Mit dem Paradigma der PKK den Sozialismus neu schaffen – Teil I

Interview (Teil I) mit Riza Altun, Mitbegründer der PKK und Mitglied des KCK-Exekutivrats, 12.01.2018

Wir veröffentlichen ein ausführliches Gespräch mit Riza Altun, Mitbegründer der PKK und Mitglied des KCK-Exekutivrats, in zwei Teilen. In diesem Gespräch beantwortet er Fragen zu politischen und militärischen Strategien und Taktiken der kurdischen Freiheitsbewegung, brennende Fragen zur aktuellen Lage im Mittleren Osten als auch über das Sozialismusverständnis und das neue Paradigma der PKK.

An vielen Orten der Welt, vor allem in Südamerika und Europa verfolgen revolutionäre Bewegungen und AktivistInnen den Kampf der PKK und denjenigen in Rojava mit wachsendem Interesse. Die meisten können die Beziehungen zu der US-geführten Koalition dem Widerstand von Kobanê nicht mit der sozialistischen und antiimperialistischen Identität der PKK und den Kräften in Rojava miteinander verbinden. Ist dies aus ihrer Sicht kein Widerspruch? Ist dies eine vorübergehende Situation aufgrund der politischen, militärischen und sozialen Umzingelung und Isolation der KurdInnen oder haben Sie eine andere Erklärung?

Um die gegenwärtige politische Situation zu verstehen, ist zu wissen, wie sich diese entwickelt hat. Dies sind keine Ergebnisse einer vorher geplanten strategischen politischen Beziehung, sondern mehr eine politische und taktische Situation, die sich im Laufe des Widerstands herausgebildet hat. Als die Krise im Mittleren Osten hervortrat, gab es einen Kampf, den die PKK im Mittleren Osten bereits seit 40 Jahren führte. Unser Kampf richtete sich im Wesentlichen gegen das imperialistische und kapitalistische System, welches im viergeteilten Kurdistan in Form der kolonialistischen Staaten auftritt. Seit genau 40 Jahren versuchen der Imperialismus und Kapitalismus die kolonialistischen Kräfte dabei zu unterstützen mit verschiedenen Methoden die Freiheitsbewegung zu unterdrücken. Das Internationale Komplott gegen unsere Führung [Gemeint ist die geheimdienstliche Zusammenarbeit mehrerer Staaten gegen die PKK, die 1999 in der Verschleppung ihres Vorsitzenden Abdullah Öcalans (genannt Apo) mündete.] ist auch eine Folge dessen. Das ist ein systematischer Ansatz zur Liquidierung unserer Bewegung. Ein Ansatz des Imperialismus und Kapitalismus. Die ersten Ansätze beim Hervortreten der Krise im Mittleren Osten richteten sich erneut danach, die Bewegung aus der Phase auszuschließen, sie zu unterdrücken und zu vernichten. Das war mehr eine Politik, die im Rahmen eines Bündnisses zwischen den kolonialistischen und imperialistischen Kräften geführt wurde. Wenn wir uns konkret Syrien anschauen, können wir dies noch besser erkennen. Als das Chaos in Syrien begann, hatte eine Vielzahl von Kreisen, die als Opposition Syriens auftraten, Beziehungen mit dem internationalen Imperialismus, den regionalen kolonialistischen Kräften und den hegemonialen Kreisen. Während sie mit dem Regime im Konflikt standen, hatten sie nicht die geringste Verbindung zu den KurdInnen, die im Gegensatz dazu zu ihrem eigenen Schutz Widerstand leisteten.

Für die KurdInnen gab es keinerlei unterstützende Kraft. Aber als später Kräfte, wie die Türkei und Saudi Arabien, die die Syrien-Krise vertieften, durch ihre Werkzeuge die KurdInnen ins Visier nahmen, entwickelte sich ein Widerstand, der sich an der Linie des Vorsitzenden Apo orientierte. Als dieser Widerstand hervortrat, haben die Kräfte, die im Namen der Opposition Syriens agierten, zusammen mit dem syrischen Regime alles Mögliche getan, um ihn zu unterdrücken. Als Organisationen wie der IS, die al-Nusra-Front und Ahrar El Sham mit der Unterstützung des Assad-Regimes die mehrheitlich kurdisch-besiedelten Gebiete angriffen, haben die KurdInnen der Linie des Vorsitzenden und der PKK entsprechend geantwortet. Es begann ein Widerstand. Das ist der wesentliche Punkt, an dem die Konflikte und Widerstände begannen.

