Hintergründe zur aktuellen Protestwelle in Südkurdistan

Nilüfer Koç, Kovorsitzende des Kurdistan Nationalkongress (KNK), im Interview mit Civaka Azad, 21.12.2017

Seit vier Tagen gibt es Massenproteste gegen die Regierung in Südkurdistan. Bei einer Protestaktion in Ranya am 19. Dezember sollen bei einem Angriff von Asayish-Kräften mehrere Protestierende ums Leben gekommen sein. Wir haben mit Nilüfer Koç, Kovorsitzende des Kurdistan Nationalkongress (KNK), über die Hintergründe der aktuellen Protestwelle in Südkurdistan gesprochen.

Wie ist die aktuelle Lage in Südkurdistan? Warum finden gerade jetzt die Proteste statt?

Es wäre zu einfach die öffentlichen Proteste seitens der Bevölkerung in Südkurdistans, losgelöst von den Gesamtereignissen im Nahen Osten handzuhaben. Wie in Rojava und Nordkurdistan drücken sich Konflikte der regionalen und globalen politischen Machtverhältnisse sehr lokal aus. Die Ereignisse in Südkurdistan hängen zum größten Teil mit den Entwicklungen und Veränderungen in Rojava-Nordsyrien zusammen. Mit dem historischen Sieg der SDF über den Islamischen Staat (IS) in Raqqa erklärten neben den Kurden auch internationale Kräfte diese Phase als die Übergangsphase zur politischen Lösung. Kräfte wie die Türkei und der Iran, die bislang vom Krieg in Syrien über verschiedene Gruppen, wie den IS, profitiert und dadurch ihre Existenz verlängert haben, haben hier ein wichtiges Kriegsfeld verloren. Der Sieg in Raqqa war ihre Niederlage. Deshalb haben sie aus der politischen Fehlkalkulation der Machthabenden in Südkurdistan mit dem Referendum ein neues Feld für Krieg gewonnen. Dort nämlich kam es zu einem politischen Vakuum, das bis heute andauert. Die kurdische Führung kann nicht mehr führen, das Volk will nicht mehr von ihnen geführt werden.

Am 16. Oktober konnte die politische Führung, Südkurdistan vor der irakischen Okkupation nicht verteidigen. Genauso wie im August 2014 sind die Peschmerga in Şengal, Maxmur und Kirkuk vor der irakischen Armee und den paramilitärischen Einheiten Hashd-al-Shabi geflohen. Wir haben hier etwa 46 Prozent des südkurdischen Bodens an Irak verloren. Insgesamt haben die Kurden nach dem Referendum alle Errungenschaften der letzten 27 Jahre verloren. Alle Grenzübergange, der Luftverkehr, die Wirtschaft und Öl-Handel unterstehen jetzt Bagdad. Anstelle ihrem bisherigen föderalem Status, ist Südkurdistan jetzt wieder unter irakische Herrschaft geraten. Bagdad weigert sich sogar die in der Verfassung verankerten Rechte den Kurden zu zustehen. Des Weiteren hat sich die Sicherheitslage drastisch verschlechtert.

Nach dem Referendum hat neben der Türkei auch der Iran die Entstehung sehr vieler paramilitärischer Gruppen gefördert. Diese gehen sehr brutal gegen die Kurden vor. Und das vor allem in den sogenannten umstrittenen Gebieten wie Xurmatu, Kirkuk, Celewla, Xaneqîn, Maxmur etc. Gegenwärtig wimmelt es in Südkurdistan von diesen Gruppen. Leben und Eigentum der Bevölkerung sind unter großer Gefahr. Die Menschen fordern Sicherheit und Schutz.

In vielen Gebiete wurden Kurden durch pro-türkische und pro-iranische paramilitärische Gruppen vertrieben. Viele Kurden sind daher in Städte wie Sulaimaniyya geflohen. Die Protestierenden beschuldigen die politische Führung Südkurdistans damit, nicht in der Lage zu sein das Land zu verteidigen und zu führen. Sie fordern daher den Rücktritt der ohnehin nicht funktionsfähigen Regierung. Im Vergleich zu den früheren Protesten sind die gegenwärtigen, nicht nur gegen eine politische Partei, sondern gegen alle politischen Institutionen, die seit 27 Jahren existieren, gerichtet. Sie fordern einen demokratischen Führungsstil und wollen alle bisherigen politischen Figuren nicht mehr sehen.

