“Der Staat sabotiert den Prozess”

Murat KarayilanMurat Karayilan, Vorsitzender des Exekutivrats der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK), bewertete in einem Interview mit der Nachrichtenagentur Firat (ANF) die neusten Entwicklungen in der Türkei und Kurdistan wie auch den gegenwärtigen Friedensprozess.

Er betonte unter anderem, dass es trotz des Rückzugs der Guerilla verstärkt militärische Aktivitäten des türkischen Staates in Kurdistan gebe und auch der Bau von Militärposten in kurdischen Gebieten beschleunigt werde. Mit diesen Vorbereitungen versuche er alles Mögliche zur Sabotage des Friedensprozesses zu unternehmen. Er bereite sich auf den Krieg vor, das sei klar ersichtlich, sagte Karayilan und kam auch auf die KCK-Verfahren und die Gefangenschaft der kurdischen PolitikerInnen zu sprechen: „Diejenigen, die Politik betreiben sollen, bleiben in den Gefängnissen und die Guerilla zieht sich zurück. Also was hat man vor? Wenn eine neue Phase, eine demokratische Lösungsphase beginnt und die politische Lösung auf der Tagesordnung steht, dann müssen die kurdischen PolitikerInnen freigelassen werden.“ Falls es nicht dazu komme, könne es im Hinblick auf den Prozess gefährlich werden, erklärte Karayilan.

Auch zum Gezi-Park-Aufstand und die Reaktion des Staates nimmt Karayilan ausführlich Stellung: “Der Widerstand, der sich im Rahmen des Gezi-Parks entwickelt hat, stellt eine wichtige Etappe in der Geschichte der Demokratie in der Türkei dar. Wir denken, dass dies eine neue Situation ist und für die Zukunft eine wichtige Bedeutung spielen wird.”

Diese Übersetzung gibt nur Ausschnitte aus einem sehr ausführlichen Interview wieder und wurde redaktionell stark gekürzt.

Zunächst möchte ich eine Frage zum demokratischen Lösungsprozesses stellen: Nach dem Besuch der BDPlerInnen letzte Woche erklärten Sie, mit dem Fortschritt des Prozesses nicht zufrieden zu sein. Warum sind Sie nicht zufrieden?

Seit zwei, drei Wochen diskutieren wir unter uns ernsthaft darüber. Denn die Haltung des Staates und der Regierung führt zu immer mehr Besorgnis. Aus diesem Grund hatten wir im Hinblick auf die Praxis und gegenwärtige Annäherungsweise (der türkischen Regierung) Diskussionen auf verschiedenen Ebenen. Später kam auch die BDP-Delegation, die sich mit dem Vorsitzenden Apo getroffen hatte. Sie hat uns einiges übermittelt. Wir haben gesehen, dass unser Vorsitzender in erheblicher Besorgnis wegen dem Prozess ist – wie wir. Wir haben verstanden, dass er dieselben Gedanken, dieselben Sorgen wie wir hat. Wir wollen zu dieser Etappe nichts Konkretes sagen, nur dass es ein ernsthaftes Problem ist, dass es trotz der großen Verantwortung des Vorsitzenden Apo und mehrerer Schwierigkeiten, unter denen wir hier die Entscheidung und die praktischen Schritte durchsetzen mussten, keine vertrauensbildenden Schritte des türkischen Staates und der türkischen Regierung zur Lösung des Problems gegeben hat. Wir haben, seitdem die Imrali-Gespräche im Januar begonnen haben und uns dies mitgeteilt wurde, bis heute keine militärische Aktion gegen den Staat durchgeführt. Seit zwei Monaten, de facto seit drei Monaten besteht eine offizielle Waffenruhe. Es gab die Freilassung der von uns gefangen gehaltenen Staatsbediensteten. Es gibt die Phase der Entscheidung zum Rückzug unserer Kräfte und deren praktischer Umsetzung. Trotz all dieser wichtigen und strategischen Entscheidungen – lassen wir mal das Einleiten von Schritten durch Staat und Regierung zur Lösung beiseite – tritt immer mehr eine Haltung und Verhaltensweise in den Vordergrund, die Angst weckt und die Unsicherheit vertieft. Dieser Prozess ist nicht zufällig entstanden, sondern aus ideologischer, philosophischer und politischer Sicht entwickelt worden. Diese Essenz brachte der Vorsitzende Apo in seiner an Newroz verkündeten Botschaft zum Ausdruck. Der Geist des Prozesses hat ein neues Zeitalter, eine neue Türkei und eine neue Region zum Ziel. Nun basiert die Problemlösung nicht mehr auf Gewalt und Unterdrückung, sondern auf humanen Mitteln, Dialog und Diskussion, um die kurdische Frage zu lösen. Es war die Rede vom „Kampf der Ideen“, „nicht mehr die Waffen, sondern die Ideen sollen sprechen; der Widerstand soll auf politischer Ebene geführt werden“. Trotzdem wir alle unsere Aufgaben für die Entwicklung des Prozesses erledigt haben, tut die türkische Seite nichts und zeigt eine gewalttätige und unterdrückerische Praxis, die Besorgnis erregt.