Der Widerstand von Kobanê war ein Wendepunkt

Als solch ein Konflikt und Widerstand begann, unterstützen Kräfte wie die Türkei, der Iran und Syrien die salafistischen Gruppen in ihrem Angriff auf die KurdInnen in Syrien. Auch andere Kräfte, vor allem die USA und Israel unterstützen sie. Sie zwangen sie für ihre eigenen Interessen zu agieren. Die salafistischen Kräfte griffen mit dieser Unterstützung die KurdInnen an. Der Widerstand von Kobanê war ein Wendepunkt. Bis dahin gab es keine einzige regionale und internationale Kraft, die den Freiheitskampf der KurdInnen unterstützt hätte. Es gab auch keine Kraft, die Interesse an einer taktischen Beziehung hatte. Alle haben zusammen alles Mögliche versucht, solch eine Bewegung zu liquidieren. Der Iran hat versucht, mit dem syrischen Regime diese Entwicklung einzudämmen. Die USA und Israel hingegen haben über die Türkei und Saudi Arabien versucht, die salafistischen Kräfte zu unterstützen, um die Bewegung zu unterdrücken. Mit Methoden wie dem „Train and Equip“-Programm oder direkten Waffenlieferungen und logistischer Unterstützung haben sie versucht, dies umzusetzen. Dagegen wurde ein unerbittlicher Widerstand geführt. Sowohl gegen die regionalen Status quo-Kräfte, die salafistischen Kräfte als auch gegen die von den USA, Israel und der Türkei unterstützen Kräfte wurde ein unerbittlicher Widerstand geführt. Kobanê war der Wendepunkt dieses Widerstands.

Der Şengal-Widerstand hat der Welt Luft zum Atmen gegeben

Die Kräfte, die um die Vorherrschaft im Mittleren Osten kämpfen, haben mit dem IS eine sehr bewusste und rücksichtslose Politik verfolgt. Sie haben genau dieselbe Strategie wie Dschingis Khan und Timur Lenk verfolgt, um den ganzen Mittleren Osten zu beherrschen: unbegrenzte Gewalt und Brutalität. Das der IS die abgetrennten Köpfe hunderter Menschen in der Presse zur Schau stellte, rührt nicht von ihrer Unwissenheit her, sondern ist vollständig ein strategisches Kalkül. Die Strategie ist Angst, Panik und Ergebenheit zu schaffen. Nach den ersten Massakern des IS konnte beobachtet werden, dass noch bevor der IS anrückte Angst verbreitet wurde und die Städte ohne Widerstand dem IS ausgeliefert wurden.

Den ersten und einzigen Widerstand gegen den IS haben die Guerillas der PKK und die in Rojava kämpfenden KämpferInnen der YPG und YPJ gezeigt, als die êzîdisch-kurdische Bevölkerung in Şengal angegriffen wurde. Während die USA, Russland und die EU-Staaten trotz ihrer riesigen Kräfte den Genozid an der êzîdischen Gesellschaft beobachteten, haben die HPG- und YJA-Star-Guerillas und die KämpferInnen der YPG/YPJ hunderttausende ÊzîdInnen, ChristInnen und Muslime vor einem Massaker gerettet. Der Şengal-Widerstand hat der Welt sprichwörtlich Luft zum Atmen gegeben und sie zum Innehalten und Nachdenken gebracht. Die Menschen haben sich ein wenig von der Atmosphäre der Panik und Angst befreit und die Situation zu hinterfragen begonnen. Die Menschen haben zu hinterfragen begonnen: warum greifen die USA, die EU und die anderen globalen und regionalen Kräfte trotz ihrer vielen Möglichkeiten nicht in diese Brutalität ein? Oder möchten sie von dieser Brutalität profitieren? Während diese Situation die Legitimität der genannten internationalen und regionalen Staaten zur Diskussion stellte, haben die PKK und ihr Vorsitzender ein großes Ansehen gewonnen. Der „Terrorismus“-Stempel, den der türkische Kolonialismus und der Imperialismus seit 40 Jahren unserer Bewegung aufdrückte, wurde weggewischt. Von diesem Punkt an konnte niemand mehr Beziehungen mit dem IS oder ähnlichen Organisationen fortsetzten. Insbesondere die Kräfte, die sich selbst als „demokratische Staaten“ definierten, mussten neuen Methoden nutzen, um ihre Existenz in der Region fortsetzten zu können.

