»Im Kampf gegen KurdInnen ist jegliche Form von Gewalt legitim«

korucuDorfschützer: paramilitärische Milizen
Mevlüt Küçükyasar, Politologe und Soziologe

Zwischen 1956 und 1962 kämpften ca. 150?000 algerische Moslems, Kollaborateure der Franzosen, die sogenannten Harkis, auf der Seite der französischen Kolonialherrscher gegen AlgerierInnen und wurden nach der Unabhängigkeit Algeriens von einem Tag auf den anderen von den Franzosen ausgeliefert. In Kenia kamen hunderttausende Kollaborateure zum Einsatz, ohne deren Hilfe sich die Kolonialherren kein einziges Jahr hätten am Leben halten können. Ohne den Einsatz der indischen Kollaborateure, die darauf fokussiert waren, eine Karriere unter den Briten zu machen, hätten die Briten niemals ein ganzes Jahrhundert über ganz Indien herrschen können.

Man kann ähnliche Beispiele über alle Kolonien dieser Erde schreiben. Dieses bewährte Muster des Einsatzes von Kollaborateuren zeigt sich in allen Kolonialkriegen und wurde zuletzt auch in Sri Lanka zur blutigen Unterdrückung der tamilischen Befreiungstiger LTTE angewandt.

Wie schaut es in Kurdistan aus?

Jeder kurdische bewaffnete und unbewaffnete Widerstand wurde durch das Prinzip des »divide and conquer« (»teile und herrsche«) unterdrückt und zum Schluss wurden die Kollaborateure selber zu Opfern der faschistoiden Politik der Herrschaftsmächte. Vom Widerstand des Bedirxan Beg in Cizîr (Cizre) bis zum Aufstand von Sêx Seîd in Serhat und Seyîd Riza in Dêrsim (Tunceli) sind die Spuren kurdischer Kollaborateure zu verfolgen, die den Herrschaftsmächten den Weg zum Sieg geebnet haben. Diese bewährte Strategie setzt der türkische Staat auch im Kampf gegen die kurdische Freiheitsbewegung ein.

Zu keiner Zeit wurde aber Kollaboration so systematisch betrieben wie gegen die kurdische Freiheitsbewegung der PKK (Arbeiterpartei Kurdistan), die 1978 gegründet wurde. Nach dem Militärputsch von 1980 und der Ermordung, Verhaftung und Vertreibung tausender Linker und Oppositioneller formierte sich die PKK sehr rasch und flankierte ihre politische Bewegung ab 1984 mit den HRK (Befreiungskräfte Kurdi­stan). Durch einen bewaffneten Guerilla-Kampf wurde gegen die Vernichtungs- und Verleumdungspolitik des türkischen Staates vorgegangen. Der konnte die kurdischen FreiheitskämpferInnen mit konventionellen Mitteln nicht unterdrücken, geschweige denn besiegen. Er holte sich Verstärkung durch die sogenannten Dorfschützer; paramilitärische Einheiten, welche in Kurdistan noch immer gegen die PKK und gegen regierungskritische KurdInnen eingesetzt werden.

Am 27. Juni 1984 wurde ein Gesetz zur Rekrutierung von vorübergehenden Dorfschützern für den Kampf gegen SeparatistInnen verabschiedet. Dieses System existiert noch immer und mittlerweile sind laut einer parlamentarischen Anfrage von 2009 an den türkischen Innenminister 47?819 vorübergehende und 24.088 »freiwillige«, in Summe 71?907 Dorfschützer im Amt. Die Zahl liegt aktuell (Stand 2013) bei mehr als 80?000 und ist trotz des Rückzugs der kurdischen Guerilla noch immer im Steigen begriffen. Es werden weiterhin neue Dorfschützer rekrutiert und man scheut nicht davor zurück, diese Ereignisse auch öffentlich kundzutun.

Wer sind diese Dorfschützer?

Dorfschützer sind paramilitärische Einheiten, welche in Kurdistan gegen die PKK und gegen regierungskritische KurdInnen eingesetzt werden. Sie bestehen zu einem beträchtlichen Teil aus Stammesführern, Großgrundbesitzern, Familien und Einzelpersonen, die oft seit Jahrzehnten mit dem Staat zusammenarbeiten und versuchen, in Kurdistan für die Interessen des Staates einzutreten. Ein Teil der Dorfschützer tritt diesem System freiwillig bei und andere werden mit Mord, Verhaftung und Vertreibung bedroht und müssen unter Druck Dorfschützer werden. Millionen von KurdInnen, die eine Kollaboration abgelehnt haben, mussten entweder flüchten oder sich dem Druck des Militärs und der Dorfschützer beugen. Tausende kurdische Dörfer, die das Dorfschützertum abgelehnt haben, wurden vom Staat niedergebrannt und dem Erdboden gleichgemacht.

