Konferenz des Europäischen Parlaments fordert Türkei zur Wiederaufnahme der Friedensverhandlung mit der PKK auf

Europapolitiker Jürgen Klute über das Ergebnis des Permanent Peoples‘ Tribunal, 05.06.2018

Am 24. Mai 2018 wurde im Rahmen einer Konferenz im Europäischen Parlament in Brüssel das Ergebnis des Permanent Peoples‘ Tribunal vom 15./16. März 2018 in Paris bekannt gegeben. Verantwortet und durchgeführt wurde die Konferenz von drei Fraktionen im Europäischen Parlament: Greens/EFA (Grüne/Freie Europäische Allianz), GUE/NGL (Vereinigte Europäische Linke / Nordische Grün-Linke) und S&D (Sozialisten und Demokraten). Nach dem die stellvertretende Sprecherin der kurdischen Freundschaftsgruppe im Europäischen Parlament, Marie-Christine Vergiat, die Konferenz eröffnet hatte, wurde zunächst von Phillippe Texier das Ergebnis des Tribunals von Paris vorgestellt. Phillippe Texier ist der Präsident des Permanent Peoples‘ Tribunal und ehrenamtlicher Richter am französischen „Cour de Cassation“ (der entspricht in der BRD in etwas dem Bundesgerichtshof) und er was Mitarbeiter des UN High Commission for Human Rights (UNHCR).

Das Permanent Peoples‘ Tribunal ist kein Gericht im eigentlichen Sinne. Es geht daher auch nicht um eine Verurteilung von Personen, sondern es geht um eine rechtliche Bewertung politischen Handelns im Lichte internationalen Rechts und und der Klärung, wer die Verantwortung für das inkriminierte politische Handeln trägt. Das PPT als internationale zivilgesellschaftliche Instanz wurde aktiv, weil weder ein nationales noch ein internationales Gericht sich bisher einer rechtlichen Bewertung und Aufarbeitung des Konfliktes zwischen dem türkischen Staat und den Kurden angenommen hat. In dem Entscheid (Verdict) des PPT heißt zur Aufgabenstellung dementsprechend:

„In Ermangelung einer internationalen oder nationalen gerichtlichen Instanz, die die Gerichtsbarkeit über diese Verbrechen ausüben könnten, ist das PPT aufgefordert, zu den folgenden Punkten die vorgelegten Beweise zu gewichten, ein Urteil darüber abzugeben und Empfehlungen zu formulieren:

(1) die Anerkennung der Verleugnung und Verletzung des Rechts auf Selbstbestimmung des kurdischen Volkes  durch den türkischen Staat als wesentliche Ursache für diese Verbrechen (siehe Abschnitt IV);

(2) die Existenz eines internen bewaffneten Konflikts zwischen dem türkischen Staat und der PKK (siehe Abschnitt V);

(3) die Anweisung von Kriegsverbrechen gegen Kurden in Süd-Ost-Anatolien vom 1. Juni 2015 bis 31. Dezember 2017;

(4) die Verantwortung des türkischen Staates, sowie von Präsident Erdogan für Kriegsverbrechen während dieses Zeitraums und die Verantwortung von General Huduti für den Zeitraum zwischen dem 1. Januar 2015 und dem 15. Juli 2016;

(5) die Anweisung staatlicherseits von Verbrechen gegen die Kurden in der Türkei und im Ausland, seit 2003;

(6) die Haftung des türkischen Staates und Präsident Erdogans für diese staatlicherseits in Auftrag gegebenen Verbrechen;“ (Übersetzung: J. Klute)

Es geht also um vier Punkte:

  1. um Kriegsverbrechen,
  2. um Verbrechen gegenüber Einzelpersonen, die vom Staat zu verantworten bzw. in Auftrag gegeben worden sind,
  3. um das Recht auf Selbstbestimmung der Kurden,
  4. um den Charakter des bewaffneten Konfliktes zwischen der PKK und dem türkischen Staat.

Bei letzterem geht es um die Klärung der Frage, ob es sich um einen internen bewaffneten Konflikt handelt oder ob die PKK eine Terrorgruppe ist, deren Handeln als kriminell einzustufen ist.