Trotz dessen setzten die regionalen Kräfte ihre Politik mit dem IS und ähnlichen Kräften weiter fort. Diesmal versuchte man den IS auf Kobanê zu hetzten und Kobanê zu Fall zu bringen. Das Ziel hierbei war es, die Errungenschaften der KurdInnen in Rojava und vor allem die Errungenschaften einer freiheitlichen Linie im Mittleren Osten zu liquidieren. Jeder hat in gewisser Weise ein Interesse daran. Sowohl das Regime und indirekt die sie unterstützenden Kräfte als auch die Türkei und Saudi Arabien hatten ein Interesse daran. Der IS hatte seine strategischen und taktischen Beziehungen über die KurdInnen-Feindlichkeit aufgebaut. Der Angriff auf Kobanê ist dadurch entstanden. Gegen den Angriff auf Kobanê wurde ein ernsthafter Widerstand gezeigt, der alle vier Teile Kurdistans umfasste. Insbesondere die KurdInnen im Norden, im Süden und in Ostkurdistan haben die notwendige Sensibilität gegenüber dem Widerstand von Kobanê aufgebracht. Das lange Andauern des Widerstands hat zunehmend auch das Interesse der regionalen Gesellschaften und internationalen Öffentlichkeit gestärkt.

Infolge eines 100 Tage andauernden, großen Widerstands war Kobanê auf einmal auf der globalen Tagesordnung. Nach der internationalen Aufmerksamkeit konnte der IS nicht den gewollten Sieg erreichen und erlebte einen Bruch. Genau an diesem Punkt haben die globalen und regionalen Kräfte ihre eigene politische und militärische Situation reflektiert und in ihrer Hinsicht eine neue Phase gestartet.

Der Widerstand von Şengal und Kobanê hat bei der internationalen Gemeinschaft Gewissensbisse hervorgerufen

Mit dem kurdischen Widerstand in Rojava und Kobanê wurde eine neue Situation geschaffen. Die internationale Gemeinschaft und Öffentlichkeit haben einen unglaublichen Druck auf die USA und andere globalen Kräfte aufgebaut, damit diese eingreifen. Şengal und Kobanê haben buchstäblich bei der internationalen Gemeinschaft Gewissensbisse hervorgerufen. So wie während des Zweiten Weltkriegs von beiden Seiten und der Gesellschaft das Bündnis zwischen der Sowjetunion und den USA gegen den Hitler-Faschismus als legitim angesehen wurde, wird auch die Beziehung zwischen der von den USA angeführten Koalition und der YPG von beiden Seiten der Öffentlichkeit als legitim und notwendig angesehen. So wie die Sowjetunion und die USA im Zweiten Weltkrieg, haben diesmal beide Seiten das Bedürfnis nach einer Beziehung gehabt. Somit ist eine taktische Beziehung mit der von den USA angeführten Koalition im Kampf gegen den IS zustande gekommen. Die Art und Weise wie diese Beziehung begonnen hat, ist so zu bewerten. Anstatt nur mit Blick auf die ideologischen Positionen der beiden Seiten ein Urteil zu fällen, ist es wichtiger zu sehen wie sich diese Beziehung entwickelte und wer in dieser Beziehung mit welchem Ziel agiert.

