Idlib statt Brunson

Die Journalistin Hamide Yiğit zu den Hintergründen der aktuellen türkisch-amerikanischen Konfrontation und den Verbindungen zum anstehenden Krieg in Idlib, 16.08.2018

Die Krise um den in der Türkei unter Hausarrest gestellten US-amerikanische Pastor Andrew Brunson spitzt sich zu. Doch wie glaubhaft ist diese Zuspitzung wirklich? Oder, um die Frage gleich vorwegzunehmen: Warum gerade jetzt?

Es mag hilfreich sein sich in Erinnerung zu rufen, wie die USA in der jüngsten Vergangenheit mit der Festnahme von US-Bürgern und zwei türkischer Mitarbeiter in der Türkei umging. Damals setzte die USA die Visa-Bearbeitung für türkische Staatsbürger für eine gewisse Zeit aus. Nach einigen Treffen der beiden Seiten nahm man von dieser Maßnahme jedoch wieder Abstand. Pikant ist, dass Brunson schon damals in der Türkei in Haft saß. Während er also in der Türkei festgehalten wurde sanktionierte die USA für eine kurze Zeit die Visa-Vergabe, um sie kurz darauf wieder aufzunehmen. Eine viel sagende Angelegenheit.

Zudem begründet heute jedermann die Zuspitzung der Krise mit der äußerst wichtigen Position, die Brunson im Rahmen der US-Politik einnehme. Wir hatten zu Beginn erwähnt, dass die USA bereits zuvor Sanktionen eingeführt und wieder ausgesetzt hatten. Während der letzten zwei Jahre fanden unzählige Treffen zwischen der USA und der Türkei statt. Während äußerst kritischer Phasen verhandelten beide Seiten über Themen bezüglich Syrien und verkündeten in diesem Zusammenhang zahlreiche öffentlichkeitswirksame Abkommen. Wenn Brunson wirklich so wichtig ist, warum wurde nicht schon damals seine Freilassung gefordert? Man könnte fast vermuten, dass Brunson als Vorwand für eine Krise dient, deren tatsächliche Gründe verborgen bleiben sollen. Denn wir wissen, dass während der vergangenen zwei Jahre viel passiert ist und Brunsons Freilassung kein einziges Mal auf die Agenda gesetzt wurde. Und selbst wenn dies geschah, wir erfuhren davon nicht. Wir wissen nur, dass auf die Forderung „Gib du mir einen Geistlichen und ich gebe dir auch einen“ in keiner Weise reagiert wurde. Warum also genau jetzt?

Was versteckt sich hinter der Haltung der USA?

Hätte die USA die türkische Regierung wirklich bezüglich Brunson unter Druck setzen wollen, hätte sie die entsprechenden Maßnahmen vor den Wahlen in der Türkei ergriffen. Der günstigste Zeitpunkt dafür war die Zeit unmittelbar vor den Wahlen. Stattdessen überreichte die USA mit dem Minbic-Abkommen der AKP-Regierung ein Wahlkampfgeschenk. Faktisch änderte dieses Abkommen an der Situation in Minbic rein gar nichts. Die Patrouillen im Raum Minbic waren kein Zugeständnis an die Türkei, da im Rahmen der ‚Operation Euphrates Shield‘ bereits seit geraumer Zeit Patrouillen der ‚Freien Syrischen Armee‘ unter Leitung des türkischen Militärs stattfinden. Das einzige, was man der USA damals also abringen konnte, war die Erlaubnis, das Ganze als etwas Neues zu verkaufen und öffentlich zu behaupten, die Minbic-Operation gemeinsam mit den kurdischen Kräfte würde sich aus Minbic zurückziehen. Die USA machten der AKP durch ihr grünes Licht für die diesbezüglichen Forderungen der AKP sozusagen ein Wahlgeschenk. Das Gleiche gilt für die Erlaubnis der USA für begrenzte Angriffe der Türkei gegen Kandil. Das wäre auch die günstigste Zeit für die Forderung nach einer Freilassung Brunsons gewesen. Wenn er also wirklich eine so wichtige Rolle für die USA spielt, warum forderte man ihn damals nicht zurück?