Nach dem Rückzug wittern sie ihre Chance und bauen Militärposten

Zum Beispiel müsste die Anzahl der Militärposten und Bataillone angesichts des Rückzugs der Guerilla aus den Bergen Nordkurdistans reduziert oder zumindest auf gleichem Niveau gehalten werden. Doch wir sehen, dass sie mit der Einstellung „Das ist unsere Chance“ neue Projekte zum Bau von Militärbasen durchsetzen. Vielleicht wissen die Menschen aus dem Westen der Türkei nichts davon, doch das will ich festhalten: Heute stehen in Sirnex (Sirnak), Colemêrg (Hakkari) und zahlreichen weiteren Städten und Provinzen Kurdistans regelrecht Militärkasernen. Wie gesagt, die Bevölkerungszahl von Çelê (Çukurca) beträgt 9000, die Zahl der in der Umgebung stationierten Soldaten 18000. In jedem Dorf Semzînans (Semdinli) ist entweder ein Bataillon oder ein Regiment stationiert. Die Landschaft Kurdistans ist mit Militärkasernen gepflastert und die meisten Gebiete sind regelrecht Minenfelder. Jetzt, wo die Guerilla die Rückzugsphase begonnen hat, waren denn die neuen Militärprojekte nötig? Es werden jetzt in Semzînan neue Militärposten gebaut, auch in Gebieten, in denen es noch Freiräume gab, versuchen sie es nun. In Dêrsim (Tunceli) werden neue Militärposten gebaut und neue militärische Projekte entwickelt. Was soll damit bezweckt werden? Während wir unsere Kräfte zurückziehen, füllen sie die Gebiete mit Soldaten.

Auch das Dorfschützersystem muss abgeschafft werden

Ein weiterer Punkt: Der Geist des Prozesses muss eine zivildemokratische Gesellschaft zum Ziel haben. Eine zivile, demokratische Gesellschaft, ohne Gewalt und Waffen. Im Verständnis einer zivilen Gesellschaft ist es falsch, einen Teil der Bevölkerung mit Waffen auszurüsten. Zudem kann eine mit Waffen ausgestattete Familie diese als Herrschaftswerkzeug gegen eine andere Familie nutzen. Das Dorfschützersystem ist also hinderlich für eine normale harmonische gesellschaftliche Entwicklung und muss abgeschafft werden, wenn nun der Krieg endet und eine neue Phase beginnt und der demokratische Lösungsprozess auf der Tagesordnung steht. Natürlich müssen entsprechende Maßnahmen getroffen werden, damit die Menschen dabei keine Opfer bringen müssen. Das ist zwingend notwendig. Vorher ist eine gesellschaftliche Versöhnung und Normalisierung in Kurdistan nicht möglich. Doch es werden immer noch neue Dorfschützer rekrutiert.