Denn seit 40 Jahren kämpft die USA gegen die PKK und die PKK kämpft gegen den Kolonialismus und gegen das imperialistische System. Aber es gibt eine neue Situation und ein Chaos, das im Mittleren Osten herrscht und das Weltsystem betrifft. In diesem Chaos geht es nicht nur um den Kampf der unterdrückten Völker und sozialistischen Bewegungen sowie den Kampf der imperialistischen Kräfte. Es gibt die Kämpfe zwischen den imperialistischen Kräften selbst, den zwischen den imperialistischen und regional-kolonialistischen Kräften sowie die lokal-reaktionären Kämpfe. Dieser Kampf bietet die Möglichkeit für alle Kräfte, taktische Bündnisse einzugehen, aber gemäß eigener Ziele zu agieren. Folglich versuchen Alle von den Kräften und Möglichkeiten Anderer zu profitieren um die eigenen Ziele zu erreichen. Verschiedene politische und militärische Positionen bieten dafür die Grundlage.

Die zwingende Option der USA

Weil die politischen und militärischen Interventionen der USA in Syrien, die sie zu Beginn der Krise im Mittleren Osten mithilfe der Türkei und Saudi Arabien umsetzte, ins Leere liefen, war sie mit ein paar wenigen Optionen konfrontiert. Die erste Option war es, Syrien, also die Region zu verlassen. Syrien und die Region zu verlassen ist gleichbedeutend damit von der Welt-Hegemonie abzurücken. Die USA konnte dies nicht tun. Die zweite Option war es, über die Türkei und Saudi Arabien noch mehr in fehlgeschlagene Politik zu investieren. Dies hätte keine anderen Folgen mit sich gebracht. Die dritte Option hingegen war es, den Weg fortzusetzen, in dem sie mit einer neuen Kraft, die in der Region erfolgreich ist, Beziehungen aufbauen. Dies war schon fast die einzige, zwingende Option der USA.

Die USA haben, anstatt ihre vorherige Praxis zu wiederholen, weiter mit der Türkei und Saudi-Arabien die siegreiche Freiheitskraft zu bekämpfen, einen größeren Vorteil für sich darin gesehen, mit den durch den Widerstand hervorgebrachten Erfolgen zusammenzuarbeiten. Diese Voraussicht, sich die Errungenschaften selbst zuzuschreiben, ist eine imperialistische List. Die USA haben sehr berechnend eine taktische Beziehung in Kobanê aufgebaut. Sie haben mit der internationalen Koalition eine Phase begonnen, den dortigen Widerstand der YPG-Kräfte zu unterstützen. Diese Phase war mehr eine taktische Phase. Der von den KurdInnen in Rojava entwickelte Freiheitskampf ist mehr ein Kampf, der die Freiheit und Gleichheit zur Grundlage nimmt; ein sozialistischer Kampf und Widerstand. Er verfolgt die Geschwisterlichkeit und Einheit der Völker. Auf der anderen Seite hingegen führt der Imperialismus eine Politik für die Hegemonie im Mittleren Osten. Diese beiden sehr unterschiedlichen strategischen und ideologischen Situationen haben im gegenwärtigen Mittleren Osten nur auf taktischer Ebene eine Phase in Kobanê eingeleitet. Das Danach kann als Fortsetzung dieser taktischen Beziehung bewertet werden. Diese Beziehung ist eine sehr schmerzhafte. Während auf der einen Seite der Freiheitskampf einen Kampf führt, um seinen eigenen Raum auszuweiten und mit demokratischen Lösungen einen freien Mittleren Osten zu erschaffen, ist die andere Seite die Beziehung eingegangen, um die eigene Hegemonie im Mittleren Osten auszubreiten und vorherrschend zu machen. Dies ist nicht nur eine Beziehung, die sich gegenseitig nicht unterstützt. Es ist eine Beziehung zwischen Kräften, die unter sich fortwährend im Konflikt zueinander stehen.

