluss auf den Libanon verlieren, der lange Zeit unter syrischer Kontrolle stand. Was die Gefahr eines überstaatlichen Konfessionskrieges zwischen Angehörigen der schiitischen und der sunnitischen Glaubensrichtung birgt. Dabei würden sich die AlawitInnen, die in Syrien als zwanzigprozentige Minderheit die Machtelite, vor allem im Militär, prägen, an der Seite der SchiitInnen gegen die SunnitInnen positionieren. Die aktuellen Spannungen im Irak, der aktuell de facto in drei geteilt ist, lassen die katastrophalen Auswirkungen eines solchen Konfessionskrieges vermuten.

Die Hamas hat im Zuge dieser Kräfteverschiebungen in der Region und hinsichtlich der immer mehr an Bedeutung gewinnenden konfessionellen Identität scheinbar schon die Seiten gewechselt. Galt bis vor kurzem noch der Iran als ihr größter Unterstützer, scheint eine sich fortan intensivierende Annäherung an die Türkei absehbar. Ebenso ist ihr Hauptsitz von Damaskus nach Doha verlegt worden. Mit 250 Millionen US-Dollar reiste der Emir von Katar nach den Auseinandersetzungen zwischen Hamas und Israel in den Gaza-Streifen. Diese Geste sollte statt als Fürsorge für die palästinensische Bevölkerung als Bestrebung verstanden werden, den Iran weiter zu isolieren. Neben Katar setzt auch Saudi-Arabien immense Summen ein, um islamistische Gruppierungen im Bürgerkrieg in Syrien zu unterstützen. Dabei ist das Interesse der beiden Golfmonarchien weniger auf konfessionelle Erwägungen gestützt, als dass sie demokratische Entwicklungen im Nahen und Mittleren Osten scheuen. Denn diese könnten einen Effekt auf die Bevölkerung in den eigenen Ländern haben, die zu den undemokratischsten Staaten der Welt gehören. Dem sind die jeweiligen Herrscherfamilien bestrebt entgegenzuwirken. So erfährt beispielsweise die dschihadistische Al-Nusra-Front militärische und finanzielle Hilfeleistungen von den beiden Ölmonarchien. Konzentrierte sich ihr Operationsgebiet bislang hauptsächlich auf Heleb (Aleppo) und Damaskus, sind seit November ebenfalls Angriffe in den kurdischen Gebieten Syriens zu registrieren.

Auffällig dabei war, dass die Angreifer von der Al-Nusra-Front über die Türkei, die kurz zuvor das Grenzgebiet von Minen bereinigt hatte, nach Westkurdistan und Syrien einsickerten. Die Türkei setzt nicht erst seit der parlamentarischen Bewilligung grenzüberschreitender Operationen auf eine Aggressionspolitik gegenüber Syrien. Bereits im letzten Frühjahr hatte sie nach Istanbul zur sogenannten Konferenz der FreundInnen Syriens geladen. Dem war am 23. August 2011 die Gründung des Syrischen Nationalrats (SNC) vorausgegangen, dessen Hauptsitz ebenfalls in Istanbul liegt und der die Oppositionskräfte in Syrien vereinigen sollte. Dabei ist die Türkei weniger daran interessiert, den Demokratisierungsprozess in Syrien voranzutreiben. Vielmehr geht es ihr darum, einer möglichen kurdischen Autonomie entgegenzuwirken. Bezeichnend für die opportunistische Haltung der Türkei sind die Äußerungen ihres Ministerpräsidenten. Erdogan hatte nur acht Monate, bevor er Bashar al-Assad als Tyrannen betitelte, ihn noch als seinen Bruder bezeichnet. So wurde der SNC zwar finanziell und politisch unterstützt, jedoch nur unter der Bedingung, weder die kurdischen Parteien miteinzubeziehen noch die Rechte der KurdInnen anzuerkennen. Nach der Gründung der Nationalen Koalition der Syrischen Revolutions- und Oppositionskräfte am 11. November 2012 spielt der SNC, der die Erwartungen der ausländischen Mächte bei weitem verfehlt hat, nur noch eine untergeordnete Rolle. Die Verlegung des Hauptsitzes der Syrischen Nationalen Koalition nach Doha steht symbolisch für den Einflussverlust der Türkei, die daher nun versuchen wird, islamistische Söldner in die kurdischen Gebiete zu beordern, wie dies bereits im Grenzdistrikt Serê Kaniyê (Ras al-Ayn) zu sehen war.

