Gewalt und Diktatur in der mittelöstlichen Zivilisation

Abdullah Öcalan über die Befreiung der mittelöstlichen Gesellschaft von der Gewalt, 12.07.2018

Obwohl wir sie bereits im Zusammenhang mit dem Staat behandelt haben, müssen wir die Staatsform und die Frage der Gewalt noch einmal intensiver analysieren. Das Wesen des Staates ist im Allgemeinen überall dasselbe. Er repräsentiert eine Tradition, die auf die Aneignung des Mehrprodukts und des Mehrwerts aufbaut. Was die Form angeht, so präsentiert er sich je nach Ort und Zeit höchst variabel. So entstehen viele verschiedene Formen des Staates. Trotzdem stechen im direkten Vergleich von Orient und Okzident zwei Haupttendenzen ins Auge. Im Westen trifft man öfter auf republika­nische und demokratische Formen, im Osten hingegen ist die Hauptform des Staates der Despotismus.

In Europa begegnen uns Republiken sowohl im sklavenhalterischen Sys­tem des klassischen Altertums als auch in einigen Stadtstaaten des Mittel­alters, und in der Neuzeit sind sie noch häufiger. Der Hauptunterschied zwischen Republik und Despotie liegt auf dem Feld des Rechts. In der An­tike spielen zwar in beiden Staatsformen Sklaven besitzende Oberschichten eine Rolle, jedoch gelten im Republikanismus Regeln, die das Ergebnis in­tensiver sozialer Kämpfe sind. Dort existiert eine dynamische Sozialstruktur. Jeder weiß um Recht und Gesetz. Nötigenfalls verteidigt man sein Recht mit Gewalt.

Während die Republik eine dynamische Gesellschaft darstellt, gilt für den Despotismus das genaue Gegenteil. Eine Person zwingt der Gesell­schaft ihre willkürlichen Regeln auf. Das gilt in ähnlicher Weise auch für Monarchien. Der Unterschied bei ihnen ist, dass sie auf Dynastien beru­hen und es Traditionen und Regeln dafür gibt, wer Monarch wird. Die Regeln für die Staatsführung beruhen auf Traditionen. Hin und wieder kommt es zu chaotischen, außergewöhnlichen Situationen. Dann kommt entweder eine neue Dynastie an die Macht, oder die alte ändert die Regeln und regiert weiter. Die Regeln des Despotismus hingegen sind nur aus sich selbst begründet. Der Despot erlässt willkürlich Regeln und kann sie ebenso willkürlich wieder ändern. Die Monarchien des Mittleren Ostens weisen große Nähe zum Despotismus auf. Die fermanname genannten Erlasse des Osmanischen Reichs waren im Grunde nichts anderes als despotische Ge­bote. Wenn ihnen auch Gesetzesrang zugebilligt wurde, so hatten sie doch mit dem Recht, das das Ergebnis sozialer Kämpfe darstellt, nichts gemein.

Eine wieder andere Form ist die Diktatur. Sie ist Vorbedingung oder Prototyp für Imperien. Es regiert eine Person oder eine kleine Gruppe von Personen, die von der politischen Elite mit außergewöhnlichen Vollmachten ausgestattet worden ist. Der Unterschied zwischen Diktator und Despot ist der, dass ersterer einer stärkeren Kontrolle seiner Umgebung unterliegt. Es gab immer eine Gruppe, der der Diktator Rechenschaft ablegen musste. Während ein Imperium ein dauerhaftes Regime ist, ist die Diktatur ein vorübergehendes Mittel, zu dem in Ausnahmesituationen gegriffen wird. Die mittelöstliche Staatsform ist zwar dem Despotismus sehr nahe, ebenso aber auch der Monarchie und dem Imperium. Insofern können wir sagen, dass in der Person des mittelöstlichen Staatsoberhaupts Despotismus, Mon­archie und Imperium zusammenfließen. Daraus ergibt sich der enorme Einfluss eines solchen Staatsoberhaupts. Er setzt sich selbst mit dem Staat gleich. Vielleicht ist diese Institution des mittelöstlichen Staatsoberhaupts der stärkste und intensivste Ausdruck von Willen überhaupt. Das hängt auch mit dem Wesenskern des Staates zusammen. Die mächtigen Traditio­nen von Patriarchat, Scheichtum, Adel und den „feinen Herren“ (efendi) fließen im Staatsoberhaupt zusammen und entfalten dort ihre größte Macht. Daher ist es in den mittelöstlichen Staaten so schwer, republikanische und demokratische Formen zu finden – und sei es auch nur als Ausnahme.

