Menschenrechtsrevolution zur Verteidigung der Selbstverwaltung in Nordsyrien

Der syrische Bürgerkrieg ist ohne Zweifel das Feld, auf dem die Krise der gegenwärtigen Weltordnung in eindringlicher Weise deutlich wird. Diese Krise zeigt sich im Ausmaß der Zerstörung eines ganzen Landes und in Kriegsverbrechen, die aktuell genauso unvergleichlich sind wie die dadurch ausgelösten Fluchtbewegungen. Mittlerweile sind acht Jahre vergangenen, in denen die Großmächte weder auf die Hunderttausenden Toten des Syrien-Krieges, noch auf die über 5 Millionen Flüchtlinge, die sich außerhalb des Landes befinden, eine politische Antwort gefunden haben. Stattdessen lassen sie die nächste Eskalation geschehen oder beteiligen sich aktiv am Krieg – wie beim fortdauernden Krieg um Idlib oder dem türkischen Angriff auf die kurdischen Gebiete in Nordsyrien

Zu erinnern bleibt dabei, dass der Bürgerkrieg seinen Anfang im politischen Enthusiasmus des Arabischen Frühlings nahm. Die dem Horror des Bürgerkriegs vorausgehende syrische Revolution im Jahr 2011 war ein wichtiger und politisch begeisternder Sprung in der historischen Menschenrechtsrevolution! Wie ungezählte Menschen in vielen anderen arabischen Ländern erhoben sich auch Syrer*innen jeden ethnischen und religiösen Hintergrunds in legitimer Weise gegen ein Regime, das extremer Menschenrechtsverletzungen schuldig war und ist. Wie unwürdig dieses Regime und wie unumgänglich seine Beseitigung ist, hat sich in der grausamen Niederwerfung des revolutionären Aufbruchs und im Fortgang des Bürgerkriegs in dramatischem Ausmaß gezeigt.

Der Krieg in Syrien und die Menschenrechte

Die Revolution und der Bürgerkrieg in Syrien sind daher gleich auf mehreren Ebenen ein Kampf um Menschenrechte – und die Menschenrechte hätten auch als normative Orientierung der verschiedenen Interventionen von außen dienen müssen, voran der Interventionen der UNO, aber auch der USA, der Europäischen Union und der Bundesregierung. Weil das oft gar nicht oder nur in instrumenteller Weise der Fall war, haben diese Interventionen entweder nichts erreichen können oder sich als das gezeigt, was sie in wesentlichen Momenten tatsächlich waren: menschenrechtsmissachtende, wenn nicht menschenrechtswidrige Eingriffe in der Verfolgung jeweils eigener machtpolitischer und ökonomischer Interessen.

Die Missachtung und Verletzung des Menschenrechts ist auch das Moment, an dem der verbrecherische Charakter der verschiedenen radikalislamistischen Kräfte auf seinen Punkt kommt. Wenn diese Kräfte irgendetwas eint, dann die Entschiedenheit, mit der sie erklärte Feinde der Menschenrechte sind: Ihnen geht es letztlich um die Auslöschung des Menschenrechts überhaupt. Von hier fällt dann auch ein erstes Licht auf die türkische Beteiligung: Ist die Türkei doch wiederholt als Unterstützerin radikalislamistischer Gewalt aufgetreten – als eine Macht, die sich dieser Kräfte rücksichtslos auch im eigenen Interesse bedient.

Umgekehrt bewährt sich in ihrer Haltung zum Menschenrecht die emanzipatorische Dynamik der aktuell bedrohten kurdischen Selbstverwaltung in Nordsyrien. Sieht man einmal davon ab, dass die Selbstverwaltung in Nordsyrien den weitreichendsten (vielleicht sogar den einzigen) Versuch des Aufbaus einer demokratischen Alternative in der ganzen Region unternimmt, ist sie als einzige politische Macht in der Region zugleich ernsthaft bereit, sich einer internationalen Untersuchung der eigenen Menschenrechtsverbrechen zu stellen.

Neugründung der UNO

Mit dem menschen- und völkerrechtswidrigen Überfall der Türkei und der Deckung dieses Überfalls durch die USA und die Europäische Union beweist sich die Krise der internationalen Rechtsordnung. Was im Fall des russischen oder des iranischen Regimes nicht überrascht, nimmt sich im Fall der UNO, der USA, der EU und auch der deutschen Regierung umso beschämender aus. Der UNO kommt aktuell nicht einmal mehr eine symbolische Bedeutung zu: sie ist als politische Kraft gegenwärtig einfach ausgeschaltet. Damit stellt sich letztlich die Frage ihrer grundlegenden Wiederherstellung – wenn nicht ihrer Neugründung.

Die USA sind unter Trump offensichtlich an einem absoluten Tiefpunkt angelangt. Auf einen Tiefpunkt ihrer Geschichte steuern aber auch die Europäische Union und hier insbesondere die deutsche Regierung zu. Während man den Überfall der Türkei auf Nordsyrien formell verurteilt, überlässt man ein angekündigtes, politisch schon seit Jahren überfälliges Waffenembargo der freien Entscheidung der Mitgliedsstaaten und lässt keinen Zweifel daran, die menschenrechtswidrige Zusammenarbeit mit dem Erdogan-Regime in der „Eindämmung“ von Fluchtbewegungen fortzusetzen.

Die Rolle, die in diesem Drama dem deutschen Außenminister Maas zukommt, kann eigentlich nur noch als perfide bezeichnet werden: während er Erdogan per Twitter scheinbar in aller Entschiedenheit verurteilt, hält er kaum verdeckt an der Unterstützung des türkischen Präsidenten fest. Das ist zum einen ein Zeichen der Konfusion, aber auch der Einfalls- und damit Zukunftslosigkeit der gegenwärtigen politischen und bürokratischen Eliten, denen außer ihrem geschäftigen und geschäftstüchtigen „Weiter so!“ überhaupt nichts mehr einfällt.

Das Menschenrecht der Flüchtlinge

Diese Situation politisch umkehren zu wollen, zielt auch auf die lange schon ausstehende, von der herrschenden Politik nie ernsthaft in Angriff genommene Verwirklichung des § 28 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Nach ihm hat ausnahmslos jeder Mensch „Anspruch auf eine internationale und soziale Ordnung, in der die in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten voll verwirklicht werden können.“

Dabei geht es immer auch um die sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Menschenrechte –  mit Blick auf das ihnen allen vorausliegende eine Menschenrecht: das Recht auf Rechte. Es war der Aufbruch der syrischen Revolution im Rahmen des Arabischen Frühlings, es ist die Politik der Selbstverwaltung in Nordsyrien und es ist nicht zuletzt das hunderttausendfach verletzte Recht der Vertriebenen, die uns heute darauf verpflichten.

Hier zeigt sich die fundamentale Rolle der Migrationspolitik. Dass Europa und Deutschland Erdogan nicht nur freie Hand lassen, sondern ihm aktiv Beihilfe leisten, resultiert aus der Priorität, die sie ihrer menschenrechtswidrigen Politik der Migrationsabwehr eingeräumt haben. Die Verteidigung der Rechte von Millionen Flüchtlingen müsste aber erstes Gebot internationaler Politik sein. Ihre Menschenrechte sind nicht nur in Syrien, sondern überall zu verteidigen. Dabei geht es, um das ausdrücklich festzuhalten, nicht um die „Bekämpfung von Fluchtursachen“. Es geht um demokratische Politik als eine an den Rechten aller Menschen orientierte Politik; um eine Menschenrechtsrevolution. Die Verteidigung der Selbstverwaltung in Nordsyrien ist heute das erste Ziel dieser Revolution.