Einen Monat nach ihren Präsidentschaftswahlen gaben die USA im Dezember die Anerkennung der neuen syrischen Nationalen Koalition als einziger legitimer Vertretung bekannt. Dem waren die Anerkennung Großbritanniens, Frankreichs und der Arabischen Liga vorausgegangen. Verhielten sich die USA für ihre Verhältnisse bis dato eher passiv, fallen nun vermehrt Stimmen aus Regierungskreisen auf, die den Sturz des Assad-Regimes fordern. Zwar war die Rücksicht auf die Präsidentschaftswahlen im November mit ein Grund für ihre Zurückhaltung, doch spielten dabei andere Aspekte ebenfalls eine entscheidende Rolle. Die unerwarteten Entwicklungen der Afghanistan- und der Irakinvasion ließen sie ein allein militärisches Vorgehen in Anbetracht der immensen Militärausgaben, die aufgrund innenpolitischen Drucks gekürzt werden sollen, eher noch einmal überdenken.

Dazu kommt die Blockade Russlands und Chinas im UN-Sicherheitsrat als eine weitere Ursache. Das Vorgehen der USA könnte jedoch auch als Taktik interpretiert werden. Denn zeitgleich mit der härter wirkenden Rhetorik der USA gegenüber dem syrischen Regime sind von russischer Seite mittlerweile sanftere Töne zu vernehmen. Die russische Führung erklärte in ihren letzten Statements, einen Regimewechsel nicht mehr vollkommen auszuschließen. Das Regime von Damaskus verdankt seine Existenz, neben der alawitisch geprägten Elite in Militär und Staatsbürokratie, vor allem der militärischen und finanziellen Unterstützung Russlands. Dabei gilt anzumerken, dass dieser Bürgerkrieg immense Kosten mit sich bringt. Diese sind bisher durch die Staatsreserven, die mit der Hilfe der russischen Banken ausgezahlt werden konnten, gewährleistet worden. Doch sind sie so gut wie aufgebraucht. Daher stellt sich die Frage, ob Russland das Regime in Damaskus weiterhin unterstützen wird. Falls ja, würden sich die Ausgaben Russlands im Syrienkonflikt drastisch steigern. Definitiv ist jedoch, dass Russland so lange nicht vom Assad-Regime ablassen wird, wie seine Interessen nicht befriedigt sind.

Angesichts dieser Konstellation wirkt folgendes Szenario realistischer: Russland und die USA werden sich zusammensetzen, ihre gegenseitigen Interessen abwägen und zu einem Konsens finden. Zumindest lassen die aktuellen Entwicklungen in Syrien darauf schließen. Denn derzeit lässt sich dort ein ähnliches Szenario beobachten wie nach dem Sturz Saddams im Irak. Die politisch einflussreichsten Mächte haben die syrische Nationale Koalition anerkannt, welche die Übergangsregierung bilden soll.
In dieser Übergangsregierung soll nun auch den KurdInnen Platz eingeräumt werden. Nachdem sie auf türkischen Druck zunächst aus sämtlichen Oppositionsgebilden ausgegrenzt worden waren, wurde ihnen nun der Platz des stellvertretenden Regierungschefs in der Übergangsregierung angeboten. Außerdem würden die Rechte der KurdInnen verfassungsrechtlich garantiert werden. Das versicherten zumindest die VertreterInnen der Nationalen Koalition den VertreterInnen des Kurdischen Hohen Rates bei Gesprächen Anfang Dezember.