Sagen wir, die USA hätte bewusst derartige Schritte vor den Wahlen vermieden (was auch den öffentlichen US-Erklärungen entsprechen würde). Auch nach den Wahlen boten sich zahlreiche Gelegenheiten für die USA. Bei dem Treffen mit Putin hätte man Brunsons Freilassung fordern können. Auch vor dem NATO-Gipfel bot sich die Gelegenheit. Während des Gipfels der NATO lobte Trump den türkischen Präsidenten Erdogan in den höchsten Tönen. Die regierungsnahen Medien in der Türkei berichtete voller Stolz von der Aussage Trumps, niemand außer Erdogan erledige seine Arbeit richtig, und dem anschließenden Handschlag der beiden. Die Krise wurde letztendlich mit der offiziellen Begründung eingeleitet, Trump habe während des NATO-Gipfels die Zusage für die Freilassung Brunsons erhalten, der dann jedoch unter Hausarrest gestellt worden sei. Jetzt verbreitet also derselbe Trump auf Twitter eine Drohung nach der anderen. Beobachterinnen und Beobachter werden wissen, dass (insbesondere im Fall dieser beiden Präsidenten) Versprechen gerne gegeben werden, nur um sie dann zu vergessen, als sei nie ein darüber Wort gefallen. Versuchen wir uns einmal in die Perspektive Trumps zu versetzen, der Präsidenten umarmt, denen er am Tag zuvor noch mit Krieg drohte. Was hat sich in der aktuellen Phase verändert, womit sich eine derartige Zuspitzung der Krise mit der Türkei rechtfertigen würde? Was versuchen beide Seiten durch die aktuelle Krise im Hintergrund zu verhindern? Es gibt derzeit zweifellos zahlreiche wichtige Entwicklungen, die die Frage nach dem Timing der aktuellen Krise aufwerfen. Die entscheidendste davon sind die wichtigen Brüche in der Mittelostpolitik, insbesondere im Rahmen des Syrien-Krieges. Sowohl die USA als auch die AKP sehen sich dazu gezwungen angesichts ihrer Schwächung im Syrien-Konflikt den eigenen Bevölkerungen eine Agenda auf zu tischen. Die USA verfolgen sicherlich die Absicht, die Türkei im Bezug auf die türkisch-russischen Beziehungen und die Umsetzung der Iran-Sanktionen unter Druck zu setzen. Dafür gab es jedoch immer die Gelegenheit. Wenn wir uns also auf die Suche nach der Erklärung dafür machen möchten, warum sich jetzt plötzlich der Bedarf für einen derartigen Druck auf die Türkei im Bezug auf diese Themen ergeben hat, müssen wir uns die jüngsten Verwerfungen im Mittleren Osten und Syrien genauer ansehen. Denn diese Verwerfungen haben aus Sicht der USA, Israels und der Türkei eine große Bedeutung. Aus ihnen ergibt sich für all diese Akteure der Bedarf eine Strategie zu verfolgen, mit der von den eigentlichen Konflikten abgelenkt wird. Dies versucht man, indem man die Themen auf der öffentlichen Agenda verändert. An erster Stelle steht die Schwächung der israelischen Position in Syrien. Dies ist aus Sicht der USA eine sehr kritische Entwicklung.

