“Hat sich die Frage der Gerechtigkeit dadurch gelöst?”

Der Journalist Celal Başlangıç in einem Interview mit RojNews zum Gerechtigkeitsmarsch der CHP und den Repressionen gegen die HDP, 15.07.2017

Der am 15. Juni begonnene „Gerechtigkeitsmarsch“ in der Türkei, welcher vom Vorsitzenden der Republikanische Volkspartei (CHP) Kemal Kılıçdaroğlu initiiert wurde, endete 25 Tage später mit einer großen Abschlusskundgebung in Istanbul. Könnte der Gerechtigkeitsmarsch, der aus verschiedenen Kreisen Unterstützung erfahren hat, als ein Weckruf für die Opposition in der Türkei interpretiert werden?

Dieser 25 Tage währende Gerechtigkeitsmarsch zeigte auf, dass die 15-jährige Opposition gegen die Herrschaft der AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) quantitativ als auch qualitativ an einem neuen Punkt angelangt ist. Vielleicht machte es zu Beginn den Anschein, dass der Marsch als persönliches Anliegen von Kemal Kılıçdaroğlu gestartet wurde. Es gab keine konkreten Vorbereitungen. Weil bis zum Zeitpunkt der Inhaftierung des CHP-Abgeordneten Enis Berberoğlu, waren bereits die beiden Ko-Vorsitzenden der drittgrößten Oppositionspartei und weitere zwölf ihrer Abgeordneten inhaftiert. Für diese unternahm die CHP nichts. Die Äußerung „Die Aufhebung der Immunitäten sind verfassungswidrig, aber wir werden trotz dessen mit einem ja abstimmen“ von Kılıçdaroğlu dürfte sein größter Fehler sein.

Hierzu gab es aber auch kritische Gegenstimmen innerhalb der CHP, wie Fikri Sağlar und Muharrem İnce, die ihren Parteivorsitzenden dafür kritisierten, dass die politischen Vorgänge gegen die HDP nicht nur auf diese beschränkt bleiben werden, sondern früher oder später auch die CHP betreffen werden. So kam es dann auch, dass nach der Demokratischen Partei der Völker (HDP) die CHP an die Reihe kam. An dieser Stelle war es für Kemal Kılıçdaroğlu so gut wie unmöglich tatenlos zuzusehen. Wenn er diesen Marsch, welcher schnell an Zuspruch gewann, nicht unternommen hätte, hätte er seine Position innerhalb der Partei nicht länger halten können. Das hätte das Ende der Opposition in der Türkei bedeutet. Seitdem Kılıçdaroğlu die Position des Parteivorsitzenden innehat, dürfte dieser Marsch seine bisherige beste Handlung als auch Haltung gewesen sein, wie es einer richtigen Opposition bedarf. Mit der Zeit konnte die Basis des Marsches gestärkt werden. Die CHP hat als eine Partei, die von einer bestimmten Elite beherrscht wurde, die die Basis besser mitintegriert. Indem die Parteien um Saadet und ÖDP (Partei der Freiheit und Solidarität), sowie Oppositionelle innerhalb der MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung) und die Juni-Bewegung sich dem Marsch angeschlossen haben, war eine breite Palette der Opposition vertreten, womit sich die Form des Marsches auch schlagartig geändert hat. Dieser Wandel deutet eigentlich auch auf was anderes hin.

Eine Partei wie die CHP konnte so eine derartige Masse zuletzt auf der Mai Kundgebung unter Bülent Ecevit im Jahre 1977 in Taksim zusammen bringen. Seitdem war der jetzige Marsch, die größte Ansammlung von Protestierenden, die die Opposition auf die Beine stellen konnte. Die Opposition konnte das erste Mal solch einen Platz füllen. Dies zeigt auf, dass es in puncto der Gerechtigkeit in der Türkei auf Messers Schneide steht. Hierbei geht es natürlich nicht nur um die Forderung nach Gerechtigkeit, sondern auch um die Reaktion gegen AKP-Machtbestrebungen, die „Ein-Mann-Herrschaft“, Verfassungsänderungen, den Aufbau diktatorischer Strukturen in der Türkei, die Außerkraftsetzung des Parlamentes als auch die persönliche Anbindung der Justiz und Gerichtsbarkeit.

Der Marsch begann und nahm wie erwartet sein Ende. Können über diese Tatsache hinweg mehr Schlüsse daraus gezogen werden? Was für eine Politik wird die CHP zukünftig verfolgen?