Obwohl die kurdische Identitätsgruppe mit etwa 15 Prozent der Gesamtbevölkerung nur die drittgrößte nach der sunnitisch- arabischen und der alawitisch- arabischen stellt, zählt sie zu den bestorganisierten in Syrien. Die KurdInnen haben sich weder auf die Seite der Freien Syrischen Armee (FSA) noch auf die des Assad-Regimes geschlagen, dessen Repression sie wohl am meisten zu spüren bekommen hatten. Sie haben ihren eigenen unabhängig errichteten dritten Weg gewählt. Den formulierten sie als Demokratische Autonomie. Nach gewaltfreien Revolten der Bevölkerung Westkurdistans sind die Angehörigen des Assad-Regimes dort aus den meisten Städten vertrieben worden. Die Administration wird seitdem von den neuerrichteten Volksräten geführt.

Dieser Revolution im Westen Kurdistans ging eine jahrzehntelange Basisarbeit in der Bevölkerung voraus, die auf die kurdische Befreiungsbewegung zurückzuführen ist, die sich seit 1979 in Westkurdistan zu formieren begonnen hatte. Dabei sprechen sich die KurdInnen offen gegen eine Sezession von Syrien aus, zudem warnen sie vor ethnisch und konfessionell begründeten Auseinandersetzungen. So äußerte Salih Muslim, Co-Vorsitzender der größten kurdischen Partei in Syrien, der Partei der Demokratischen Einheit (PYD): „Wir müssen unseren Widerstand auf eine Art und Weise führen, dass sich, wenn das Assad-Regime abgelöst ist, die Völker weiterhin in die Augen schauen können.“

Die Demokratische Autonomie könnte als Lösungsmodell für die Gesellschaften des gesamten Mittleren Ostens fungieren. Entgegen der zentralistischen Ausrichtung der Nationalstaaten funktioniert ihr System dezentral und jenseits der willkürlich gezogenen Grenzen des Nahen und Mittleren Ostens. Über ethnische und konfessionelle Unterschiede hinweg organisiert sich die Bevölkerung in Volksräten, die von der Basis aus agieren. Die Einflusssphäre des Staates wird auf ein Minimum beschränkt. Somit wird der partizipativen Demokratie der größtmögliche Raum geboten. Dieses politische System würde selbstverständlich ein zentralistisch gelenktes, oligarchisches Herrschaftsmodell verunmöglichen. Daran dürften allerdings wohl weder die regionalen Herrscher- noch die imperialen Weltmächte interessiert sein, die mit dem Stützen dieser Herrschaft ihren Einfluss und Profit in der Region wahren. Folglich werden sie alles daran setzen, um den Einfluss der Demokratischen Autonomie einzudämmen. Doch lässt sich gespannt abwarten, ob die rapide Entwicklung der Demokratischen Autonomie in den kurdischen Gebieten auch auf die anderen Regionen des Mittleren Ostens übergreifen wird.

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(1)Als Rentierstaaten werden Staaten bezeichnet, deren Einnahmen zum Großteil aus Renten bestehen. Als Renten gelten sämtliche Staatseinnahmen, die nicht auf Steuern basieren. Die Staaten des Mittleren Ostens beziehen ihre Renten überwiegend aus Öleinnahmen und Zahlungen anderer Staaten.
(2)Der Barcelona-Prozess bezeichnet das Fundament der institutionalisierten Beziehungen der Europäischen Union (EU) zu ihren Nachbarländern im südlichen Mittelmeerraum in Form von Handels-, Kooperations- oder „euro-mediterranen“ Abkommen.
(3)Siehe Marcus Eckelt: Syrien im internationalen System: Die Politische Ökonomie des syrischen Ba’th-Regimes vor und nach der doppelten Zäsur 1990, 2011.

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