In diesen Punkten sind die sieben Mitglieder der Jury des PPT on Turkey and Kurds, Teresa Almeida Cravo, Madjid Benchikh, Luciana Castellina, Domenico Gallo, Denis Halliday, Norman Peach und Philippe Texier (die Mitglieder der Jury werden auf der Webseite des PPT kurz vorgestellt) zu folgendem Ergebnis gekommen

Nach einer ausführlichen Prüfung der Fakten, die auf der öffentlichen Sitzung des PPT am 15. und und 16. März 2018 in Form von Zeugenaussagen, schriftlichen und fotografischen Dokumenten vor getragen wurden, sieht die Jury es als gegeben an, dass die kurdischen Bürgerinnen und Bürger der Türkei systematisch von ökonomischen und politischen Entscheidungsprozessen ausgeschlossen wurde. Dieses Vorgehen des türkischen Staates über Jahrzehnte hin, so das PPT, zielte und zielt auf eine vollständige Zerstörung der kurdischen Kultur in Form des Verbots des öffentlichen Gebrauchs der kurdischen Sprache, des systematischen Verbots kurdischer politischer Parteien und der Verfolgung und Inhaftierung von Führungspersönlichkeiten und Aktivist*innen solcher Parteien (vgl. Verdict EN, S. 16).

In eben diesem Vorgehen des türkischen Staates gegen die kurdische Minderheit sieht das PPT die Ursache der blutigen Konflikte und auch des bewaffneten Kampfes der PKK seit 1984 gegen den türkischen Staat.

Die Fakten selbst sind dabei unstrittig und im großen und ganzen vielfach auch medial dokumentiert und öffentlich bekannt. Sie werden im Prinzip auch nicht von er türkischen Regierung bestritten.

Der Konflikt dreht sich vielmehr um die politische und rechtliche Bewertung dieser Fakten. Oder anders formuliert und gefragt: Umfasst die Souveränität eines Staates – im konkreten Fall die der Türkei – das Recht, eine ethnische Minderheit – im konkreten Fall die Kurden – von ökonomischen und politischen Entscheidungen auszuschließen und die Instrumente des staatlichen Machmonopols in der dokumentierten Form zur Durchsetzung dieses Ausschlusses, also zur Unterdrückung einer Minderheit bis hin zur Zerstörung der Kultur einer Minderheit einzusetzen?

Der türkische Staat beantwortet diese Frage mit einem eindeutigen JA.

Diesem JA des türkischen Staates setzt das PPT ein ebenso eindeutiges NEIN entgegen. In seiner Begründung bezieht sich die Jury des PPT auf die gleichlautenden Artikel 1 des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (UN Zivilpakt – ICCPR) und des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (UN Sozialpakt – ICESCR) von 1966:

Artikel 1
(1) Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung. Kraft dieses Rechts entscheiden sie frei über ihren politischen Status und gestalten in Freiheit ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung.

(2) Alle Völker können für ihre eigenen Zwecke frei über ihre natürlichen Reichtümer und Mittel verfügen, unbeschadet aller Verpflichtungen, die aus der internationalen wirtschaftlichen Zusammenarbeit auf der Grundlage des gegenseitigen Wohles sowie aus dem Völkerrecht erwachsen. In keinem Fall darf ein Volk seiner eigenen Existenzmittel beraubt werden.

(3) Die Vertragsstaaten, einschließlich der Staaten, die für die Verwaltung von Gebieten ohne Selbstregierung und von Treuhandgebieten verantwortlich sind, haben entsprechend der Charta der Vereinten Nationen die Verwirklichung des Rechts auf Selbstbestimmung zu fördern und dieses Recht zu achten.

In dem Vorgehen des türkischen Staates sieht das PPT vor allem eine Verletzung des Absatz (3).

Diese Qualifizierung ist wiederum grundlegend für die Einordnung des bewaffneten Konfliktes zwischen der PKK und des türkischen Staates. Das PPT sieht in dem bewaffneten Vorgehen der PKK gegen den türkischen Staate eine Reaktion auf die jahrzehntelange Unterdrückung und Ausgrenzung der Kurden.