Der Staat zeigt hier ungeschminkt sein Wesen. Außerdem hält er es für politisches Geschick und für eine Tugend, das immer gleiche Image des Staates unverändert fortzuführen. Ein Hindernis für die Entwicklung des Republikanismus stellt auch die Tatsache dar, dass sich die Auffassung von König und Staat als göttlichen Wesen über Jahrhunderte in das Gedächtnis der Gesellschaft gebrannt hat. Dass sich menschliche Untertanen in die An­gelegenheiten des göttlichen Staates einmischen, widerspricht der Tradition. Es gilt als Todsünde, Gott – dem Staat – ins Handwerk zu pfuschen. In den heiligen Schriften kommt dieses Motiv häufig zur Sprache: „Misch Dich nicht in die Angelegenheiten Gottes ein, fordere keine Rechenschaft von Gott, du sollst keine anderen Götter neben ihm haben.“ Es handelt sich um die religiös verbrämte Aussage: „Misch dich nicht in die Angelegenheiten des Staatsoberhaupts ein, fordere keine Rechenschaft von ihm, du sollst keine Kompetenzen erhalten.“ Es gibt die These, die Heilige Schrift sei im Grunde entstanden, um im Stamme der Hebräer einen Herrscher zu etablie­ren. Diese These hat einiges für sich. Es heißt sogar, Moses sei ein Prinz von Ägypten gewesen. Insofern wäre verständlich, dass er seine Vorstellungen von Herrschaft in der Thora wiedergibt.

Jesus wurde mit der Begründung verhaftet, er wolle in Jerusalem, das er „Tochter Zion“ nennt, das Königtum an sich reißen. Noch offener wird im Koran formuliert. Die Suren und Verse in der Form „Du sollst keine anderen Götter neben ihm haben, misch dich nicht in die Angelegenhei­ten Gottes ein, Gott fordert von jedem Rechenschaft und legt niemand gegenüber Rechenschaft ab“ bereiten bewusst oder unbewusst den Weg für Staatschefs wie Sultan, Padischah und Emir. In dieser Hinsicht ist der Koran die Deklaration eines Staates. Mit außergewöhnlichem Weitblick skizziert und deklariert er eine Führungsweise, als wolle er die Staatsführung für die nächsten Jahrhunderte festlegen. Die politische Theorie des Koran grund­legend zu analysieren, könnte zu interessanten Ergebnissen führen. Der Zusammenhang zwischen der Position der umma, also der Gemeinschaft der Gläubigen als den Untertanen Allahs, und den Untertanen des Staates ist ganz offensichtlich und sehr bezeichnend. Die religiösen Deklarationen des gesamten Mittelalters in Islam und Christentum aber auch im Fernen Osten, beispielsweise in China und Indien, erscheinen so als Vorboten des neuen Staates. Was im Namen Gottes verkündet wird, ist nichts anderes als die Geschichte von Geburt und Aufstieg des mittelalterlichen Staates.

Den heutigen mittelöstlichen Staat von seinem despotischen Charakter zu befreien, ist eine sehr schwierige, aber notwendige Aufgabe. Zwar mag es heute ein paar Staaten geben, die das Wort „Republik“ im Namen tragen, doch kann man kaum behaupten, dass sie ihre despotischen Qualitäten abgelegt hätten. Republikanismus erfordert nämlich einen Konsens zwischen den Klassen. In der gesamten Geschichte des Mittleren Ostens gab es aber in keinem einzigen Land einen durch Konsens entstandenen Verfassungsstaat oder eine Republik. Regime, die auf dem Willen einer einzigen Person beruhen, sind mit der Republik unvereinbar. Das ist unabhängig davon, ob diese Person nun progressiv oder reaktionär ist. In einer Republik ist nicht eine Person entscheidend, sondern die Harmonie oder der Kompromiss zwischen den Willensäußerungen vieler Personen, die gleich mächtig sind. Gründe dafür, dass dem hierzulande nicht so ist, sind die Schwäche der gesellschaftlichen Klassen, denen es nicht gelingt, einen politischen Willen zu formulieren, die traditionelle Untertanenhaltung gegenüber dem Staat und die Tatsache, dass es keinerlei republikanische Traditionen gibt, auf denen man aufbauen könnte. Wer für demokratische und republikanische Politik eintritt, muss sich bewusst machen, dass keiner der Staaten des Mittleren Ostens seinen despotischen Charakter abgelegt hat, wie sehr sie sich auch voneinander unterscheiden mögen.