Warum Dorfschützer und nicht nur gut ausgebildete Spezialeinheiten?

Dorfschützer sind oft wirksamer als gut ausgebildete Spezialeinheiten, weil sie das Gelände und das Gebiet sehr gut kennen. Sie sind vor Ort und können die Lage 24 Stunden kontrollieren und einen permanenten Druck auf DorfbewohnerInnen ausüben und deren Kontakt zur Guerilla verhindern. Auf der anderen Seite sind sie für türkische Soldaten Wegbereiter für militärische Angriffe auf die Guerilla. Ein weiterer Vorteil für den türkischen Staat ist, dass für die Öffentlichkeit und die Medien der Tod eines türkischen Soldaten bitterer ist als der Tod eines kurdischen Dorfschützers.

Der Einsatz eines Dorfschützers führt sehr oft zu einem Bruch mit nachhaltigen Folgen für die kurdische Gesellschaft. Die Auseinandersetzung wird als Geschwisterkrieg gesehen und dient als Anlass, um KurdInnen gegeneinander aufzuhetzen und ihren legitimen Freiheitskampf als sinnlos erscheinen zu machen.

Die Bilanz dieses Systems?

Dorfschützer sind dem Staat gegenüber loyal und werden von diesem mit einer großen Macht ausgestattet. Sie können in den Dörfern tun und lassen, was sie wollen, und missbrauchen ihre Macht, indem sie ihre persönlichen Interessen mit Waffengewalt durchsetzen. Zum Beispiel sind nahezu alle Morde an syrisch-orthodoxen ChristInnen in den vergangenen zwanzig Jahren von Dorfschützern begangen worden. Tausende DorfbewohnerInnen wurden von Dorfschützern enteignet, vergewaltigt und ermordet. Die Täter werden nie zur Rechenschaft gezogen. Schwere Delikte wie Drogen- und Waffenhandel, Diebstahl von Tieren, Besetzung von Landflächen, Vergewaltigung von Frauen und Gewalt gegen andere DorfbewohnerInnen, Zwangsenteignung von Ackerflächen, Schutzgelderpressung und vieles mehr wird von niemandem geahndet. Das Massaker in Mardin vom 4. Mai 2009, als 44 ZivilistInnen, darunter 6 Kinder und 16 Frauen, bei einer Hochzeit getötet wurden, zeigt die Dimension der grenzenlosen Gewalt der Dorfmilizen.

Die aktuelle Lage? 

Auf Grund des politischen Widerstands des kurdischen Volkes in der Türkei, trotz aller Repressalien, wurde der türkische Staat nun zu neuerlichen Verhandlungen mit der PKK gezwungen. Die Initiative ging jedoch wiederum von der kurdischen Seite mit ihrem politischen Vertreter, dem seit 1999 inhaftierten Vorsitzenden der PKK, Abdullah Öcalan, aus. Die PKK hat ihren Willen für eine friedliche Lösung durch die erneute Verkündung eines einseitigen Waffenstillstands am 21. März sowie den Abzug ihrer bewaffneten Einheiten seit dem 8. Mai bewiesen und ihm damit Kraft verliehen. Eine Antwort der türkischen AKP-Regierung ist die Rekrutierung von weiteren 960 Dorfschützern innerhalb der letzten Monate.

Die Erdogan-Regierung muss verstehen, dass ein Frieden in der Türkei nur dann möglich ist, wenn paramilitärische Einheiten wie die Dorfschützer aufgelöst und Verbrecher für ihre Taten zur Verantwortung gezogen werden. Außerdem ist eine Wahrheits- und Versöhnungskommission notwendig, die sowohl die Dorfmilizen als auch die militärisch und politisch Verantwortlichen zur Rechenschaft zieht. Das ist ein notwendiger Schritt von staatlicher Seite, um das Vertrauen der kurdischen Bevölkerung wiederzugewinnen.

Kurdistan Report Nr. 168 Juli/August 2013

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