Die Genfer Konvention von 1949 erkennt in Artikel 3 ausdrücklich nicht internationale bewaffnete Konflikte an, für die – ebenso wie für internationale bewaffnet Konflikte – bestimmte Regeln einzuhalten sind:

Artikel 3

Im Falle eines bewaffneten Konflikts, der keinen internationalen Charakter aufweist und der auf dem Gebiet einer der Hohen Vertragsparteien entsteht, ist jede der am Konflikt beteiligten Parteien gehalten, wenigstens die folgenden Bestimmungen anzuwenden: (…)

Die Jury des PPT verweist allerdings auch darauf, dass weitere Kriterien, die im Zweiten Zusatzprotokoll vom 8. Juni 1977 zur Genfer Konvention aufgeführt sind, im Blick auf die PKK zu berücksichtigen sind. Dort heißt es in Artikel 1:

Sachlicher Anwendungsbereich

1. Dieses Protokoll, das den den Genfer Abkommen vom 12. August 19491 gemeinsamen Art. 3 weiterentwickelt und ergänzt, ohne die bestehenden Voraussetzungen für seine Anwendung zu ändern, findet auf alle bewaffneten Konflikte Anwendung, die von Art. 1 des Zusatzprotokolls zu den Genfer Abkommen vorn 12. August 1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte (Protokoll I) nicht erfasst sind und die im Hoheitsgebiet einer Hohen Vertragspartei zwischen deren Streitkräften und abtrünnigen Streitkräften oder anderen organisierten bewaffneten Gruppen stattfinden, die unter einer verantwortlichen Führung eine solche Kontrolle über einen Teil des Hoheitsgebiets der Hohen Vertragspartei ausüben, dass sie anhaltende, koordinierte Kampfhandlungen durchführen und dieses Protokoll anzuwenden vermögen.

2. Dieses Protokoll findet nicht auf Fälle innerer Unruhen und Spannungen wie Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten und andere ähnliche Handlungen Anwendung, die nicht als bewaffnete Konflikte gelten.

Die Jury des PPT sieht auch diese Bedingungen seitens der PKK als erfüllt an. Zum einen, darauf verweist das PPT, ist die PKK eine bewaffnete Gruppe unter einem einheitlichen und zentralem Kommando, dass auch tatsächlich ausgeübt und durchgesetzt wird, und hat über einen langen Zeitraum – seit 1984 – einen organisierten bewaffneten Kampf durchgeführt.

Zweiten, so das PPT weiter, haben Repräsentanten der PKK erklärt, die Genfer Konvention zu respektieren ebenso wie die internationalen Menschenrechte einschließlich des Verbots von Landminen und einer menschlichen Behandlung von Soldaten und Zivilisten im Konfliktgebiet.

Und schließlich, so das PPT, hat die türkische Regierung durch die Friedensverhandlungen mit offiziellen Repräsentanten der PKK in 2013 de facto den Konflikt mit der PKK als nicht internationalen bewaffneten Konflikt anerkannt.

Damit ist aus Sicht der Jury des PPT dieser Konflikt als nicht internationaler bewaffneter Konflikt im Sinne der Genfer Konvention anzuerkennen.

Die rechtlich zwingende Konsequenz aus dieser Einschätzung ist, dass der bewaffnete Konflikt zwischen der PKK und dem türkischen Staat unter internationalem Recht steht und nicht unter türkischem Recht bzw. unter türkischer Terrorgesetzgebung, da die PKK nach internationalem Recht nicht als Terrororganisation einzustufen ist.

Schließlich kommt die Jury das PPT im Blick auf die militärischen Auseinandersetzungen in den kurdischen Städten von Januar 2015 bis Januar 2017 zu dem Ergebnis, dass die türkische Armee gegen Artikel 3 der Genfer Konvention verstoßen hat und somit sich der Ausübung von Kriegsverbrechen schuldig gemacht hat. Dort heißt es:

1. Personen, die nicht direkt an den Feindseligkeiten teilnehmen, einschliesslich der Mitglieder der bewaffneten Streitkräfte, welche die Waffen gestreckt haben, und der Personen, die infolge Krankheit, Verwundung, Gefangennahme oder irgendeiner anderen Ursache ausser Kampf gesetzt wurden, sollen unter allen Umständen mit Menschlichkeit behandelt werden, ohne jede Benachteiligung aus Gründen der Rasse, der Farbe, der Religion oder des Glaubens, des Geschlechts, der Geburt oder des Vermögens oder aus irgendeinem ähnlichen Grunde. Zu diesem Zwecke sind und bleiben in bezug auf die oben erwähnten Personen jederzeit und jedenorts verboten:

a. Angriffe auf Leib und Leben, namentlich Mord jeglicher Art, Verstümmelung, grausame Behandlung und Folterung;

b. Gefangennahme von Geiseln;

c. Beeinträchtigung der persönlichen Würde, namentlich erniedrigende und entwürdigende Behandlung;

d. Verurteilungen und Hinrichtungen ohne vorhergehendes Urteil eines ordnungsmässig bestellten Gerichtes, das die von den zivilisierten Völkern als unerlässlich anerkannten Rechtsgarantien bietet.