Welche Kräfte und Dynamiken stehen hinter den Protesten?

Die politischen Verantwortlichen haben nach der politischen Niederlage, die aus dem Referendum resultierte, der Bevölkerung gegenüber keine politische Rechenschaft abgegeben. Es fehlt an Selbstkritik oder zumindest einer Entschuldigung der Gesellschaft gegenüber. Das Referendum hat zu einer unglaublichen Niederlage geführt. Alle Errungenschaften, das politische Profil Kurdistans, das positive Bild der Kurden im Kampf gegen den IS sind aufs Spiel gesetzt worden. Südkurdistan hat den föderalen Status, was praktisch einem Staat ähnelte verloren und ist jetzt wieder in die Abhängigkeit des Iraks, Irans und der Türkei geraten. Dieser Zustand und das Beharren der Verantwortlichen weiterhin an der Macht zu bleiben, brachte das Fass zum Überlaufen. Ohnehin hat sich die labile Wirtschaft in Südkurdistan  noch mehr verschlechtert. Bagdad benutzt die miserable wirtschaftliche Situation zu einer Waffe gegen die Kurden. Die Menschen protestieren gegen all dies und wollen die bisherige Führung nicht mehr. Sie fordern demokratische und freie Wahlen. Sie fordern Rechenschaft von den Verantwortlichen.

Wie sieht die Zukunft der KDP und der anderen politischen Akteure in Südkurdistan aus?

Die Proteste richten sich nicht nur gegen die KDP, sondern gegen alle Regierungsparteien. Es geht um die Hinterfragung der politischen Führung der letzten 27 Jahre. Südkurdistan steht an der Schwelle zu einer neuen politischen Kultur. Das bedeutet mehr Demokratie, Transparenz, funktionierende Ämter, freie politische Partizipation aller Bürger, freie Presse und mehr Rechte für Frauen. Das bisherige Führungsmodell kann nicht mehr bestehen. Es braucht ein wirklich demokratisches Parlament oder einen höher gestellten nationalen Rat. Viele dieser Parteien haben aufgrund eigener parteipolitischer Interessen vor allem entgegen nationaler Interessen gehandelt. Sie haben entweder mit der Türkei oder dem Iran oder anderen regionalen und internationalen Mächten Bündnisse geschlossen, die heute gemeinsam gegen die Kurden vorgehen. Diese Macht der politischen Parteien, muss  gesetzlich reduziert und minimalisiert werden. Ihre Dominanz machte das Parlament zu einem sekundären Entscheidungsgremium. Die patriarchale-feudale Prägung dieser Parteien muss über die aktive und freie Partizipation von Frauen modernisiert und demokratisiert werden. Gehen diese Parteien keine radikalen Reformen ein, so werden sie stets Zielscheibe des gesellschaftlichen Zorns sein.

Welche Position vertritt der Nationalkongress Kurdistans (KNK) bezüglich der politischen Perspektiven für Südkurdistan?

Für den KNK war Südkurdistan mit dem föderalen Status seit 2003 eine nationale Errungenschaft. Dann kam Rojava mit der aufgebauten demokratischen Autonomie dazu. Als KNK sehen wir jetzt die Chance für eine Neustrukturierung bzw. Demokratisierung Südkurdistans. Ein demokratischer kurdischer Nationalkongress ist nötig. Vor allem für Südkurdistan. Der KNK genießt großes Vertrauen und Respekt in Südkurdistan. Vor einigen Tagen haben unsere verschiedenen Mitgliedsvereine und Einzelpersönlichen beschlossen im Januar 2018 eine nationale Beratungskonferenz einzuberufen. Den ersten hatten wir bereits im September 2016 in Kirkuk erfolgreich durchgeführt. Als KNK glauben wir fest daran, dass wir Kurden unsere Probleme selbst lösen müssen. Wir haben sowohl die Kraft, Erfahrung und als auch das notwendige Wissen dazu. Wir müssen die politische Führung Südkurdistans davon überzeugen, Kurdistan als Ganzes anzusehen. Alle vier Teile hängen miteinander zusammen. Das Fiasko um das Referendum hat dies einmal mehr bewahrheitet. Ein Teil alleine kann nicht in einer multipolaren Region, wie dem Nahen Osten standhalten. Es ist daher jetzt die richtige Zeit die Grundsteine eines nationalen kurdischen Kongresses zu legen. Nur so werden wir politische und friedliche Lösungen erzielen können.


Mehr zum Thema: