Mehmet Aksoy: Rakka und die Hoffnungen nach dem Islamischen Staat

Dokumentarfilmer Mehmet Aksoy in Rakka gestorben, Civaka Azad – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit, 28.09.2017

Gestern gab das Pressezentrum der YPG den Tod ihres Mitglieds Mehmet Aksoy (Firaz Dağ) in Rakka bekannt. Der 32-jährige Absolvent der Goldsmiths – University of London und Dokumentarfilmer Mehmet Aksoy wurde während seiner Aufnahmen der Befreiungsoperation tödlich verletzt. In der Erklärung der YPG heißt es:

“Fîraz Dağ (Mehmed Aksoy) stammt aus Nordkurdistan. Er ist in London aufgewachsen und seit seinen Jugendjahren Teil des Kampfes der kurdischen Gesellschaft und des antikapitalistischen, demokratischen Widerstands. Insbesondere nach dem Şengal Massaker 2014 war er mit einem hohem Tempo aktiv, um die kurdische Bevölkerung und die europäische Öffentlichkeit zu informieren und zu organisieren.“

Mitbegründer von Kurdish Question

Mehmet Aksoy war Mitgründer der englischsprachigen Internetplattform Kurdish Question. Nach seinem Universitätsabschluss war er Teil verschiedener journalistischer Projekte. Er ging im Juni dieses Jahre nach Nordsyrien, um eine Zeit lang das Pressezentrum der YPG in Rakka zu unterstützen. Seine Aufnahmen in Rakka wurden in zahlreichen Kanälen der Sozialen Medien und internationalen Nachrichtenagenturen geteilt und veröffentlicht. Er war der Kontakt für eine Vielzahl von Journalisten in der Region. Während seiner Presseaktivitäten in der YPG war er unter dem Namen „Firaz Dag“ bekannt.

Der britische Sender BBC besucht eine Gedenkveranstaltung für Mehmet Aksoy in London. Aladdin Sinayiç, ein Freund von Aksoy, erklärte in einem Interview mit dem Sender: „Mehmet hatte nie vor zu kämpfen. Er wollte die Geschichte der Kämpfer den Menschen näher bringen. Er hatte großen Respekt vor ihnen. Er wolle die Geschichte des syrischen Volkes und seiner Kämpfer erzählen.“

Mehmet Aksoys Artikel über Rakka

Für die Nachrichtenseite The Region schrieb Mehmet Aksoy am 19. August einen Artikel über die Stadt, in der er nun sein Leben verloren hat. Civaka Azad hat seinen Artikel aus dem Englischen übersetzt und unten veröffentlicht.


Mehmet Aksoy: Rakka und die Hoffnungen nach dem Islamischen Staat

Die Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) haben am 6. November 2016 den Beginn der Operation „Zorn des Euphrat“ verkündet, die das Ziel hat, die Stadt Rakka vom Islamischen Staat (IS) zu befreien. Nach der ersten Etappe zur Befreiung der umliegenden Gebiete wurde die Stadt von vier Seiten umzingelt. Die letzte Etappe der Befreiungsoperation, die sich heute am 73. Tag befindet, hat am 6. Juni 2017 begonnen. Auch wenn die ersten offiziellen Zahlen noch nicht veröffentlicht wurden, sind in der letzten Etappe der Operation circa 200 arabische, kurdische und internationalistische Kämpfer gefallen. Die SDF kontrolliert zurzeit 60 Prozent der Stadt und von den etwa 5.000 in der Stadt verbliebenen Menschen sind 1.500 IS-Kämpfer. Bislang wurden tausende Zivilisten aus Rakka befreit und mehr als tausend dieser Zivilsten haben sich zur Befreiung der Stadt der SDF angeschlossen.

Die verschiedenen Blickwinkel gegenüber dem Kampf in Rakka

Als im Jahr 2016 über eine mögliche Befreiung von Rakka in Vorreiterrolle der kurdischen Selbstverteidigungseinheiten YPG gesprochen wurde, erklärten einige Kreise (engstirnige nationalistische Kurden, Panarabisten und kurdenfeindliche Individuen und Gruppen aus der Türkei und Syrien): „Was hat die YPG in Rakka zu suchen? Das ist dort kein kurdischer Boden“. Sie führten verschiedene Gründe an, aber die Wurzeln ihres Denkens war dieselbe: Nationalismus und Etatismus.

