Hintergründe zum Angriff der Türkei auf Girê Spi (Tel Abyad)

fehim-tastekinKolumne von Fehim Tastekin, 27. Oktober 2015, Radikal

Nach Angaben der YPG (Volksverteidigungseinheiten Rojavas) wurde Tel Abyad von der Türkei angegriffen.

Erdogan braust: „Es stellt eine Gefahr dar; das Notwendige wird getan werden.“

Doch warum und für wen ist Tel Abyad eine Bedrohung? 

Allen stockte der Atem. Viele fragen sich nun, was wir wohl noch bis zum 1. November erleben werden. Ist der Irrsinn, in Syrien einzumarschieren, möglich? Die Aussicht ist äußerst trüb. Während die Uhren auf Ungewissheit stehen, erreicht uns die Meldung, die Türkei habe kurdische Stellungen in Tel Abyad beschossen.

Dies wurde von der YPG, den Verteidigungseinheiten Rojavas, die infolge ihres Widerstands gegen die IS als legendär gefeiert werden, behauptet. „Die türkische Armee habe am 24. Oktober zwischen 19:00 und 21:00 Uhr mit A4 Waffen und am 25. Oktober zwischen 2:00 und 4:00 Uhr mit MG3 Gewehren YGP-Stellungen im Grenzgebiet angegriffen.“

Die türkischen Streitkräfte sowie die Regierung schweigen dazu, aber die Gefahr ist offensichtlich. Der türkische Staatspräsident Erdoğan hat, während er verbal die Opposition angriff, die syrischen Kurden bedroht: „Diese sind nur auf ihre Interessen bedacht, wenn notwendig kooperieren sie sowohl mit der PKK als auch mit dem IS. Ist das nicht das, was sie in Tel Abyad machen? Erst nimmt der IS Tel Abyad ein, später geht er heraus. Dann geht die PYD hinein. Das ist ein kollektives Spiel. Wem gehört dieses Gebiet? Zu 95% Arabern und Turkmenen und zu 5% Kurden. Ihnen geht es darum dieses Gebiet zu einem Kanton zu verwandeln, sie haben ja bereits Kantone ausgerufen. Diese Entwicklungen stellen inzwischen eine Bedrohung für die Türkei dar. Die Türkei wird das Notwendige unternehmen, das sollte jeder wissen.“

Manchmal schweigt ein Mensch aus Verzweiflung, manchmal ist er nicht in der Lage zu sprechen, weil sein Mund ausgetrocknet ist. Es ist wie ein Alptraum, von dem er sich befreien könnte, indem er in Ohnmacht fällt, aber er kann nicht!

Es liegt Erdoğan noch sehr schwer im Magen, dass im Juni Kurden und Araber gemeinsam das nordsyrische Tel Abyad befreit haben, indem sie den IS aus der Stadt drängen konnten. Ebenso schwer liegt ihm im Magen, dass die Kurden nicht zugelassen haben, dass die Stadt Kobanê vom IS eingenommen werden konnte.

Egal auf welche Weise versucht wird, die Worte Erdoğans zu verstehen, sie verletzen. Doch bevor wir uns verletzen lassen, sollten wir beginnen zu fragen:

Erstens: Wer hat Tel Abyad dem IS präsentiert?

Während die Kurden am 19. Juli 2012 anfingen, von Kobanê ausgehende die Kontrolle über ihre Regionen zu erlangen, hat die Türkei die Stadt Bab El-Hawa, die am Grenzübergang Cilvegöz liegt, einer bewaffneten Gruppe überlassen. Ich sage überlassen, weil diese Gruppe, die sich selbst „Verse des Taliban“ nennt, Cilvegöz überquerend Bab el-Hawa eingenommen hat. Auf eben diese Weise wurde am selben Tag die Stadt Jarabulus über den Grenzübergang bei Karkamis eingenommen. Am 22. Juli 2012 viel Öncüpinar am Grenzübergang Selame. Am 19. September 2012 haben die jihadistischen Gruppen, die von der Türkei unterstützt werden, den Grenzübergang Akcakale bei Tel Abyad übernommen. Diese Leute fuhren mit Bussen von der Türkei aus zur syrischen Grenze.

Als Al Nusra und IS sich gegeneinander richteten, verdrängte der IS seine bisheringen Bündnispartner und wurde 2014 dominierende Kraft. Bis dahin waren all die radikalislamischen Kräfte für die Türkei wertvolle Revolutionäre. Der IS wurde geduldet und somit auch, dass Tel Abyad zum wichtigsten Grenzdurchgang des IS wurde.