Umbrüche im Syrien-Krieg und die Position Israels: „Nichts mehr in der Hand“

Die militärischen Erfolge im Süden Syriens bringen das Ende des Krieges deutlich näher. Alle Fronten im Land sind Stück für Stück gefallen. Solange dschihadistische Stellvertretergruppen das Gebiet entlang der israelisch-syrisch-jordanischen Grenze kontrollierten, war Israel in Sicherheit. Doch die syrische Armee brachte all diese Gebiete wieder unter ihre Kontrolle, indem sie Daraa und Kuneytra einnahm. Israel schloss daraufhin umgehend das Feldlazarett auf den Golan-Höhen, dass zur Unterstützung der Dschihadisten und zur Behandlung ihrer Kämpfer eingerichtet worden war. Seit 2011 hatte Israel auf den Sturz des syrischen Regimes hin gearbeitet. Jetzt hat Israels nichts mehr in der Hand außer der Forderung an Damaskus, sich an die Vereinbarungen aus der Zeit vor 2011 zu halten. Nach der israelischen Besatzung der Golan-Höhen 1967 und dem Israelisch-Arabischen Krieg 1973 war im Jahr 1974 die UN-Mission UNDOF zur Überwachung der Waffenruhe vor Ort stationiert worden. Ein Jahr nach dem Beginn der Syrien-Krise verließen die UNDOF-Kräfte 2012 die Region. Auf Geheiß Israels ist die UNDOF nun nach sechs Jahren Pause wieder in der Region aktiv. Unter Aufsicht des russischen Militärs kehrten die UN-Kräfte zurück. Die UN wird den Abzug der israelischen Armee von den Golan-Höhen und die Wiedereröffnung des Kuneytra-Grenzübergangs überwachen. Wenn wir die Verhandlungen zwischen Israel und der Hamas über einen Waffenstillstand mit in die Betrachtung einbeziehen können wir zu einem aus israelischer Sicht ernüchternden Ergebnis kommen: Israel, das aus Sorgen um seine eigene Sicherheit den Krieg mit anheizte und sieben Jahre lang dschihadistische Gruppen unterstütze, um Damaskus zu stürzen, hat nun „nichts mehr in der Hand“.

Diese Pleite ist zugleich eine Pleite für die USA. Denn außer den Gebieten östlich des Euphrats, in denen sich die USA durch ihre Beziehungen zu den kurdischen Kräften eine gewisse Position sichern konnte, verfügt sie über keinerlei konkrete Möglichkeiten oder Gebiete, in denen sie intervenieren könnte. Diese Kraftlosigkeit auf Seiten der USA ist auch der Grund für das Abkommen mit Russland und Jordanien zur Evakuierung der Dschihadisten vor dem Beginn der Militäroperation im Süden Syriens.

Änderung des Gleichgewichts im Syrien-Krieg: Warum schweigt die USA?

Während sich östlich des Euphrats wichtige Entwicklungen ereignen schweigt die USA. In der Zwischenzeit haben die Syrian Democratic Forces (SDF) und ihr politischer Arm, der Demokratische Rat Syriens (DRS), einen politischen Dialog mit Damaskus begonnen. Am 26. Juli führte eine Delegation aus Vertretern der Syrischen Zukunftspartei, dem DRS und weiter Vertreter verschiedener politischer Gruppen Gespräche in der syrischen Hauptstadt.

Auch wenn bisher keine konkreten Vereinbarungen öffentlich gemacht wurden, können wir davon ausgehen, dass es im Rahmen der Verhandlungen zu wichtigen Entwicklungen gekommen ist. Doch interessanter Weise schweigt USA in dieser Phase. Warum schweigt die USA, die noch während der Afrin-Phase ein Abkommen zwischen der PYD/YPG und Damaskus torpedierte? Sollte die USA, die bisher eine reine Beobachterposition bezüglich der Verhandlungen zwischen der SDF und Damaskus einnahm, diesbezüglich keinen geheimen Plan verfolgen, wäre das in dieser Phase vor dem Hintergrund der innenpolitischen Lage in den USA problematisch. Die kurdische Seit mag ihrerseits den Plan verfolgen, über die SDF oder die Verhandlungen mit Damaskus an den Gesprächen in Genf beteiligt zu werden. Doch berücksichtigt man die amerikanische Position in Syrien und die immer unrealistischer erscheinende Gewährleistung der israelischen Sicherheit, erscheint das derzeitige Schweigen der USA für die eigene Bevölkerung als problematisch.

