Krieg gegen Afrin als direkter Angriff auf die Frauenrevolution

Die Frauenbewegung in Rojava (Kongreya Star) über die Rolle von Frauen im Aufbau demokratischer Strukturen in Afrin, 12.02.2018

Demokratischer Konföderalismus als Lösungsmodell

Im Zuge des „arabischen Frühlings“ in Syrien haben die KurdInnen in Nordsyrien ab 2012 mit dem Aufbau von demokratischen Selbstverwaltungsstrukturen begonnen um sich so von der jahrzehntelangen Unterdrückung durch das Baath-Regime zu befreien. Dies bezeichneten sie als den „Dritten Weg“, der im Demokratischen Konföderalismus konzeptualisiert ist. Hierbei handelt es sich um ein politisches und gesellschaftliches Modell, das die Gleichberechtigung von Ethnien, Religionen und Geschlechtern anstrebt. Der Demokratische Konföderalismus wurde von Abdullah Öcalan, dem seit Februar 1999 unter schwersten Isolationsbedingungen in der Türkei inhaftierten Führer der kurdischen Freiheitsbewegung, als Vorschlag für ein friedliches Zusammenleben der zahlreichen Völker und Religionen im Mittleren Osten entwickelt. Der Demokratische Konföderalismus basiert auf Selbstverwaltung, organisiert über Kommunen und Räte. Er orientiert sich an den Bedürfnissen der Gesellschaft und spielt als gesellschaftliche Organisierungsform auch eine funktionale Rolle, da er so die Basis für Entwicklung darstellt. Zu Beginn war die Region Rojava in die drei Kantone Afrin, Kobane und Cizire aufgeteilt. Mittlerweile geht die demokratische Selbstverwaltung über Rojava hinaus und umfasst die Demokratische Föderation Nordsyrien, die in drei Regionen und sechs Kantone aufgeteilt ist: Die Region Cizîr besteht aus den Kantonen Qamişlo (Kamischli) und Hasake, die Region Euphrat aus den Kantonen Kobane und Grê Spî (Tall Abyad) und die Region Afrin aus den Kantonen Afrin und Şehba (Schahba). In der Region leben hauptsächlich KurdInnen, AraberInnen und AssyrerInnen sowie ArmenierInnen und TurkmenInnen. Es sind MuslimInnen, ChristInnen (v.a. ChaldäerInnen), AlewitInnen, EzidInnen und JüdInnen.

 Lösung von innen, nicht von außen

Die internationalen und regionalen Staatsmächte suchten außerhalb von Syrien nach einer Lösung für den Krieg, um ihre eigenen Machtgebiete auszuweiten. Die Gesellschaft in Rojava jedoch war der Überzeugung, dass die Lösung von innen kommen muss. Nachdem die Partei der Demokratischen Einheit (PYD) gemeinsam mit der christlichen Einheitspartei Suryoye und weiteren Kleinparteien am 12. November 2013 eine Übergangsregierung gestellt hat, folgte im Januar 2014 die Ausrufung Demokratischer Autonomie. Die Demokratische Selbstverwaltung des Kantons Afrin wurde am 29 Januar 2014, wenige Tage nach Cizîr und Kobane, ausgerufen.

40% Frauenquote und Doppelspitze

Vor Ausrufung der Demokratischen Autonomie des Kantons Afrin wurden die Vorbereitungen für die Gründung eines Legislativrats als Regierung geführt. Dieser bestand aus 101 MitgliederInnen und umfasste auch die Repräsentation sowohl der AlewitInnen und EzidInnen in Afrin als auch der arabischen Stämme Emirati und Bobeni. In den 7 Stadtteilen von Afrin sowie in Dorfräten hat die Bevölkerung ihre politischen VertreterInnen in den autonomen Legislativrat entsendet. Die Regierung und ihre Ausschüsse sind multiethnisch nach dem Prinzip der Geschlechterbefreiung organisiert. Die Co-Vorsitzende der Kantonregierung, Hevi Ibrahim Mustafa, ist Kurdin alewitischen Glaubens. Ihr Co-Vorsitzender Abdulhamit Mustafa ist muslimisch und gehört dem arabischen Emirati-Stamm an. Bevor der Kanton Afrin zum Co-Vorsitz-Modell übergegangen ist, war Hevi Ibrahim Mustafa die Regierungsvorsitzende.