Wir wollen die Denkweise der AKP verstehen. Wird sie das Dorfschützersystem abschaffen oder nicht? Denn es ist eine aufgrund des Krieges entwickelte Struktur und jetzt, wo der Krieg endet, soll sie aufrechterhalten werden oder nicht? Wir warten auf eine Erklärung zur Sichtweise des Staates und der Regierung auf das Dorfschützersystem, warum trotz unseres Rückzugs neue Dorfschützer rekrutiert werden. Das ist eine sehr ernste Situation.

Drohnenflüge dauern an

Immer noch halten die Aufklärungsflüge der Drohnen an. Ich hatte eine Zeit lang erklärt, sie hätten abgenommen, doch finden sie in dem von uns so genannten Meder-Verteidigungsgebiet in Südkurdistan ständig wieder statt. Mit welcher Absicht? Im Militär bedeutet Aufklärung Vorbereitung auf eine Aktion. Dann könnte auch ich sagen: „Späht die Staats- und Sicherheitskräfte aus und bereitet euch auf Aktionen vor.“ Soll ich das? Kann sich so der Prozess entwickeln? Wenn nicht, warum werden sie dann fortgesetzt, wenn sie nicht in böser Absicht auf Aktionsvorbereitung und Luftangriffe hindeuten? Wir hatten bereits früher erklärt, dass dies den Rückzug verlangsamen wird.

Der Staat versucht alles Mögliche, um den Prozess zu sabotieren

 

Was bedeutet das?

Mit diesen Vorbereitungen versucht die Regierung alles Mögliche zur Sabotage der Phase zu unternehmen. Sie bereitet sich auf den Krieg vor, das ist klar ersichtlich. Das führt bei uns zu ernsthaften Problemen. Es herrscht große Besorgnis. Und ich sehe, unsere Bevölkerung hat dieselben Sorgen. Jeden Tag steigen dem Frieden und ihrer Heimat verbundene Menschen und VertreterInnen demokratischer Institutionen in die Berge, um Auseinandersetzungen zu verhindern. Wenn die AKP wirklich den Frieden will, soll sie erklären, was sie mit so vielen Operationen in Kurdistan erreichen will.

Um Vertrauen zu schaffen, muss das Isolationshaftsystem von Imrali überwunden werden

Andererseits ist die Rede von einem neuen Prozess. Die kurdische Frage ist eine hundertjährige Frage der Türkei, eine Frage, die seit Beginn der Verleugnungspolitik zwei Jahre nach der Republikgründung nie von der Tagesordnung verschwunden ist. Um sie an der Wurzel zu packen und aus der Welt zu schaffen, hat unser Vorsitzender Apo aus eigener Initiative einen neuen Prozess in Gang gesetzt. Er hat den Dialog aufgebaut, er führt die Verhandlungen. Aber an der Isolation gegen seine Person wird weiter festgehalten. Aus seiner Familie durfte allein sein Bruder ihn einmal nach vier Monaten Totalisolation besuchen. Seit dem 27. Juli 2011 werden die wöchentlichen Besuchsanträge seiner AnwältInnen jedes Mal mit willkürlicher Begründung abgelehnt. Seine Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte halten weiter an, deshalb müssen seine AnwältInnen ihn besuchen dürfen. Weshalb wird dieses Recht mit den Füßen getreten? In einer Kriegssituation wäre das noch irgendwie nachvollziehbar. Aber seit einer gewissen Zeit führt der Staat selbst Gespräche mit ihm, auch Delegationen der BDP haben ihn mehrfach besuchen können. Aber warum dürfen seine AnwältInnen nicht zu ihm? Und warum dürfen die Angehörigen der Mitgefangenen Abdullah Öcalans diese nicht auf Imrali besuchen? Es herrschen also strenge Isolationshaftbedingungen auf Imrali. Wie soll der Prozess vorankommen, wie soll Vertrauen entstehen unter solchen Bedingungen?