Ist dies nicht eine geschichtlich sehr seltene, vielleicht sogar zum ersten Mal auftretende Situation? Gibt es also eine Situation, in der sich die Interessen der unterdrückten Völker und gesellschaftlichen Kräfte mit denen der imperialistischen Kräfte treffen und damit einhergehend ein taktisches Zusammenkommen entstehen kann?

Im Mittleren Osten geschieht so etwas zum ersten Mal. Beispiele dafür gibt es auf der Welt. Wenn wir uns die Geschichte von Freiheitskämpfen anschauen, können wir viele Beispiele anführen. Auch aus jüngster Zeit gibt es Beispiele. Insbesondere in der Zeit des Ersten und Zweiten Weltkriegs sowie der Sowjetischen Revolution gibt es viele Beispiele. Beispielsweise gab es im antifaschistischen Kampf während des Zweiten Weltkriegs zwischen der im Bündnis stehenden Sowjetunion und den USA gemeinsame Frontbereiche gegen den Faschismus. Wie kann man nun die Sowjetunion bewerten? Wenn wir die direkten Beziehungen mit der USA oder den Beziehungen mit dem von England angeführtem Westen betrachten, kann man die Feststellung treffen, dass die Sowjetunion mit dem Imperialismus kollaborierte. Das wäre eine vereinfachende und dogmatische Herangehensweise. Ähnliche Beispiele gibt es auch während der Oktoberrevolution. Während der Revolution gab es eine Vielzahl von Abkommen. Es gab wirtschaftliche Vereinbarungen mit dem Kapitalismus und den ImperialistInnen sowie politische Abkommen. Aber wenn wir das Wesen dieser Abkommen betrachten, gibt es keine Verleugnung des Sozialismus in ihnen. Wir können ebenso wie wir zur Zeit der Oktoberrevolution in den von Lenin entwickelten Beziehungen mit verschiedenen kapitalistischen und imperialistischen Kräften keine Verleugnung des Sozialismus sehen, auch keine während des Zweiten Weltkriegs erkennen. Es gibt hier vielmehr die Notwenigkeit der Oktoberrevolution von taktischen und strategischen Beziehungen und Abkommen. Auch der gegen den Faschismus geführte Kampf im Zweiten Weltkrieg hat den Aufbau einer antifaschistischen Front zwingend notwendig gemacht.

Von welcher Dauer werden diese Beziehungen sein?

Die Beziehungen enden mit dem Hervortreten von noch mehr Problemen. Es sind keine strategischen Beziehungen. Die Oktoberrevolution schloss während sie ihre eigene Revolution vorantrieb mit vielen kapitalistischen Kräften Vereinbarungen, die jedoch eine konjunkturelle Situation zum Ausdruck brachten und mit dem Enden dieser Situation keinen Sinn und Wert mehr hatten. Ähnliches gilt auch für den Zweiten Weltkrieg.

Das während des Zweiten Weltkriegs geschlossene Bündnis war Ausdruck einer antifaschistischen Haltung, die Ergebnis des Zusammentreffens der Vaterlandsverteidigung der Sowjetunion, die stark vom Faschismus angegriffen wurde, mit anderen antifaschistischen Interessen war. Während der Angriffe des Faschismus war diese Haltung präsent. Nach der Niederlage des Faschismus ist jeder in die jeweilige politische Position zurückkehrt und hat sich entsprechend der eigenen ideologisch-politischen Linie weiterbewegt.

In der Region gibt es drei Hauptlinien

Vielleicht gibt es im Mittleren Osten dafür nicht viele Beispiele. Im Mittleren Osten ereignet sich so etwas zum ersten Mal. Es ist eine etwas spezielle Situation. Die sich auf der ganzen Welt ereignenden Konflikte und Kämpfe sind eigentlich der Dritte Weltkrieg. Der Mittlere Osten ist die Geographie, in der der Dritte Weltkrieg am spürbarsten ist. Wir können im Mittleren Osten heute viel Neues sehen. Wir können sowohl aus Sicht der Status quo-Staaten, des internationalen Imperialismus und der revolutionär-sozialistischen Kräfte ein sehr kompliziertes Geflecht aus taktischen und strategischen Beziehungen jeweils zur Stärkung der eigenen Linie erkennen.

Denn die Realität in der Region ist sehr komplex. In der Region gibt es drei Hauptlinien. Eine ist die internationale imperialistische Linie und die mit ihr verbundenen Kräfte. Sie wird vertreten von den USA, Russland und den EU-Staaten. Die zweite Linie sind die regionalen Status quo-Kräfte. Vertreten werden sie durch Kräfte wie die Türkei, den Iran und Saudi Arabien. Die dritte Linie ist die Linie von Sozialismus, Demokratie und Freiheit. Repräsentiert wird sie durch die linken und sozialistischen Bewegungen, in Federführung der PKK und gesellschaftlicher Kreise. Diese drei grundlegenden Kräfte haben sowohl untereinander Konflikte und insbesondere die beiden ersten Linien haben intern nochmals starke Widersprüche. Folglich können diese unterschiedlichen Linien entsprechend der primären Widersprüche und Interessen fortwährend verschiedene Beziehungen und Bündnisse entwickeln. Jeder steht sich im Konflikt gegenüber, aber ist gleichzeitig auch offen für Beziehungen und Bündnisse. Unsere Definition des Dritten Weltkriegs basiert auf diesen Realitäten. Wenn wir uns entsprechend dieser Definition des Dritten Weltkriegs bewegen, dann treten viele strategische und taktische Beziehungen auf. Und eine Vielzahl von Kräften ist dazu gezwungen taktische Beziehungen einzugehen, die als Widerspruch erscheinen mögen, um die eigene Strategie verfolgen zu können. Das gilt für Alle. Das liegt im Wesen dieser Politik und der Diplomatie. Das muss erwartet werden. Deswegen kann es ein sehr oberflächlicher und enger Ansatz sein, sich nur die an der Oberfläche liegende politische und militärische Situation anzuschauen und zu werten.

Das ist eine praktische Phase

Sich der Angelegenheit richtig anzunähern bedeutet, zu erkennen, dass es eine tiefe und strukturelle Krise des globalen kapitalistischen Systems gibt. Diese Krise ereignet sich global, drückt sich aber am meisten im Mittleren Osten aus. Der im Mittleren Osten andauernde Konflikt hat sowohl eine politische als auch eine militärisch Form. Hier reicht ein ideologischer und politischer Ansatz nicht aus. Es muss gleichzeitig auch organisatorisch und militärisch Stellung bezogen werden. Dies bedeutet kontinuierlich gegen das Bestehende zu kämpfen, es zu verändern, zu transformieren und an Stelle dessen etwas Neues zu gestalten. Das ist eine praktische Phase. Denn wenn die praktischen Fragen nicht richtig angegangen werden und die Dialektik der eigenen Entwicklung nicht gut erkannt wird, kann mit dogmatischen Ansätzen der eigenen Liquidation den Weg geebnet werden. Das kann zu einer Situation führen, in der sich die Freiheitslinie überhaupt nicht ausdrücken kann. Deshalb muss dieser Komplex richtig verstanden werden. Es muss sehr deutlich entschieden werden gegen was und wann etwas unternommen wird. Es muss sehr gründlich bewertet werden, wie eine eroberte Errungenschaft und Stellung geschützt und genutzt wird für die Etablierung und den Aufbau des Sozialismus. Wenn wir es nicht auf diese Art und Weise betrachten, können wir weder die Freiheitslinie verstehen, noch die Situation der regionalen Status quo-Kräfte oder die des internationalen Imperialismus. Wir würden dem von der Gesellschaft geführtem Kampf und Widerstand das größte Unrecht antun, wenn wir alles durchmischen und von außerhalb mit nur theoretischen Ansätzen den Anschein einer großen Befreiung geben würden.