Mit dem Erreichen der jetzigen Situation ist es wichtig, was nun geschehen wird. Klar, es handelte sich um einen Marsch, der in Ankara begann und im Istanbuler Stadtviertel Maltepe endete. Die Teilnahme war sehr gut. Es fand eine gute Unterstützung statt. Was ist aber geschehen, hat sich die Justiz-Problematik bzw. die Frage der Gerechtigkeit dadurch gelöst? Nichts davon ist geschehen. Die CHP, die sich gegenüber den Erpressungen der AKP unterwürfig gemacht hat, versuchte sich im Rahmen des Machbaren von der HDP fernzuhalten. Vor dem Referendum erteilte die Führungsriege an ihre Abgeordneten eine Anweisung, wonach diese sich nicht mit Abgeordneten der HDP sehen lassen und gemeinsame Fernsehauftritte vermeiden sollten. All dies bringt zum Ausdruck, dass sich die CHP von der AKP erpressbar machen ließ und sich somit gegenüber der AKP beugte. So wurde beispielsweise der Ermächtigungsbeschluss des Parlaments unterschrieben, wonach die türkischen Streitkräfte dazu ermächtigt wurden grenzübergreifende Operationen durchzuführen. Für die Aufhebung der Immunitäten der Parlamentsabgeordneten konnten 30 bis 40 Abgeordnete der CHP für dieses Vorhaben gewonnen werden, obwohl diese verlauten ließ, dass es sich um ein verfassungswidriges Vorhaben handele. Genau dies spricht für die Unterwürfigkeit der CHP gegenüber der AKP.

An dieser Stelle muss gesagt werden, dass der erste Erfolg des Marsches darin liegen dürfte, dass sich die CHP aus den erpresserischen Klauen der AKP zu befreien vermag. Von nun an dürften die erpresserischen Methoden der AKP nicht wie früher wirksam sein. Zweitens wurde durch den Marsch sichtbar, dass es in der Türkei ein ernstzunehmendes Potential an Opposition gibt. Drittens, unter dem gleichen Nenner der Demokratie sticht hervor, dass die verschiedensten Kräfte zusammen kommen können. In der Zeit als die AKP frei schalten und walten konnte, war die einzige wirksame Oppositionskraft die HDP. Ungeachtet dessen wurden die beiden Ko-Vorsitzenden, weitere Abgeordnete, an die 10.000 Parteimitglieder, sowie die Führungsriege der HDP inhaftiert als auch die HDP-Stadtverwaltungen unter Zwangsverwaltung gestellt und somit eine Zeit der politischen Neutralisierung eingeläutet. Wenn Selahattin Demirtas, Figen Yüksekdağ und weitere führende Parteimitglieder nicht inhaftiert gewesen wären, wäre das Ergebnis bezüglich des umstrittenen Referendums gewiss nicht derart ausgefallen. Trotz dessen gilt das Referendum für die AKP als verloren. Nun hat sich dieser Gerechtigkeitsmarsch als zweiter Schlag gegen die AKP entwickelt.

Sie haben schon erwähnt, dass die HDP beginnend mit den Inhaftierungen der beiden Ko-Vorsitzenden mit Einschüchterungsoperationen konfrontiert ist. Täglich werden Abgeordnete, Führungspolitiker, Provinz- und Landkreisvorsitzende festgenommen. Neben diesen physischen Angriffen hat nun der türkische Präsident Tayyip Erdoğan den Ko-Vorsitzenden der HDP, Selahattin Demirtaş als „Terroristen“ in der Öffentlichkeit gebrandmarkt. Wurde somit eine Anweisung in Richtung der Richter und Staatsanwälte versendet? Hat Erdoğan anhand dieser Aussage nicht offen dargelegt, von wo aus die Operationen gegen die HDP eigentlich gesteuert werden?

Klar, indem dieser sich die Justiz vornahm und zu eigen gemacht hat. Das Gremium der Richter und Staatsanwälte wurde an das Präsidialamt und an die Regierungspartei gebunden. Hierfür lässt sich ein anderes Beispiel aufzeigen und zwar der Fall von Murat Aksoy und die mit ihm angeklagten weiteren sechs Journalisten. Der Richter entschied in diesem Fall auf Freispruch. Bevor die Journalisten frei gelassen wurden, sprich das Gefängnis verlassen konnten, wurde gegen diese prompt ein neues Verfahren eröffnet, wodurch die Journalisten sofort in Untersuchungshaft kamen. Der Richterausschuss, welcher den Freispruch veranlasste, wurde vom Gremium der Richter und Staatsanwälte ausgewiesen. Eine derartige Entscheidung eines Staatsanwaltes kann wie bei einem Richter dazu führen, dass diese „unpassenden“ Personen ausgeschlossen werden. Dies ist der letzte Stand an dem der Gerechtigkeitsmechanismus der Türkei angelangt ist. Innerhalb diesem Mechanismus ist es dem Präsidenten Erdoğan möglich Demirtaş öffentlich als einen „Terroristen“ zu denunzieren und somit direkten Einfluss auf die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft, das geforderte Strafmaß und auf den endgültigen richterlichen Entschluss auszuüben. Ich spreche hier nicht davon, dass die Richtung gewiesen wird, sondern von einem vordiktieren. Erdoğan hat nun offiziell seine Meinung in puncto der Personalie Demirtaş kundgetan und somit dem Richter praktisch seine Entscheidung schon vordiktiert. Ich kenne keinen Richter in der Türkei, der nach einer öffentlichen Denunzierung des Staatspräsidenten eine andere Entscheidung treffen würde.