Wir müssen mit unserem Vorsitzenden in Verbindung stehen

Für die kurdische Seite führt der Vorsitzende Apo die Gespräche. Deshalb muss die Kommunikation mit uns möglich sein und dass verschiedene Delegationen hin- und herreisen können. Er könnte BeraterInnen benötigen. Das ist keine einfache Sache. Ein Problem, das seit hundert Jahren besteht, soll gelöst werden. Wir treffen in diesem Prozess keine Entscheidung ohne Rücksprache mit Öcalan und umgekehrt auch nicht. Dafür wir müssen also Delegationen hin- und herreisen können, es müssen Briefe geschickt werden können. Andernfalls werden Entscheidungsprozesse unnötig in die Länge gezogen. Wenn also die Frage tatsächlich gelöst werden soll, dann muss sich an den Isolationsverhältnissen auf Imrali einiges ändern. Unser Vorsitzender muss die Möglichkeit erhalten, mit der Außenwelt in Kontakt zu treten. Aber bei diesem Thema gibt es keinerlei Fortschritte. Seine Isolierung hält weiter an.

Die AktivistInnen der kurdischen Politik sind weiter in Haft

Die nächste Frage ist, ob der Staat nicht endlich den Raum freigeben sollte, um Politik zu betreiben? Es hieß, die Waffen sollten zum Schweigen gebracht werden, damit die Gedanken, die Politik sprechen können. Nun, wir haben die Waffen zum Schweigen gebracht. Müssten nun nicht die kurdischen AktivistInnen, die den politischen Kampf führen sollen, in die Freiheit entlassen werden? Natürlich, aber wir sehen, dass die Mehrheit von ihnen weiterhin in Haft sitzt. Sie sollen in Haft bleiben und die Guerilla soll sich zurückziehen. Wir fragen uns, was damit erreicht werden soll. Wenn wirklich eine neue Phase beginnen soll, in der die kurdische Frage auf demokratischem und friedlichem Wege gelöst werden soll, dann müssen die politischen Gefangenen entlassen werden.

Die bei den sogenannten KCK-Operationen Verhafteten haben selbst nach geltendem türkischem Recht keinerlei Straftaten begangen. Wenn ihnen etwas vorgeworfen werden kann, dann nur, dass sie im Namen der kurdischen Sache Politik betreiben. Und das stellt keine Straftat dar. Aber der kolonialistischen und assimilatorischen Mentalität des türkischen Staates zufolge stellt jegliche Haltung in Verbindung mit der kurdischen Identität einen Strafbestand dar. Das heißt, dass diese Menschen auf der Basis einer kurdInnenfeindlichen Grundhaltung des Staates festgenommen worden sind. Dabei waren sie auf legaler Basis politisch tätig, einige von ihnen gar durch das Volk zu ihren RepräsentantInnen gewählt worden. Es ist klar, dass sie aufgrund einer feindseligen Politik festgenommen und zu Geiseln des Staates gemacht worden sind. Wir stecken nun seit sechs Monaten in einem Lösungsprozess, es werden keine Kugeln abgefeuert, die Guerilla zieht sich zurück, dann erwarten wir auch, dass diese Menschen endlich freigelassen werden.

Die Situation der kranken Gefangenen ist besorgniserregend

Aber lassen wir mal die politischen Gefangenen beiseite, dieser Staat ist noch nicht einmal bereit, Gefangene aus der Haft zu entlassen, die sich aufgrund ihrer gesundheitlichen Situation an der Schwelle zum Tod befinden. Ihnen müsste die Möglichkeit geboten werden, entweder draußen medizinische Versorgung zu bekommen oder ihr Leben bei ihren Angehörigen ausklingen zu lassen. Aber das passiert in der Türkei nicht. Weshalb? Weil es sich bei ihnen um Kurdinnen und Kurden handelt, weil der Staat eine rassistische Trennung zwischen den Menschen macht. Viele unserer FreundInnen sind in Haft gestorben, viele Todkranke sitzen weiterhin in Haft. Die kurdInnenfeindliche Politik des türkischen Staates ist also mehr als offensichtlich.