Diese Beziehungen sind taktische Beziehungen, das ist verständlich. Die Föderation in Nordsyrien und die Kräfte Rojavas haben sowohl Beziehungen mit den USA als auch mit Russland. Es ist bekannt, dass dies große imperialistische Kräfte sind. Ist es wirklich möglich mit diesen ImperialistInnen in politische, militärische, wirtschaftliche Beziehungen zu treten und dabei gleichzeitig seine sozialistische Identität zu schützen?

Unser Kampf ist ein Freiheitskampf, der die gesamte historische Erfahrung vergangener Befreiungsbewegungen in seinem Bewusstsein trägt und dementsprechend agiert. Mit einem realsozialistischen Blick können wir nicht verstanden werden. Wir wissen aus der Praxis des Realsozialismus sehr gut, dass sich kein Freiheitskampf auf der Weise des Realsozialismus führen lässt; also die Welt in verschiedene Pole zu teilen und sich in einer dieser Fronten zu positionieren. Weder ist die Weltlage dementsprechend, noch ist es möglich einen Freiheitskampf zu führen, in dem man sich selbst innerhalb des globalen kapitalistischen Systems abstrahiert und dadurch marginalisiert. Es muss sich ganzheitlich der Angelegenheit angenähert werden. In diesem Punkt leben wir in einem kapitalistischen Weltsystem. Wir möchten im globalen kapitalistischen System, im Kampf gegen den Kapitalismus, Imperialismus und Kolonialismus, einen Raum der Freiheit eröffnen. Wir haben nicht die Möglichkeit, uns innerhalb eines existierenden freien Gebietes zu positionieren und dort einen neuen Raum zu eröffnen. Wir möchten in einer versklavten Welt einen Raum der Freiheit schaffen. Die Räume, die wir öffnen wollen, sind jedoch in der Hand und unter Kontrolle anderer.

Doch es gibt zwischen den in der Region vorhandenen diversen politischen und sozialen Kreisen sehr ernsthafte Widersprüche. Wir können im Namen unseres sozialistischen Ideals diese Widersprüche und Konflikte ausnutzen und uns so den weiteren Weg ebnen. Es nützt den sozialistischen Kräften nicht, eine Polarisierung der Kräfte zu forcieren oder sich an einen Pol fest zu binden. Wenn wir uns mit einem realsozialistischen Ansatz der Polarisierung der Angelegenheiten annäherten, würden wir von einem Moment auf den anderen alle imperialistischen und kolonialistischen Kräfte gegen uns stellen. Zudem stehen diese wiederum nicht in einem Guss nebeneinander. Zwischen ihnen gibt es viele Widersprüche und Konflikte. Aus diesen Widersprüchen und Konflikten im Namen des sozialistischen Ideals keinen Nutzen zu ziehen, wäre hinsichtlich der sozialistischen Ideologie ein großer Verlust. Wenn wir uns der Angelegenheit nur auf die Weise annähern, zwischen den SozialistInnen, KapitalistInnen und ImperialistInnen zu unterscheiden, dann bleiben in dem Gebiet nur wenige, die wir als GenossInnen bezeichnen könnten. Nur mit GenossInnen diesen riesigen Kampf zu führen ist sehr schwierig. Die Dinge, die wir wenn möglich vom kapitalistisch-imperialistischen System entreißen, stärken die sozialistische Bewegung und schwächen die andere Seite. Dementsprechend müssen wir mit einer richtigen Organisierung und einem richtigen Kampf, basierend auf unserer eigenen Ideologie, unserem Politikansatz und unserer Linie, fortwährend Räume der Freiheit öffnen. Denn vor uns stehen Kräfte, die über diese Gebiete herrschen, und hegemoniale mit dem Kapitalismus verbündete Kräfte. Wir müssen uns in diesen Gebieten einen Weg ebnen.