Lasst uns die Frage erneut stellen: Wer hat Tel Abyad dem IS überlassen?

Zweitens: Wer hat den IS aus Tel Abyad vertrieben? 

Hätte um Gottes Willen doch nur die Türkei sie vertrieben. Aber nein, im vergangenen Juni wurde Tel Abyad vom Bündnis Burkan El Firat, das aus YPG und arabischen Einheiten besteht, und Suvvar el Rakka sowie mit unterstützenden Luftschlägen der USA befreit. Es waren Kurden und Araber, die IS gemeinsam vertrieben haben. Nach dieser Niederlage griff der IS Kobanê an und tötete Dutzende Menschen. Die Opfer waren Kurden, während es der IS war, der diese Opfer forderte.

Jetzt lasst uns Fragen: Wo gibt es zwischen IS und YPG eine kollektives Vorgehen?

Drittens: Wem gehört Tel Abyad?

Der Bevölkerungsanteil der Kurden in Tel Abyad soll laut Erdoğan 5% der Gesamtbevölkerung ausmachen. Sind diese Angaben vom Bürgeramt des IS? Vor dem Krieg betrug die Bevölkerungszahl der Kurden in Tel Abyad 40 bis 45%. Aber dennoch kann die Angabe 5% in gewisser Weise stimmen. Nachdem Tel Abyad durch die Gruppen, die von der Türei unterstützt wurden, eingenommen wurde, wurden ethnische Säuberung durchgeführt. Am 19. Juli 2013 wurde die kurdische Bevölkerung über die Lautsprecher der Moscheen öffentlich aufgefordert, die Stadt zu verlassen. Beim Bleiben in der Stadt wurde mit dem Tod gedroht. Die daraufhin beginnende Jagd auf Kurden dauerte bis zum 5. August. In den Häuser der Vertriebenen wurden Kämpfer von außerhalb untergebracht. Als Tel Abyad im Januar 2014 vom IS vollkommen eingenommen wurde, wurden die restlichen Kurden, die geblieben waren, vertrieben. An Arbeitsplätzen und Eigentum von Kurden wurden Schilder mit der Aufschrift „Staatseigentum“ angebracht. (Der IS spricht von sich selbst als „Staat“). Daher hätte ich keinen Einwand, wenn von 5% Bevölkerungsanteil der Kurden als Folge der Einnahme von Tel Abyad durch den IS gesprochen wird.

Nach mir vorliegenden Informationen sind nur 40% aller Kurden, die 2013 vor den Jihadisten geflüchtet waren, inzwischen in Tel Abyad zurückgekehrt. Von den 250 armenischen Familien, die damals nach Aleppo flüchten mussten, kehrten nur 50 zurück. Ich möchte auf folgendes hinaus: Es wird keinen Gewinner der Diskussion, ob Tel Abyad nun arabisch, kurdisch oder turkmenisch ist, geben. Das ist eine lange und verstrickte Angelegenheit. Nicht, dass noch jemand auf dumme Gedanken kommt, da das heutige Tel Abyad doch eigentlich von Armeniern gegründet worden war, die im Zuge des Genozids 1915 aus Anatolien vertrieben wurden.

Viertens: Wer regiert in Tel Abyad? Wird ein Kanton errichtet?

In Tel Abyad wurden durch gemeinsamer Arbeit von TEV-DEM mit Vertretern von Klans aus der Stadt ein Exekutivorgan sowie ein Rat gebildet. Das Exekutivorgan setzt sich aus 7 Arabern, 4 Kurden, 2 Turkmenen und einem Armenier zusammen. Die Verteilung wurde nach Anteil der jeweiligen Ethnie in der Bevölkerung vorgenommen; ebenso sind beide Geschlechter in dem Organ repräsentiert. Des Weiteren wurde ein 113-köpfiger Rat gebildet – ebenfalls nach Proporz besetzt. Auch wenn die Initiative zum Aufbau dieser Strukturen auf die Kurden zurückgeht, widerspricht die oben beschriebene Zusammensetzung der Behauptung Erdoğans, Kurden hätten Tel Abyad eingenommen.