Unbedingt analysieren müssen wir auch die Kultur der Gewalt in der mittelöstlichen Zivilisation. Man kann sagen, dass die Gewalt in alle Po­ren der mittelöstlichen Gesellschaft gedrungen ist und es keine Institution gibt, die nicht von ihr bestimmt würde. Die Annahme, Gewalt stelle einen entscheidenden Faktor in den politischen, gesellschaftlichen und sogar öko­nomischen Strukturen dar, trifft nirgends so genau zu wie in Basis und Überbau der mittelöstlichen Gesellschaft. Man wird schwerlich eine Insti­tution finden, die nicht durch Gewalt geprägt ist. Macht und Gewalt sind hier wie eineiige Zwillinge.

Es erscheint sinnlos, in der Diskussion über Gewalt auf Thesen aus der Biologie oder über die Natur zurückzugreifen. Gewalt hat ihre Wurzeln ganz offensichtlich in der Gesellschaft. Ebenso offensichtlich ist ihr Zusammen­hang mit der Herausbildung von Klassen und Staaten auf der Grundlage von Mehrprodukt und Mehrwert. Das scheint in den Sozialwissenschaften eine allgemein akzeptiere Auffassung zu sein.

Bemerkenswert im Zusammenhang mit Gewalt ist, wie wenig darüber ausgesagt wird. Obwohl sie in allen Gesellschaften, die mit Macht Bekannt­schaft gemacht haben, eine entscheidende Rolle spielt, wird sie behandelt wie eine Ausnahmeerscheinung. Kaum einmal wird je gesagt, dass Kriege, die ja der konzentrierteste Ausdruck von Gewalt sind, im Tierreich über­haupt nicht vorkommen. Stattdessen werden immer neue Vorwände dafür erdacht, warum sie notwendig sein sollten. Die einzige legitime Begründung für Krieg ist die Selbstverteidigung, Bewahrung und Befreiung der eigenen Existenz. Kriege nicht deswegen, sondern zum Raub und zur Plünderung gesellschaftlich zusammengetragener Werte und wegen des Strebens nach Souveränität und dauerhafter Staatsmacht zu führen, dient lediglich dazu, die Gesellschaft zu beherrschen und sie nach den eigenen Interessen zu formen. Diese einfache und verständliche Tatsache soll mit Hilfe abstru­ser Vorwände und falscher Definitionen vertuscht werden. Wohl nichts ist öfter falsch dargestellt worden als die wahren Ursachen von Macht und Gewalt. Mythologie, Religion, Philosophie und zuletzt die so genannten Sozialwissenschaften verzerren und verbergen es: Gewalt ist inhuman, sie ist die grausamste Handlung der Parasiten, welche die Gesellschaft beherrschen und ausbeuten.

Diese Definition gilt ganz allgemein, aber für die gesellschaftliche Realität des Mittleren Ostens ist sie umso treffender. Redensarten wie „Schläge kommen aus dem Paradies“ und „Gewalt ist süßer als Honig“ beschreiben ganz richtig, wo die Gewalt herkommt – denn das Paradies ist die Insel der Herrschenden. Die Gewalt ist hierzulande entscheidend dafür, dass die Gesellschaft verkrüppelt und eingeschnürt ist. In allen hierarchischen und etatistischen Gesellschaften beruht der Status quo auf Gewalt, die Institutionen werden durch Panzer geschützt. Eine Institution, die nicht Teil der Gewaltspirale wird, kann unmöglich überleben.

Dass sich unter diesen Bedingungen keine freie Gesellschaft und keine zivilen Institutionen entwickeln können, liegt auf der Hand. Selbst neue Ide­en werden erst dann akzeptiert, wenn sie sich mit Gewalt Geltung verschafft haben. In einer solchen Atmosphäre kann kreatives Denken nicht gedeihen. Alle Angelegenheiten werden mit anerkannten Worthülsen geregelt. Die Chefs in Staat und Familie wissen ganz genau, dass ihre Stärke auf ihrer Autorität und ihrer Gewalt beruht. Wenn es heißt, „macht Euch die Erde Untertan“, so ist die Rede von der Gewalt als Mittel dazu. Die Gewalt, die in alle Poren der Gesellschaft eingesickert ist, lässt der Kraft des Verstehens wenig Raum. Daher existieren die gesellschaftlichen Institutionen nur pro forma. Weil das Verstehen außen vor bleibt, besteht die Gesellschaft aus Institutionen, die alles andere als kreativ sind und sich nur regen, wenn sie von außen angetrieben werden. Dass man nicht damit rechnen kann, dass sich eine solche Gesellschaft frei entwickelt, liegt auf der Hand.