Für die Geschlechtergleichberechtigung ist eine 40%ige Frauenquote eingeführt worden. Momentanes Ziel ist es, die Frauenorganisierung so hingehend zu stärken, dass es keiner Quote mehr bedarf und auf allen Ebenen gleiche Partizipation und Repräsentation sichergestellt werden kann. Jedoch stellt jetzt schon eine Doppelspitze, also eine Frau und ein Mann, den Vorsitz aller Gremien.

Frauenbewegung Kongreya Star

Die Frauen in Afrin und in ganz Rojava organisieren sich kommunal und kantonal in der Frauenbewegung Kongreya Star („Star Kongress“). Diese wurde 2005 unter dem Namen Yekîtiya Star („Star Union“) gegründet. Ihre Aktivistinnen waren massiven Repressionen wie Verhaftung und Folter durch das Baath-Regime ausgesetzt. Trotz schwerster Bedingungen haben sie mit ihrer Arbeit Grundlagen für Frauenorganisierung geschaffen, indem sie in allen nordsyrischen Städten mit dem Aufbau von Frauenräten und –kommunen begannen. Dabei konnten sie auf die 30jährige Erfahrung der kurdischen Frauenbewegung aus allen Teilen Kurdistans zurückgreifen. Auf ihrem Kongress im Februar 2016 hat sich die Frauenbewegung in Nordsyrien dazu entschlossen, sich von nun an konföderal im Rahmen eines Kongresses zu organisieren, da die Organisationsform Union nicht mehr für die Erfüllung der gewachsenen Ziele und Notwendigkeiten gereicht hat. In Kongreya Star organisieren sich Frauen und Frauenorganisationen auf kommunaler, städtischer und kantonaler Ebene autonom und übernehmen ebenso engagierte Verantwortung in der gesamtgesellschaftlichen Organisierung. Durch dieses doppelte Engagement wird von der Frauenbewegung aktiv die Gesellschaft von einer patriarchalen in eine geschlechterbefreite umgestaltet und in allen Lebensbereichen die Perspektiven der Frauenbewegung eingebracht.

Frauen sind Pionierinnen des gesellschaftlichen Wandels

So auch in Afrin, wo Frauenkomitees, -zentren und -akademien ins Leben gerufen wurden. Dort soll die aktive Beteiligung von Frauen an der Umgestaltung der Gesellschaft ermöglicht werden. Durch Bildung zu Themen wie Demokratische Autonomie, Selbstverteidigung, Ökologie, Geschichte der Frau, Sexismus und Frauenrechten bis hin zu gesundheitlichen und wirtschaftlichen Themen sollen Frauen gestärkt werden. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf Alphabetisierung und Unterricht in kurdischer Sprache. Die Stiftung der Freien Frau in Rojava (WJAR), gegründet 2014, begegnet den Schwierigkeiten von Frauen in Rojava auf wirtschaftlicher, gesellschaftlicher, politischer, gesundheitlicher und kultureller Ebene und durch Bildung und entwickelt ihre unterschiedlichen Projekte entsprechend der Ideen und Konzepte, die von den Frauen der Gesellschaft kommen.

Keine Verfassung, sondern Gesellschaftsvertrag – Polygamie, Zwangs- und Kinderehe verboten

Weltweit bestimmen Männer die grundlegenden Gesetze der gesellschaftlichen Organisierung. In den Verfassungsrechtlichen Räten in Rojava spielen die Frauen bei der Entwicklung der Gesetze eine maßgebliche Rolle. Diese haben sie auch bei der Entwicklung des Gesellschaftsvertrags von Rojava und aktuell der Demokratischen Föderation Nordsyriens gespielt. Ein Gesetz von 40 Frauenrechten ist dabei von Frauen selbst erarbeitet worden. Der Gesellschaftsvertrag verbietet Polygamie, Zwangsehen und die Kinderehe. Eine wichtige Rolle spielen hier auch die Mala Jin („Frauenhaus“), bei denen es sich um Bildungs- und Beratungszentren handelt, an die sich Frauen, die Gewalt und Unrecht erfahren, wenden. Viele Probleme, die Frauen erleben, werden hier kollektiv gelöst oder ans Gericht weitergeleitet. Auch an den Gerichten sind Frauen mindestens zu 40% vertreten. Fälle, bei denen es um Gewalt an Frauen geht, werden von weiblichen Richterinnen entschieden. Insgesamt gilt das gelebte Prinzip, dass Frauen an allen Entscheidungen, die sie betreffen, selbst mitwirken müssen.