Wie auch in den autonomen Kantonen Rojavas, wurde in der Selbstverwaltung Tel Abyads das Modell der Kovorsitzenden eingeführt. Die Funktion der Kovorsitzenden wird zum einen von Mansur Sallum, einem Araber, und zum anderen von Leyla Mustafa Müslim, einer Kurdin, wahrgenommen. Wenn die soziologischen Gegebenheiten der Region vor Augen geführt werden, so ist es ein bedeutender Fortschritt, dass eine Frau den Kovorsitz inne hat. Die Aufgabe der Selbstverwaltung besteht darin, inmitten des Kriegs die Sicherheit in der Stadt zu gewährleisten und die Wirtschaft zu koordinieren. Politisch wurde Tel Abyad dem Kanton Kobanê angebunden. Es wurde also kein eigener Kanton ausgerufen. Was würde überhaupt passieren, wenn ein solcher ausgerufen worden wäre? Die Kurden, die im Zentrum von Tel Abyad leben, kommen ursprünglich aus den umliegenden Dörfern von Kobanê, d.h. die Kurden haben ein Gefühl der Verbundenheit zu Kobanê und zumindest für sie stellt es kein Problem dar, weiterhin an Kobanê gebunden zu sein.

Stellt Tel Abyad wirklich eine Bedrohung für die Türkei dar?

Stellen die Kantone Rojavas für die Türkei eine Bedrohung dar, sodass Tel Abyad auch eine Gefahr darstellen könnte? Obwohl bewaffnete Gruppen mehrmals unsere Grenze (die der Türkei) nutzend Rojava angegriffen haben, hat die YPG bislang die Türkei nicht angegriffen. Die kurdischen Quellen, die ich kontaktiert habe nachdem ich über die Angriff der türkischen Streitkräfte gehört habe, sagten mir: „Wir sind uns über das Spiel im Klaren. Wenn die YPG mit Vergeltung antworten würde, wird die Türkei in der gesamte Welt propagieren „Seht ihr, das sind Terroristen“. Die Kurden sind jedoch bedacht, nicht in diese Falle zu tappen.“

Die türkische Regierung sollte offen darlegen, wovor sie sich fürchtet, obwohl sie kein einziges mal Tel Abyad als Bedrohung für die Türkei dargestellt hat, als es vom IS kontrolliert wurde. Wenn es darum geht, dass an der syrisch-türkischen Grenze ein autonomes Gebilde entsteht, dann sollte eher der syrische Staat sich sorgen machen.

Kann die Regierung wirklich in einen solchen Irrsinn verfallen sein und eine Intervention in Nordsyrien vornehmen wollen?

Trotz all den Drohungen wächst die Legitimität der PYD auch auf internationaler Ebene. Die Kovorsitzende der PYD, Asya Abdullah, war letzte Woche nach ihrer USA-Reise in Moskau. Am Gespräch mit dem russischen stellvertretenden Außenminister Mikhail Bogdanov nahm neben Abdullah auch der Kovorsitzende des Kantons Kobanê, Enver Müslüm, sowie der PYD-Rußlandverteter, Abdusselim Ali, teil. Der PYD-Kovorsitzende Salih Müslüm hat am Samstag während der Parlamentssitzung bekannt gegeben, dass die PYD in Berlin, Paris und Moskau Büros als ständige Vertretungen eröffnen wird.

Die Kurden sammeln auf internationaler Ebene die Früchte ihres strategischen Verstandes, den sie mit ihrer Taktik des sog. Dritten Weges umsetzen. Die „Neoosmanen“ in Ankara hingegen, die den Anspruch hegen den Mittleren Osten neu erschaffen zu erschaffen, greifen das Selbstverwaltungsexperiment einer Stadt mit 5.000 Einwohnern an, ohne dies offen zugeben zu können. In der syrischen Konstellation gibt es neben den Kurden auch noch die USA und Russland. Beide sind entschlossen, ihren Weg mit den Kurden zu beschreiten. Jede Offensive Ankaras diese Entwicklungen umzukehren, unterstreicht das Bild, nach dem die Türkei mit der IS paktiert.

Diejenigen, die behaupten die PYD sei mit dem IS gleichzusetzen oder die PYD stelle für die Türkei eine größere Gefahr dar als der IS, suchen im Grenzgebiet nach Vorwänden. Vorwände für was?

Vorwände, um die Zusammenarbeit der USA und Russlands mit den YPG und der PYD zu verhindern,

um die Kurden auf internationaler Ebene als Terroristen zu verurteilen,

um die HDP, die sie nicht unterhalb der 10% Wahlhürde halten können, angreifen zu können,

um die Abnormalität, die sie selbst im Inland geschaffen haben, fortführen zu können….

Ich hoffe, dass die YPG keinen Vorwand liefern werden – wie es meine kurdischen Quellen gesagt haben.