„Primitive“ nationalistische Kurden diskutierten in den sozialen Medien, dass auf „arabischem Boden kein kurdisches Blut“ fließen und die YPG sich darauf fokussieren solle, das kurdische Rojava bzw. die Demokratische Föderation Nordsyrien zu schützen. Darüber hinaus erklärten kurdenfeindliche Individuen vor allem aus den Ländern Syrien und Türkei, dass die YPG die Absicht habe, die Region von den Arabern “säubern” und eine kurdische Verwaltung aufzubauen. Sie schreckten auch nicht vor dem von der Türkei genutzten Argument zurück, dass die YPG ein verlängerter Arm der PKK und aus diesem Grund eine Terrororganisation sei.

Sie erwähnten aber nicht die offenen Aufrufe der lokalen Stammesführer aus Rakka an die SDF und die Gespräche zwischen ihnen und dem Rat des demokratischen Syriens über die Befreiung der Stadt. Sie vergaßen auch zu erwähnen, dass von den 220 Tausend Bewohnern Rakkas 20 Prozent Kurden und 10 Prozent christliche Armenier sind. Sie erwähnten nicht, dass als die islamistische und dschihadistische Al-Nusra Front (der Al-Kaida Ableger in Syrien) im Jahr 2013 die Stadt unter Kontrolle nahm, fast ausnahmslos gegen alle Christen und Kurden vorging und sie zwang aus der Stadt zu fliehen.

Der IS übernahm Anfang des Jahres 2014 vollständig die Kontrolle über die Stadt. Später verübten sie im Irak in Şengal einen Genozid an den Eziden. Die IS-Kämpfer entführten tausende Frauen und Kinder in ihre selbsternannte Hauptstadt und Operationsbasis in Syrien. Viele vermuten, dass die Entführten sich immer noch in Rakka aufhalten.

Solche Ereignisse können der SDF in Vorreiterrolle der YPG genügen, um eine Operation zu beginnen. Doch es wird auch die strategische Bedeutung von Rakka für die zukünftige Sicherheit und den Sieg der Demokratischen Föderation Nordsyrien verkannt. Die Befreiung Rakkas durch die YPG und SDF war aufgrund des Projekts eines dezentralen föderalen Syriens, dass sich nicht auf ethnische oder religiöse Klassifizierung begrenzt, eine “ideologische Pflicht”.

Wenn die Operation nicht begonnen hätte, dann wäre der IS weiterhin ein Hindernis für die gegenwärtige Stabilität und Frieden in Nordsyrien und die Lösung der Krise in Syrien.

Die Türkei, die im August des Jahres 2016 die Operation „Schutzschild Euphrat“ mit dem Ziel die Errungenschaften der Kurden zu sabotieren, begann, wäre noch mehr ermutigt worden. Die Regierung in Ankara forderte, dass die Operation in Rakka mit den islamistischen Teilen der Freien Syrischen Armee (FSA) geführt wird und versuchte bis zuletzt mit Druck auf die USA eine Operation in Vorreiterrolle der SDF und YPG zu verhindern – doch vergeblich.

Die Türkei beschwerte sich, dass die SDF vornehmlich aus kurdischen Kämpfern bestehe und arabische Kräfte kaum vertreten seien. Die SDF und das Pentagon haben mit Erklärungen darauf aufmerksam gemacht, dass 60 Prozent der SDF aus arabischen Kämpfern bestehen. Mit einem letzten widersprüchlichen Manöver hat Ankara erklärt , dass die arabischen Kämpfer innerhalb der SDF mit der Türkei zusammen die Rakka-Operation führen werden. Ziel dieser Äußerung war es, die SDF zu spalten. Dieses kurdenfeindliche Manöver der Türkei hat einen verstärkten Beitritt arabischer Jugendliche zur SDF bewirkt, denn zum Trotz gegen die Einmischung Ankaras in Manbij und in anderen arabisch besiedelten Gebieten haben sie sich erst Recht der SDF angeschlossen.