YPJ wurde in Afrin gegründet – Sicherheitskräfte kooperieren mit Frauenräten

Die Volksverteidigungseinheiten (YPG) haben ihre Gründung offiziell im Juli 2012, etwa ein Jahr nach Beginn des Kriegs in Syrien, bekanntgegeben. 8 Monate nach der Gründung der YPG hat sich das erste Frauenverteidigungsbataillon gegründet – in Afrin. Die offizielle Gründung der Frauenverteidigungseinheiten (YPJ) erfolgte am 4. April 2013. Nicht nur wurde das erste Frauenbataillon von Rojava in Afrin gegründet, auch verlor mit Silava Efrîn die erste YPJ-Kämpferin ihr Leben in Afrin. Neben der YPJ gibt es in Afrin noch zwei weitere autonome Frauenverteidigungsstrukturen: Die Gesellschaftlichen Verteidigungskräfte HPC-Jin sowie die Frauen-Sicherheitskräfte Asayişa Jin. HPC-Jin sind Verteidigungskräfte der Bevölkerung und an die Räte gebunden. Die Frauensicherheitskräfte werden von den Kantonalräten kontrolliert und wehren einerseits Angriffe jihadistischer Banden, der Geheimdienste des Assad-Regimes und der Türkei ab. Andererseits schreiten sie bei Konflikten ein, die nicht von der Gesellschaft und den gesellschaftlichen Institutionen gelöst werden. Frauen können beispielsweise im Fall von Gewalt in der Familie ihre Anzeigen bei der Frauen-Asayiş aufgeben. Diese wiederum stehen in enger Kommunikation mit den Frauenräten.

Kooperative Produktionsform – Frauen bebauen Felder gemeinsam – Versorgung in Gleichberechtigung

Afrin ist im Gegensatz zu Kobane oder Cizîr gebirgig und in einem Tal wird intensive Landwirtschaft betrieben. Es werden vor allem Weizen, Baumwolle und Obst angebaut. Das Hauptanbauprodukt sind Olivenbäume. Unter dem Assad-Regime durften die Menschen ihre Ressourcen nicht selbst verarbeiten, sondern mussten die Rohwaren an den Staat verkaufen. Trotz dem Embargo durch die Türkei ist es den Menschen in Afrin in den vergangenen Jahren gelungen, große Entwicklungen für eine eigene, lokale Wirtschaft und der Versorgung der Gesellschaft zu machen. Die Grundlage dieser Ökonomie ist eine kooperative Produktionsform, um Ausbeutung und Konkurrenz abzuschaffen sowie eine Versorgung der Gesellschaft in Gleichberechtigung zu garantieren. Auch Frauen organisieren ihre Ökonomie unabhängig. Frauenkooperativen wie die Inanna Landwirtschaftskooperative, die 2016 in Afrin gegründet wurde und Weizen, Bohnen, Kichererbsen, Zwiebeln und Knoblauch anbaut, spielen hierbei eine führende Rolle.

Hälfte der EinwohnerInnen Binnenflüchtlinge – Flüchtlingslager Ziel von Angriffen

Die EinwohnerInnenzahl des Kantons Afrin hat sich in den vergangenen Jahren auf fast 1 Mio. mehr als verdoppelt. Im Zuge der Angriffe der Jihadisten und Regimekräfte auf Aleppo mussten mehrere Hunderttausend Menschen in den zumeist von KurdInnen bewohnten Stadtteile Ashrafiyah und Scheich Maksud in ihre Heimatstadt Afrin flüchten. Dazu kommen große Fluchtbewegungen aus Orten wie Azaz, al Bab, Tel Rifaat, Manbidsch und Idlib, wo vor allem AraberInnen vor jihadistischen Gruppierungen wie Ahrar al-Sham, die Nusra-Front, der IS oder die von der Türkei mitgegründete Sultan Murad Division geflüchtet sind. Diese sind nicht nur in Städten und Dörfern untergekommen, sondern haben auch Schutz im Robar-Flüchtlingslager gefunden. Dieses wurde 2015 von der Kantonalregierung Afrin gegründet und bot bisher Schutz für über 100 Tausend Flüchtlinge. Das Flüchtlingslager ist seit dem 20. Januar 2018 mehrere Male von der türkischen Armee angegriffen worden.