Den Verantwortlichen in den USA bereitet es sicherlich Kopfschmerzen der eigenen Bevölkerung zu erklären, welchem ‚nationalen Interesse‘ die US-Steuergelder für die verschiedenen Oppositionsgruppen in Syrien gedient haben sollen. Wie sehr Trump auch die Kosten für den Krieg in der Region den dortigen Diktaturen aufbrummt, einer Rechtfertigung für den umfangreichen US-Verteidigungsetat bedarf es trotzdem. Diese Rechtfertigung basierte bisher vor allem auf dem Krieg in Syrien, der aggressiven Haltung gegenüber dem Iran und den andauernden Konflikten in nahezu allen Ländern. Doch nun scheint es so, als hätte sich die Politik, mit der Kriege und Konflikte angeheizt wurden, selbst aufgebraucht. Ähnlich wie in Katar oder Nordkorea.

Das erste Land, in dem Trump bereits kurz nach seinem Amtsantritt einen Konflikt anheizte, war Katar. Diese provokative Politik überdauerte nicht einmal ein Jahr. Nachdem Trump erhalten hatte, was er wollte, lud er im April diesen Jahres den katarischen Emir Şeyh Temim ins Weiße Haus ein. Die Person, die er noch im letzten Jahr der Terror-Finanzierung beschuldigte, bezeichnete er als „meinen Freund“ und einen „hervorragenden Menschen“. Trump und Şeyh Temim lobten sich in den höchsten Tönen und beschlossen gemeinsam, die wirtschaftlichen Beziehungen der beiden Länder auszubauen. Es wurde über Handelsabkommen verhandelt, die in den USA 50.000 Arbeitsplätze schaffen sollen. Damit war der Konflikt zwischen den beiden Ländern beendet.

Auch mit Nordkorea schien es so, als können es schon morgen zu einem Krieg kommen. Doch im Juni diesen Jahres endete auch dieser Konflikt. Das Treffen zwischen Trump und Kim Jong-un am 12. Juni in Singapur wurde als „historischer Gipfel“ bezeichnet. Beide bewerteten das Treffen, das laut der Presse auf der ganzen Welt verfolgt wurde, gleich: „Die Beziehungen sind ausgezeichnet“. Mehr nicht.

Zeitgleich erweckte Trump den Eindruck man stehe mit dem Iran, der sich im Zentrum der trumpschen Kriegspolitik befindet, kurz vor einem Krieg. Trump beschloss den einseitigen Rückzug aus dem Atomabkommen und verhängte Sanktionen. Doch sowohl der Rückzug aus dem Abkommen, als auch die Sanktionen fanden keine große Unterstützung von Seiten der EU. All diese Entwicklungen weisen auf folgende Situation hin: Trump über strapaziert seine Taktik der Kriegs- und Konfliktpolitik und wird zunehmend einsamer. Auch wenn die Situation natürlich nicht ganz so einfach ist, weist doch vieles auf eine derartige Entwicklung hin. Wir können also davon ausgehen, dass es Trump in dieser Lage gelegen kommt, die Spannungen in eine andere Region zu tragen und neue Themen auf die innenpolitische Tagesordnung zu setzen.

Dasselbe gilt für die AKP. Es kann als ausgeschlossen betrachtet werden, dass die USA sich aus dem syrischen Konflikt zurückziehen. Doch in der auf uns zukommenden Phase wird die „Mutter aller Kriege in Syrien“, also die Idlib-Operation, die Tagesordnung bestimmen. Die USA können an dieser Front nur mittels der Türkei intervenieren. Der Grund dafür ist offensichtlich. Aus den verschiedensten Gründen, die wir in früheren Artikeln bereits zur Sprache brachten, ist der Krieg in Idlib aus Sicht Syriens ein Problem der Türkei bzw. der AKP.