KCK-Verfahren sind Zeugnis der KurdInnenfeindlichkeit

Wir haben es zuletzt in den KCK-Hauptverfahren in Amed (Diyarbakir) und in Istanbul vor Augen geführt bekommen: Die Justiz ist zu einem Kampfmittel gegen die kurdische Bevölkerung und den kurdischen politischen Kampf geworden. Wie lächerlich ist es, wenn selbst die Staatsanwaltschaft die Haftentlassung von sechs Angeklagten fordert, das Gericht aber nur in zwei Fällen zustimmt und anschließend den nächsten Verhandlungstag in den Herbst verlegt? Dieses Gericht macht sich mit diesem Verhalten doch lustig über den Lösungsprozess. Wir wollen wissen, was dahintersteckt. Diese Gerichtsverfahren können nicht losgelöst vom kolonialistischen System der Türkei betrachtet werden. Mit diesen Gerichten wird Krieg geführt gegen das kurdische Volk und seine Politik.

Die türkischen Gerichte agieren wie Kriegsgerichte

Diese kolonialistischen Gerichte haben ihre Mentalität auch im Verfahren zum Roboskî-Massaker offenbart. Es geht um ein offensichtliches Massaker an 34 Zivilisten und die Justiz spricht zunächst von „fahrlässiger Tötung“ und stellt dann das Verfahren ganz ein. Mit dieser Haltung sollen ganz klar die Täter gedeckt und die Tat unter den Teppich gekehrt werden.

Wie sollen wir angesichts dessen als Bewegung den Prozess Schritt für Schritt fortführen? Diese Frage richte ich an alle Regierungsverantwortlichen. Wie soll das funktionieren? Wenn sie an ihrer Verleugnungspolitik, an ihrer kolonialen Politik festhalten wollen, ist das für uns ein Grund zum bewaffneten Widerstand. Denn das ist die Reproduktion der staatlichen Haltung aus den 90er Jahren. Wenn wir in eine „neue Phase“ eintreten wollen, eine „neue Türkei“ aufbauen wollen, dann muss dieser Politik der Rücken gekehrt werden.

Auf der zweiten Stufe muss der Staat handeln

Zusammen mit all dem haben viele Gesetze in der Türkei, die allein aus kurdInnenfeindlichen Motiven erlassen worden sind, weiterhin Gültigkeit. Die Antiterrorgesetze und die Wahlhürde sind nur die bekannteren Beispiele. Und bei keinem dieser Gesetze ist die Rede von einer Änderung. Im Gegensatz zu einem Lösungsprozess werden also alle Rahmenbedingungen einer kurdInnenfeindlichen Politik aufrechterhalten.

Wir befinden uns offiziell seit drei Monaten, faktisch seit fünf Monaten, im Waffenstillstand. Seit sechs Wochen ziehen wir unsere Kräfte zurück. Damit sind wir unserer Verantwortung im ersten Schritt des dreistufigen Lösungsplans unseres Vorsitzenden gerecht geworden. Auch wenn sich Teile unserer bewaffneten Kräfte weiterhin im Rückzug befinden, sind wir bereits zur zweiten Stufe des Lösungsprozesses übergegangen. Nun ist der Staat dran. Er muss die Aufgaben erfüllen, die unter seine Verantwortung fallen. Bisher hat er nichts gemacht. Ich habe vorhin aufgezeigt, dass er eher eine Praxis zeigt, die alles andere als lösungsorientiert ist. Das wirft bei uns natürlich Fragen auf. Aber der Prozess ist deshalb noch nicht für beendet erklärt, wir setzen ihn weiter fort. Nur muss jetzt auch der Staat handeln.

Was muss der Staat auf dieser Stufe tun?