2. Die Verwundeten und Kranken sollen geborgen und gepflegt werden.

Eine unparteiische humanitäre Organisation, wie das Internationale Komitee vom Roten Kreuz, kann den am Konflikt beteiligten Parteien ihre Dienste anbieten.

Die am Konflikt beteiligten Parteien werden sich anderseits bemühen, durch besondere Vereinbarungen auch die andern Bestimmungen des vorliegenden Abkommens ganz oder teilweise in Kraft zu setzen.

Die Anwendung der vorstehenden Bestimmungen hat auf die Rechtsstellung der am Konflikt beteiligten Parteien keinen Einfluss.

Das Permanent Peoples‘ Tribunal als internationale zivilgesellschaftliche Instanz verfügt nicht über Mittel und Kompetenzen, seine Entscheidung (Verdict) durchzusetzen. Sie ist ein rechtlich gut fundierter Appel an die demokratischen Staaten und insbesondere an die Europäische Union, was aus dem Ort der Verkündung – dem Europäischen Parlament in Brüssel – der Entscheidung der Jury deutlich wird.

Die Jury hat es aber nicht nur bei der rechtlichen Bewertung der Fakten belassen, sondern auch Empfehlungen ausgesprochen, die – wie auch weitere Auszüge aus dem Verdict – weiter unten in deutscher Übersetzung dokumentiert sind. Es ruft den türkischen Staat dazu auf, als Voraussetzung für eine politische Lösung des Konfliktes das kurdischen Volkes und sein Recht auf Selbstverwaltung anzuerkennen, betont dabei aber, dass eine solche Anerkennung keine territoriale Abspaltung der kurdischen Region von der Türkei bedeutet. Die Jury verweist auf Südtirol mit seiner deutschsprachigen Minderheit, die dem türkischen Staat und den Kurden als Vorbild einer politischen Lösung ihres Konfliktes dienen könne.

Als weitere Empfehlung formuliert die Jury die unmittelbare Freilassung inhaftier Journalisten und kurdischer Politiker.

Weiterhin ruft die Jury den türkischen Staat dazu auf, die begangenen Kriegsverbrechen und staatlichen Verbrechen aufzuklären und Verantwortliche und Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Erst auf der Grundlage eines Friedensvertrages, so die Jury weiter, könne es zu einer allgemeinen Amnestie von Verurteilten auf allen Seiten geben.

Über diese konkreten Empfehlungen der Jury an die Konfliktparteien hinaus lassen sich aus dem Entschluss der Jury aber auch weitere politische Folgerungen ziehen. Die unmittelbarste Schlussfolgerung hätte der Europäische Rat z ziehen, indem er auf der Grundlage der Entscheidung des PTT die PKK unverzüglich von der sogenannten EU-Terrorliste streicht.

Für die Außenpolitik der EU und ihrer Mitgliedsstaaten sowie für die Beitrittsverhandlungen der EU mit der Türkei bedeutet die Entscheidungen des PPT, alle Verhandlungen und Verträge mit der Türkei an die Beendigung aller rechtswidrigen Handlungen des türkischen Staates gegenüber den Kurden und auch anderen Minderheiten in der Türkei sowie an eine Wiederaufnahme der Friedensverhandlungen mit der PKK zu knüpfen. Den Konflikt zwischen der PKK und dem türkischen Staat zu einem friedlichen Ende zu bringen liegt auch im Interesse der Europäischen Union und ihrer Mitgliedsländer.

Die Vertreter der politischen Gruppen im Europäischen Parlament, die diese Konferenz getragen und ermöglicht haben, teilen diese Einschätzung und haben dies in einer Resolution zum Ausdruck gebracht, die ebenfalls unten in deutscher Übersetzung dokumentiert ist ((https://europa.blog/konferenz-des-europaischen-parlaments-fordert-turkei-zur-wiederaufnahme-der-friedensverhandlung-mit-der-pkk-auf/)).