Juristinnen und Juristen warnen vor Entstehung faschistischer Diktatur in der Türkei

hdp saldiriAufruf von ELDH und MAF-DAD, November 2016

Die komplette Ausschaltung der politischen Opposition in einer Gesellschaft, und insbesondere der demokratischen Kräfte, ist ein typisches Kennzeichen für die mögliche Entstehung einer faschistischen Diktatur.

Schon seit Jahren werden in der Türkei schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen und die Missachtung demokratischer Grundsätze festgestellt. Dies wird nicht nur durch Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International oder Human Rights Watch berichtet. Auch die Europäische Kommission kommt in ihren sogenannten „Fortschrittsberichten“ zum gleichen Ergebnis, auch wenn diese Berichte oft mit Rücksicht auf die Beziehungen zur türkischen Regierung geschönt werden. Der im November 2016 veröffentlichte Bericht weist immerhin auf gravierende Verletzungen demokratischer Grundregeln in der Türkei hin.

In besonders extremer Form richten sich die staatlichen Repressionsmaßnahmen gegen die kurdische Bevölkerung und ihre gewählten Volksvertreter*innen im nationalen Parlament und in den Städten und Dörfern im Südosten der Türkei. Das umstrittene neue Gesetz zur Aufhebung der parlamentarischen Immunität wurde ausschließlich gegen die HDP eingesetzt um gegen 50 ihrer Abgeordneten insgesamt 350 Strafverfahren einzuleiten.

Tatsächlich war die Aufhebung der Immunität nur ein Baustein in dem Programm der Regierung zur Beendigung des Mehrparteiensystems und zur Ausschaltung der politischen Opposition. Dem gingen zahlreiche Verbote von verschiedenen kurdischen Parteien voraus, ebenso wie die Wiederholung der Parlamentswahl im November 2015, nachdem die herrschende Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) die Mehrheit im Parlament verloren hatte und die prokurdische HDP (Demokratische Partei der Völker) viertstärkste Fraktion im Parlament geworden war. Vorübergehend für ca. 1 Monat stellte die HDP sogar zwei Minister. Nach den Wahlen im November 2016 wurde die HDP sogar drittstärkste Partei im türkischen Parlament.

Danach eskalierten die Angriffe gegen die kurdische Bevölkerung und ihre demokratisch gewählte Vertretung. In Südostanatolien wurden vielen Städte, Stadtteile und Dörfer vom Militär zerstört und Bürgermeister*innen des Amtes enthoben. Viele der Bürgermeister*innen wurden verhaftet, zuletzt wurden die beiden Ko-Bürgermeister*innen der Stadt Diyarbakir, Gültan Kışanak und Fırat Anlı verhaften, ebenso wie weitere ca. 700 HDP Parteimitglieder. Fast täglich folgen Verhaftungen von kurdischen Bürgermeister*innen und anderen Politiker*innen.

Am 4. November 2016 wurden 10 Parlamentsabgeordnete der prokurdischen HDP festgenommen und inhaftiert, darunter die beiden Ko-Vorsitzenden der HDP Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ, sowie die Abgeordneten Selma Irmak, Leyla Birlik, Nursel Aydoğan, Ferhat Encü, Gülser Yıldırım, Abdullah Zeydan, Nihat Akdoğan und İdris Baluken. Ihnen wird Mitgliedschaft einer terroristischen Organisation bzw. deren Unterstützung vorgeworfen. Sie wurden aufgrund ihrer politischen Arbeit und ihren politischen Reden inhaftiert.

Mit den Angriffen auf die HDP versucht die türkische Regierung die konsequenteste demokratische Kraft im türkischen Parlament auszuschalten. Die verbliebenen HDP Abgeordneten haben deswegen jetzt beschlossen, die Mitarbeit im Parlament einzustellen. Die zweitstärkste politische Partei im türkischen Parlament, die Republikanische Volkspartei (CHP), die für die Aufhebung der Immunität der Parlamentsabgeordneten gestimmt hatte, hat die Verhaftung der HDP Abgeordneten als verfassungswidrig verurteilt. Der türkische Präsident hat der CHP gedroht, sie werde dafür bezahlen, und ein gerichtliches Verfahren gegen die Abgeordneten CHP wegen ihrer Erklärung eingeleitet.

Die Angriffe der türkischen Regierung auf die HDP und die sonstige politische Opposition in der Türkei sind durch nichts zu rechtfertigen. Sie verstoßen gegen die türkische Verfassung, gegen die von der Türkei ratifizierten internationalen und europäischen Verträge, wie die Europäische Menschenrechtskonvention und den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte.

EJDM und MAF-DAD so wie die weiteren Unterzeichner*innen dieser Erklärung rufen die Mitgliedssaaten der Europäischen Union und die europäische Zivilgesellschaft dazu auf, gegen die Verletzung grundlegender demokratischer Bestimmungen eine klare Haltung einzunehmen. Sanktionen gegen die Türkei dürfen dabei nicht ausgeschlossen werden. Für die bisherige „Appeasement-Politik“ der Europäischen Union und ihrer Mitgliedsstaaten kann es kein Verständnis geben.

Die EJDM und MAF-DAD, wie die weiteren Unterzeichner*innen dieses Appells fordern, dass die EU und ihre Mitgliedsstaaten die nötigen Maßnahmen treffen damit die türkische Regierung folgendes sicher stellt

  • die sofortige Beendigung des Ausnahmezustandes in der Türkei, der militärischen Angriffe auf die kurdische Bevölkerung und der damit verbundenen Einschränkung von Menschenrechten und demokratischen Grundsätze;
  • die Freiheit der HDP ihre politischen und demokratischen Rechte auszuüben;
  • die Respektierung demokratischer und rechtsstaatlicher Grundsätze, der Menschenrechte und insbesondere der Pressefreiheit und Meinungsäußerungsfreiheit in der Türkei, sowie die Wiederzulassung der verbotenen Medien in der Türkei;
  • die Einstellung der politisch motivierten Gerichtsverfahren in der Türkei, die Einstellung entsprechender Anträge der türkischen Regierung zu solchen Verfahren gegen militante türkische und kurdische Organisationen in den europäischen Ländern;
  • die Freilassung der tausenden politischen Gefangenen in der Türkei, darunter auch die demokratisch gewählten Abgeordneten und Kommunalpolitiker*innen der HDP;
  • die Streichung von oppositionellen türkischen Organisationen von der Terrorliste der Europäischen Union;
  • die Wiederherstellung der richterlichen Unabhängigkeit und der freien Berufsausübung von Rechtsanwält*inen und Staatsanwält*innen und für die Wiedereinstellung aller aus politischen Gründen entlassenen oder suspendierten Richter*innen, Staatsanwält*innen, sowie anderer Staatsbediensteter;
  • für einen sofortigen Abschiebestopp und Auslieferungsstopp in die Türkei; die Türkei ist kein sicherer Herkunftsstaat und kein sicherer Drittstaat.

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Wer diesen Appell unterstützen möchte, kann die folgende pdf-Datei herunterladen, ausdrucken, ausfüllen und zurücksenden.

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