Die traditionelle Gewaltanwendung in der Gesellschaft ist in der Familie als ihrer kleinsten Untereinheit noch erdrückender. Insbesondere gegen die Frau herrscht ein unsichtbarer Kriegszustand. Die Frau lebt in einem Zustand permanenter Angst vor der Gewalt. Das gleiche gilt für die Kinder. Gewalt ist die grundlegende Methode der Erziehung. Von einem Kind, das durch Gewalt erzogen worden ist, kann man natürlich nur erwarten, dass es zu denselben Mitteln greift, sobald es groß geworden ist. Auf Herr­schaft durch Gewalt ist man stolz, sie erzeugt Lust und ein Selbstwertgefühl. Das Gefühl von Stärke, welches auf Macht und Gewalt beruht, müsste als hochgefährliche gesellschaftliche Krankheit eingestuft werden. Stattdessen präsentiert es sich als ein erhabenes und gutes Gefühl. So wird etwas als Tugend gepriesen, das eigentlich verflucht gehört.

Keine der heutigen gesellschaftlichen Institutionen des Mittleren Ostens ist ohne Gewalt vorstellbar. Als staatliche Gewalt, innerfamiliäre Gewalt, Gewalt revolutionärer Organisationen, faschistische, nationalistische oder religiöse Gewalt wird sie überall eingesetzt, um Probleme zu lösen. Dialog wird als Geschwätz abgetan. Die Kraft des Wortes gilt als nutzlos. Dabei ist gerade sie es, die die Überlegenheit der westlichen Zivilisation begründet. Diese hat dadurch Erfolg, dass sie erst auf das Wort setzt, alle Möglichkeit eines sinnvollen Dialogs auslotet und erst dann zur Gewalt greift, wenn dies nicht zu einer Lösung geführt hat. Im Vergleich zum Osten hat der Westen sein Verhältnis zur Gewalt analysiert und seine Lehren gezogen. Die EU ist in diesem Punkt relativ selbstkritisch und sensibel. Selbst die USA sind sehr analytisch, wenn sie Gewalt einsetzen. Sie benutzen sie nicht blindwütig, sondern wissen genau, dass sie ihre Erfolge der Kraft ihrer Analyse verdanken – und ihre Misserfolge falschen Analysen. Sie haben ihre Lektion gelernt.

Die mittelöstliche Gesellschaft von der Gewalt zu befreien, ist ein kom­plexes Problem, das viel mit Bildung zu tun hat. Wenn man Erfolg haben will, muss man der Kraft des Verstandes vertrauen und darf Gewalt nur dann einsetzen, wenn sie unumgänglich und effektiv ist. Es ist eine schwierige Aufgabe und erfordert großes Geschick, nicht nur die Gewalt von Krieg, Revolution und Konterrevolution, sondern alle Bereiche, in denen Gewalt eingesetzt wird, richtig zu evaluieren und ihre Ablehnung mit angemessener und effektiver Gegengewalt zu verbinden. Zur Wiederbelebung einer Ge­sellschaft, die durch eine vieltausendjährige Tradition der Gewalt geprägt wurde, dürfen wir nicht auf Gewalt vertrauen, es sei denn dort, wo sie wirklich die Rolle einer Hebamme spielt. Wir müssen vielmehr der Kraft des Verstehens, des Dialogs und der Organisierung Raum geben und sie als Lösungsmethoden für den Ausweg aus dem Chaos erwägen und einsetzen.

Bei dem Text handelt es sich um einen Auszug aus “Jenseits von Staat, Macht und Gewalt” von Abdullah Öcalan.

Seit vielen Jahren versucht Abdullah Öcalan, günstigere Bedingungen für eine friedliche, politische Lösung des Konflikts in der Türkei herbeizuführen. Jahrelang führte er mit der türkischen Regierung Gespräche über eine Lösung. 2009 legte er seine »Roadmap für den Frieden« vor. 2013 stoppte sein Aufruf zum Rückzug der Guerilla effektiv den bewaffneten Konflikt in der Türkei. Öcalan ist seit seiner Entführung 1999 auf der türkischen Insel Imrali völlig von der Außenwelt abgeschnitten. 11 Jahre lang war er der einzige Häftling auf der Insel – bewacht von mehr als 1000 Soldaten. Seit Ende Juli 2011 hat Öcalan mit keinem Anwalt sprechen können. Öcalan hält so den »Europa-Rekord« für Haft ohne Zugang zu Anwälten. Seit April 2015 befindet er sich faktisch in Totalisolation. Diese Zustände machen Imrali zum schlimmsten der ohnehin berüchtigten türkischen Gefängnisse. Die weltweite Kampagne für Öcalans Freiheit hat 10,3 Millionen Unterschriften gesammelt. Das Time-Magazine kürte ihn 2013 zu einer der 100 weltweit einflussreichsten Persönlichkeiten. Er ist Autor zahlreicher Bücher.