Idlib: Befreiungskrieg für Syrien, Ende des Gerangels für die Anderen

Wir hatten bereits an anderer Stelle erwähnt, dass die syrische Regierung die Haltung einnimmt, der Krieg in Idlib sei ein Problem der Türkei. Es stimmt, dass Idlib der Türkei die größten Kopfschmerzen bereiten wird. Doch dabei wird es nicht bleiben. Idlib ist ein Zentrum der Auseinandersetzungen für alle Akteure, die sich am Krieg in Syrien beteiligen.

Das weiträumige Gebiet entlang der türkischen Grenze von Idlib über Afrin bis nach Cerablus wurde im Verlauf der letzten Jahre zu einem Zentrum der verschiedensten dschihadistischen Gruppen. Hier sammelten sich seit Beginn des Krieges auch turkmenische und tschetschenische Dschihadisten. Sie machten sich aus den Vorgärten Russlands und Chinas auf den Weg in den syrischen Dschihad und nahmen mit der Besatzung Idlibs im Jahr 2015 eine wichtige Position in der Region ein. Personen wie Ömer el-Şişani schafften es sogar bis in die Führungsebene des Islamischen Staates (IS). Es ist bekannt, dass die Islamische Partei Türkistan sich aus Dschihadisten aus Zentralasien zusammen setzt. Diese Organisation schaffte es neben der al-Nusra-Front zu stärksten Kraft in der Region zu werden. Ihre Gründer sind uigurische Türken.

Aus Sicht Russlands und Chinas stellen diese Dschihadisten aufgrund ihrer Kriegserfahrungen und ihres Bekanntheitsgrades eine ernstzunehmende Bedrohung dar. Es war daher nicht überraschend, dass China vor Kurzem anbot, sich an dem finalen Stadium des Krieges zu beteiligen. Doch das ist nicht der einzige Grund für Chinas Interesse an der Situation in Syrien. Für Russland stellt die eigene Position in Syrien eine Frage der nationale Sicherheit dar. China versucht sich durch das eigene Engagement vor Ort einen Anteil beim Wiederaufbau Syriens zu sichern. Es ist klar, dass diejenigen Akteure, die Syrien in Schutt und Asche gelegt haben, nun auch am Wiederaufbau des Landes beteiligt werden wollen. Es ist daher zu erwarten, dass der Krieg in Idlib (und dem Nordwesten Syriens) zum Gegenstand vielfältiger Reibereien zwischen der verschiedenen Akteuren wird. Deshalb ist der Idlib-Krieg „die Mutter aller Kriege“ in Syrien.

Die Bedeutung des Idlib-Krieges für die Türkei

Aus Sicht der Türkei hat Idlib mehrere Bedeutungen: Es ist das Eingangstor nach Syrien für ausländische Dschihadisten. Es ist der erste Zwischenstopp für materielle Unterstützung an die Dschihadisten. Und es ist der Ort, an dem die radikalen Gruppen ihre ersten Kriegserfahrungen sammeln. Seit 2013 fungiert die Region als erster Anlaufpunkt für dschihadistische Gruppen in Syrien. Seither wurde Idlib zu dem Ort, an dem sich diese bewaffneten Gruppen am längsten festsetzen konnten. Hinzu kommen die zahlreichen dschihadistischen Gruppen, die von den verschiedensten Fronten Syriens im Rahmen von Verhandlungen mit dem syrischen Regime nach Idlib verlegt wurden. Den Gruppen, die im Rahmen der Astana-Verhandlungen unter dem Schutz der Türkei stehen, wurden dadurch zahlreiche weitere aus allen Teilen Syriens hinzugefügt. Deshalb hat das Desaster, das die Türkei erwartet, mittlerweile gigantische Ausmaße angenommen.