Wie gesagt, in der zweiten Stufe fallen die meisten Aufgaben dem Staat und der Regierung zu. Deshalb beobachten wir ihr Verhalten sehr genau. Es gibt Schritte, die der Staat sofort umsetzen muss, andere müssen folgen. Zu den dringenderen gehört beispielsweise die Aufhebung der Isolationshaft unseres Vorsitzenden. Ohne das wird der Prozess nicht voranschreiten können. Hinsichtlich der Dorfschützer und des Baus neuer Kasernen muss der Staat sich eindeutig verhalten und glaubwürdige Schritte unternehmen. Mit dieser Aufzählung will ich niemanden bedrohen und auch dem Staat kein Ultimatum setzen. Aber wir wollen unserer Bevölkerung und der gesamten Öffentlichkeit kundtun, dass wir als KCK und PKK im Zuge des Lösungsprozesses die uns zufallenden Aufgaben erfüllen und weiterhin erfüllen werden. Allerdings muss der Staat nun auch seiner Verantwortung gerecht werden. Es mag zwar stimmen, dass seine Militäroperationen seit drei Monaten weitgehend eingestellt worden sind. Aber außerdem hat sich bei ihm bisher kaum etwas getan.

Der Prozess läuft nur auf zwei Beinen

Kurz gesagt, der Prozess kann auf einem Bein nicht vorankommen, er geht nur auf zwei Beinen. Das erste Bein bewegt sich voran, nun muss das zweite folgen. Wir erwarten noch vor der Sommerpause einige parlamentarische Schritte. Es heißt beispielsweise, die KCK-Gerichtsverfahren von Amed und Istanbul seien gegen den Lösungsprozess gerichtet und der Staat könne dagegen nicht direkt intervenieren. Wenn dem so ist, dann fordern wir die Regierung auf, diese Sackgasse mit einer Justizreform zu überwinden. Es sei angemerkt, dass ich nicht daran glaube, dass es an diesen Gerichten liegt. Es ist eher das dahintersteckende System, ein System mit kolonialer Mentalität. Es ist nicht überwunden und seine Organe und Institutionen arbeiten weiterhin. Der türkische Ministerpräsident spricht immer wieder davon, dass er es mit dem Prozess ernst meint. Bitte sehr, zeig Deine Ernsthaftigkeit in der Praxis. Mach ernstzunehmende Schritte. Beende die Isolation auf Imrali, lass die kurdischen PolitikerInnen frei, lass die kranken Gefangenen frei, zeig es in der Praxis. Freundliche Worte allein genügen nicht.

Wenn der Prozess stoppt, ist der Staat verantwortlich

Wir sagen offen und ehrlich: Wenn der Staat und die Regierung die kurdische Frage lösen wollen, müssen sie ernsthaft handeln. Es ist die Zeit praktischer Schritte. Wenn sie das nicht tun, wird der Prozess ins Stocken geraten. Und wenn er dann schließlich stoppt, ist der Staat allein dafür verantwortlich. Von nun an hängt der Prozess vom Verhalten der AKP-Regierung ab. Wir haben nämlich alles getan, was wir bisher im Rahmen einer Lösung tun können. Und wenn der Staat nicht darauf reagiert, müssen wir die Situation überdenken und unser weiteres Vorgehen neu bestimmen.

Gezi ist die Ablehnung der autoritären Mentalität

Wenn die AKP-Regierung im Rahmen der Newroz-Botschaft des Vorsitzenden Apo eine Entwicklung der Demokratisierung in Gang gesetzt hätte und es auch dementsprechend eine Annäherung an gesellschaftliche Themen gegeben hätte, hätten die Entwicklungen um den Gezi-Park nicht diese Dimensionen erreicht. Es hätte so keine repressiven und gewalttätigen Angriffe auf gesellschaftliche Ereignisse gegeben. Der Staat hat sich mit der gleichen Politik, die er auch in Kurdistan anwendet, dem Gezi-Park angenähert.

