Immer mehr Menschen in der Türkei aus Protest im Hungerstreik

Arif Rhein, Civaka Azad, 15.05.2017

In Zuge des Putschversuches im Juli 2016 und des Verfassungsreferendums vor circa einem Monat steigt der staatliche Druck auf kritische Stimmen in der Türkei. Zehntausende Staatsbedienstete wurden entlassen, tausende politischer AktivistInnen verhaftet und auch militärisch wird rücksichtslos gegen den gesellschaftlichen Widerstand vorgegangen. Dagegen formiert sich auf immer wieder neue Art und Weise Protest. Während den landesweiten Demonstrationen gegen das türkische Verfassungsreferendum in den deutschen Medien anfangs noch Aufmerksamkeit geschenkt wurde, gerät eine andere Protestform in den Hintergrund: Derzeit treten vermehrt Menschen in den Hungerstreik, um auf ihre kritische Lage aufmerksam zu machen. Die individuellen Anliegen sind zugleich Ausdruck zunehmender gesellschaftlicher Probleme in der Türkei.

Protest gegen den Verlust des Arbeitsplatzes

Seit dem 11. März befinden sich die Literaturdozentin Nuriye Gülmen und der Grundschullehrer Semih Özakça in einem unbefristeten Hungerstreik. Der Protest gegen ihre Entlassung und für eine Wiedereinstellung fand in den letzten Tagen auch in den deutschen Medien breite Öffentlichkeit. Gülem und Semih demonstrieren dagegen, dass sie im Rahmen der umfangreichen Entlassungswelle nach dem Putsch im Juli 2106 ihre Arbeit verloren. Mehr als 150.000 Staatsbedienstete an Universitäten, der Justiz oder dem Sicherheitsbereich verloren seither unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung ihre Arbeitsstelle. Der seit über zwei Monaten andauernde Hungerstreik in Ankara findet breite Unterstützung weiter Gesellschaftskreise in der Türkei. Nuriye Gülmen verwies in diesem Zusammenhang auf ähnliche derzeit laufende Proteste in der Türkei: „In Düzce befindet sich die Architektin Alev Şahin im Sitzstreik, auch sie hat per Dekret ihre Arbeit verloren. In Didim protestiert der Bildungsgewerkschafter Barış Bozkır ebenfalls seit Wochen jeden Tag. Es gibt viele weitere Beispiele aus Istanbul und Ankara.“  Mit der steigenden Aufmerksamkeit auch internationaler Kreise steigt jedoch auch der Druck der türkischen Sicherheitsorgane. So wurden die beiden Hungerstreikenden und ihre UnterstützerInnen in der letzten Woche von der Polizei angegriffen.

Hungerstreik zum Muttertag

Mittlerweile schlossen sich die Mütter von Ali İsmail Korkmaz und Ahmet Atakan dem Hungerstreik in Ankara an. Ihre Söhne wurden während der Gezi-Proteste im Jahr 2013 von der türkischen Polizei erschossen. Eine unabhängige und umfassende juristische Aufklärung der beiden Morde bleibt seither aus. Die beiden Mütter erklärten, sich den Forderungen von Gülmen und Özakça anzuschließen.

Hungerstreik für den Leichnam des eigenen Sohnes

Weitgehend unbeachtet verlief bisher der seit nunmehr 81 Tagen andauernde Hungerstreik von Kemal Gün. Er befindet sich seit fast drei Monaten auf dem Seyit Rıza-Platz der Stadt Dersim im Hungerstreik, um auf die Verweigerung des Leichnams seines Sohnes aufmerksam zu machen. Sein Sohn Murat Gün war Mitglied der DHKC und wurde bei einem Angriff der türkischen Luftwaffe getötet. Seither wird dem 70-jährigen Gün der Leichnam seines Sohnes nicht ausgehändigt. Sein Sohn starb bei dem Luftangriff als Teil einer 11-köpfigen Gruppe. Vier Leichnamen wurden ohne Rücksprache mit den Familien auf in anonymen Gräbern bestattet, während von weiteren fünf Leichnamen jegliche Informationen fehlen. Gün leidet nach fast drei Monaten Hungerstreik mittlerweile an Sehverlust. Die türkischen Behörden reagieren mit einer Verweigerungshaltung auf Güns Protest. Gespräche mit Behördenvertretern verliefen mehrmals ergebnislos. Stattdessen wird dem hungerstreikenden Vater für jeden Tag seines Hungerstreiks eine Strafe von 227 türkische Lira berechnet, die sich mittlerweile auf 18.614 TL (€ 4777) beläuft.