Wenn die Kräfte der YPG-SDF sich nicht zu der Offensive entschlossen hätten und in der Defensive verharrt wären, würde der Druck des syrischen Regimes gegen das föderale Lösungsprojekt weiter wachsen. Das gilt insbesondere seit dem Angriff der Regimekräfte auf die vom IS kontrollierte Stadt Deir ez-Zor. Eine Operation der Türkei oder des Regimes auf Rakka hätte negative regionale und globale Wirkungen mit sich bringen können und den chaotischen Krieg noch mehr verkompliziert. (…)

Der zivile Rat von Rakka und die Hoffnungen nach dem IS

Selbst die kurze Geschichte der Stadt reicht aus, um die geographische und strategische Bedeutung von Rakka aufzuzeigen. Kurze Zeit nach dem Beginn der Rakka-Offensive hat die Ko-Vorsitzende der Demokratischen Föderation Nordsyrien Îlham Ehmed mit Nachdruck auf Folgendes verwiesen:

„Solch eine Verwaltung kann hinsichtlich der demokratischen Entwicklung Rakkas – insbesondere, wenn man bedenkt, dass die Stadt für IS-Terroristen die de facto Hauptstadt war – ein gutes Beispiel sein. Dieser Erfolg würde die generelle Situation in Syrien stark beeinflussen; es würde dabei helfen, dass das Land sich Richtung Stabilität und Demokratie entwickelt. Rakka wird für das gesamte Land ein Vorbild sein.“

Der zivile Rat von Rakka – der aus einer feministischen kurdischen Ko-Vorsitzenden und einem arabischen Mann als Ko-Vorsitzenden und weiteren 120 Personen besteht, wurde im April 2017 gegründet. Der Rat repräsentiert die örtliche Bevölkerungsverteilung; die lokalen Stämme eingeschlossen, sind alle ethnischen und religiösen Gruppen an der Teilnahme beteiligt. Die Arbeit und Pläne drehen sich darum, der Bevölkerung, die vom IS gerettet wurde – zu helfen und ein Leben nach dem IS in Rakka aufzubauen. Im Juli haben die zuständigen Vertreter der US-geführten Koalition auf einer Sitzung über die Säuberung von Minen, den Neuaufbau, die Gesundheit und humanitäre Hilfe beraten und ihnen die politische Anerkennung und Hilfe gegeben, die sie vorher Rojava/der Demokratische Föderation Nordsyrien nicht gegeben haben.

Der zuständige Rat hat sich darauf festgelegt, dass die Bevölkerung Rakkas nächstes Jahr im Mai ihre Vertreter bei demokratischen Wahlen bestimmen soll. An diesem Tag wird auch festgelegt werden, ob Rakka der Demokratischen Föderation Nordsyrien beitreten oder gar ein autonomes Gebiet bleiben wird. Auch wenn die Zuständigen der Ansicht sind, dass die Zustimmung gen Teilnahme am demokratischen Projekt sein wird, gibt es dennoch viel zu erledigen.

Zusammengefasst ist die Befreiung von Rakka, die im Jahr 2016 noch von den oben genannten Gegnern einer SDF-geführten Operation abgelehnt wurde, genauso wichtig und strategisch wie die Befreiung des kultur- und geschichtsreichen Manbij.

Wenn in den von den kurdischen Revolutionären gezogenen Grenzen Rojavas, die verschiedenen Völker Syriens miteinander arbeiten können und danach die Einsicht bei den übrigen Völkern einsetzt, Teil der Demokratischen Föderation Nordsyriens sein zu wollen; dann kann Rakka ein sicherer Ort sein und die Fundamente für eine geschlechtergerechte und ökologische Gesellschaft können aufgebaut werden. So wie die Befreiung Rojavas vom Assad-Regime und den reaktionären Gruppen zur anstehenden Befreiung Rakkas und endgültigem Sieg über den IS in Syrien geführt hat, wird Freiheit und Demokratie in Rakka die Kurden und Rojava vor zukünftigen Angriffen und Teile-und-Herrsche-Politiken schützen. Damit wird auch ein Ende des Krieges in Syrien näher rücken. Die Befreiung von Rakka wird der größte Schlag gegen die reaktionären und nationalistischen Gruppen und Staaten sein, die in der Region Instabilität, Krieg und Zerstörung schüren.