Der Gezi-Widerstand hat die Regierung überrascht

Der Widerstand, der sich im Rahmen des Gezi-Parks entwickelt hat, stellt eine wichtige Etappe in der Geschichte der Demokratie in der Türkei dar. Wir denken, dass dies eine neue Situation ist und für die Zukunft eine wichtige Bedeutung spielen wird. Natürlich sind die in diesem Prozess einbezogenen Gruppen nicht in der gleichen Situation; es gibt auch Kreise, mit verschiedenen Denkweisen. Anstatt einer Einheit oder gemeinsamen Organisierung, ist es ein sozialer Prozess, der verschiedene Gruppen miteinschließt. Die gegenwärtige Etappe, zusammen mit dem hohen Grad an Widerstand hat die Regierung erschüttert. Auch wenn zu spät, hat sie die Ernsthaftigkeit begriffen: Sie hat mehrere Gespräche geführt und einige Zugeständnisse gemacht. Zum Beispiel hat sie erklärt, dass sie auf das Gerichtsurteil über den Gezi-Park warten wird und es vielleicht sogar ein Referendum geben wird. Gleichzeitig hat sie Gespräche mit der Taksim-Solidarität und einer Gruppe von Künstlern geführt. Im Grunde war dies ein Kompromiss.

Die Widerstandskräfte hätten dies als Erfolg werten müssen und von diesem Punkt aus die Situation um den Gezi-Park umwandeln müssen in einen demokratischen Widerstand auf einer anderen Ebene. Es gab dort die Möglichkeit die Haltung der Menschen in einen demokratischen Reflex der Massen für die Zukunft umzuwandeln. Doch dies wurde nicht getan. Unserer Meinung nach gab es hier einen falschen taktischen Ansatz. (…) Auch wenn der Widerstand in verschiedenen Orten der Türkei andauert – dies ist natürlich wichtig – hätte man die Fehler der Regierung besser bewerten müssen. So hätte es am 13. – 14. dieses Monats eine Wende geben können. Das es dies nicht gegeben hat, hat die Widerstandskräfte strapaziert. Aber was auch passiert, ist dies für uns ein wichtiger Aufbruch. Es ist ein Prozess, der wieder einmal gezeigt hat, dass die gesellschaftlichen Gruppen die herrschaftszentrierte, autoritäre Mentalität nicht akzeptiert.

Für eine Demokratisierung muss das Potential des Gezi-Aufstands sich mit dem demokratischen Lösungsprozess in Kurdistan vereinigen

Damit sich dieser Protest richtig kanalisiert wird und es eine Entwicklung zur Demokratie gibt, muss es eine Vereinigung mit dem demokratischen Lösungsprozess in Kurdistan geben. Aber jetzt scheint es, als ob es zwei getrennte Prozesses geben – gemeinsam gebe es aber auch bestimmte Risiken. Eine Gruppe von Nationalisten versucht den Prozess auf lokale Ebene zu begrenzen. Dies verhindert, dass sich eine demokratische Basis entwickelt. Diese lokale Trennung kann zu verschieden Ergebnissen mit schlechtem Ausgang führen. Daher ist es bedeutend für eine Demokratisierung das Potential des Gezi-Aufstands mit dem demokratischen Lösungsprozess in Kurdistan zu vereinigen.

Die Festnahmewellen bewerten wir wie einen Angriff auf uns

Nun haben die Festnahmewellen gegen die Mitglieder der ESP (Sozialistische Partei der Unterdrückten) und andere AktivistInnen des Widerstands begonnen. Die Festnahmen sind ein Ergebnis der autoritären und herrschaftszentrierten Politik des Staates. Es sei angemerkt, dass die Operationen sich gegen Parteien und Organisationen richten, die in einem positiven Verhältnis zur kurdischen Freiheitsbewegung stehen und die den Lösungsprozess unterstützen. Zuvor gab es diese Festnahmewellen gegen die Mitglieder der SDP (Sozialistisch Demokratische Partei) und nun ist es die ESP. Wir bewerten den Angriff gegen die ESP wie einen Angriff gegen uns. Angriffe wie diese, sind nicht im Sinne einer Lösung, sondern gegen sie gerichtet. Wir verurteilen die Angriffe auf die Revolutionäre der ESP aufs Schärfste. Der Staat sollte wissen, dass er Revolutionäre auch mit Festnahmen und Unterdrückung nicht bezwingen kann.

Quelle: ANF, 19.06.2013, ISKU

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