Erste Einschätzungen gehen davon aus, dass die syrische Armee vor dem Beginn eines umfassenden Krieges in Idlib von Westen her vorrücken wird. Das betrifft vor allem das Gebiet um Cisr eş-Şuğur. Ziel ist eine Belagerung, die vom Westen aus Stück für Stück umgesetzt werden soll. Während dieser Phase wird man von der Türkei verlangen, dass sie ihre im Rahmen der Astana-Verhandlungen übernommenen Verpflichtungen umsetzt. Bisher hat die AKP ihre Aufgabe, die Spannungen in der Region zu reduzieren, nicht umgesetzt. Hat sie jetzt ein Interesse daran bzw. ist sie dazu überhaupt in der Lage? Noch viel wichtiger ist die Frage, wie genau sie derartige Pläne umsetzen wird? In dieser Phase kann es, wie bereits zuvor an anderen Orten in Syrien, zum Einsatz chemischer Waffen kommen. Es könnte auch wieder Lärm um ein „Massaker in Idlib“ gemacht werden. Oder Geflüchtete können an die Grenze verfrachtet werden, um die UN dann zu einer „humanitären Intervention“ aufzufordern. Die AKP hat bereits beschlossen fünf von ihr eingerichtete Camps für syrische Geflüchtete zu schließen und die Geflüchteten an die Grenze zu bringen. Die Entscheidung, die fünf Camps in Gaziantep, Adıyaman und Mardin zu schließen und ihre 34.180 Geflüchteten in Camps entlang der Grenze zu Idlib anzusiedeln, ist äußerst kritisch. Es könnte darauf hindeuten, dass man vorhat die eigenen Propagandamittel auf Kosten der Geflüchteten auszubauen. Doch trotz all dessen wir der AKP nicht viel Raum zum manövrieren bleiben, sobald der Krieg in Idlib begonnen hat.

Der AKP verbleiben in dieser Situation höchstens drei Optionen. Erstens; sie kann ihren Verpflichtungen aus den Astana-Verhandlungen gerecht werden oder sich auf eine Seite im Idlib-Krieg schlagen. Auch wenn es so aussieht, als habe die AKP die Wahl zwischen zwei Optionen, steckt sie letztendlich in der Klemme: Entweder sie schafft es oder sie fällt. Die AKP kann in diesem Schlamassel, das ihr bereits bis zum Hals reicht, weder einfach gewinnen, noch stürzen oder sich raus halten. Es ist keine Option, den radikalen Gruppen den Rücken zu zudrehen und sie mit dem Krieg alleine zu lassen. Das würde vielmehr zu einem riesigen Desaster führen. Durch einen derartigen Schritt würde sich die Türkei zum Ziel von Racheakten der Gruppen machen, die sie sieben Jahre lang unterstützt hat. Die Option, sich auf die Seite der Dschihadisten zu schlagen und sich auf diese Weise am Idlib-Krieg zu beteiligen, würde andererseits auch zu ganz anderen Katastrophen führen. Eine dritte Option wäre es, die Grenzen zu schließen und die dschihadistischen Gruppen aus Idlib in Richtung Norden zu lenken. Auf diesem Weg könnte das Drohpotential gegen Minbic und die Gebiete östlich des Euphrats erhöht werden. Zudem würden die Dschihadisten dadurch die Möglichkeit verschafft werden, neue Gebiete zu erlangen. Diese Taktik kann dazu dienen, für die eigene Bevölkerung eine Agenda zu kreieren und zugleich auf internationaler Ebene Initiativen für ein Ende des Krieges zu initiieren. Doch auch diese Option stellt keine wirkliche Lösung des Problems dar. Sie könnte nur dazu dienen die dramatischsten Folgen ein wenig heraus zu zögern.

Letztendlich wird Folgendes deutlich: Idlib wird der Ort sein, an dem alle globalen und regionalen Akteure ihre Karten auf den Tisch legen müssen. In Idlib wird sich entscheiden, welche Absprachen zwischen den einzelnen Ländern zum Tragen kommen. Alle Augen sollten daher auf Idlib gerichtet sein.

Im Original erschien der Artikel am 06.08.2018 unter dem Titel “Brunson’u bırak, İdlip’e bak” auf der Homepage des Nachrichtenportals ‘sendika.org’.