Die freiheitliche Linie hat im Mittleren Osten eine große Wirkung entfaltet

Wenn wir uns die Realität des Mittleren Ostens anschauen, dann gibt es darin eigentlich keinen Raum, den wir als einen Freiraum bezeichnen könnten. Jede Seite hat verloren, die gesamte Geschichte hindurch wurde verloren. Auf der Ebene des Gesellschaftsverständnisses und der Mentalität wurde man innerhalb des gegenwärtigen kapitalistischen Weltsystems verschluckt. Die Länder und die Geographie wurden mehr von der kolonialistischen, imperialistischen Hegemonie besetzt. Im Namen staatlicher Souveränität wurde der Weg zu gesellschaftlicher Emanzipation verschlossen. Die KurdInnen entwickeln unter solchen Bedingungen einen Freiheitskampf. Wir möchten insbesondere innerhalb einer gesellschaftlichen Realität, die von den vier Kolonialstaaten und dem Imperialismus verleugnet wird, einen Freiraum schaffen. Deshalb brauchen wir eine äußerst gut kalkulierte Annäherungsweise. Vereinfachend zu behaupten, „das sind alles ImperialistInnen, KolonialistInnen und KapitalistInnen“, und sie somit Alle gegen uns zu stellen, bedeutet von vornherein die Niederlage zu akzeptieren.

Das bedeutet die Liquidation des Freiheitskampfes in Kauf zu nehmen. Was ist also zu tun? Die militärische, politische und gesellschaftliche Realität dieser Gebiete ist sehr gut zu verstehen und es ist zu wissen, sich innerhalb dieser Realität von jetzt auf gleich zu behaupten. Wer sich in diesem Sinne bewegt, findet sich unweigerlich in einer Situation wieder, mit einer Vielzahl von Kräften aufeinanderzutreffen, zusammenzukommen und taktische, militärische und politische Beziehungen einzugehen. Das Wichtige hierbei ist stets, nicht von der eigenen ideologischen, politischen und freiheitlichen Linie abzurücken, damit alle Beziehungen letztlich diesem Ziel dienen. Alle die im Mittleren Osten einen Kampf für Freiheit führen sind dazu gezwungen, sich diese Realität vor Augen zu führen und sich in dieser auszudrücken.

Nun gibt es auch einen von uns entwickelten Freiheitskampf. Wenn sich die Geschichte unseres Freiheitskampfes angeschaut wird, dann kann eine Vielzahl von Schwierigkeiten, aber auch Reichtum erkannt werden, die den Menschen verschrecken können. Seit über 40 Jahren hat sich das globale kapitalistische und imperialistische System gegen den von der PKK entwickelte Kampf für Sozialismus und Freiheit verbündet. Sie haben die kolonialistischen Kräfte unterstützt und in sie investiert, um die Erhebung einer Freiheitsbewegung zu verhindern und zu unterbinden. Trotz dessen wurde ein großer Kampf allein mit der Unterstützung der Gesellschaft entwickelt. Dieser Kampf wurde von den Menschen getragen. Dieser emanzipatorische Ansatz, der von der kurdischen Gesellschaft getragen wird, hatte einen enormen Einfluss auf den Mittleren Osten und der Kampf hat eine Nische in der aktuellen politischen Konjunktur gefunden. Obwohl die kapitalistische Welt sie vernichten wollte, hat die Erfahrung der Bewegung, die auf der Guerilla, demokratischer Politik und der Organisierung der Gesellschaft basiert, große Ergebnisse erzielt.

Ein Mittlerer Osten ist zum Vorschein gekommen, in dem die imperialistischen Kräfte vor dem Bankrott stehen

Dieser Widerstand hat es auch gewusst, sich am Leben zu erhalten, indem er von einer Vielzahl von Bewegungen, die sich in verschiedener Hinsicht als freiheitlich oder antisystemisch bezeichnen, aktive Unterstützung bekommen hat. Viele Kreise haben an diesem 40-jährigen Kampf gezweifelt und keine unterstützende Annäherungsweise gehabt. Nun ist im Mittleren Osten ein Chaos vorhanden, das auch mit den Ergebnissen zusammenhängt, die dieser 40-jährige Kampf geschaffen hat. Dieses Chaos hat den Mittleren Osten erschüttert. Es ist ein Mittlerer Osten zum Vorschein gekommen, in dem die großen Kräfte, die internationalen und imperialistischen Kräfte, vor dem Bankrott ihrer Politik. Es ist deutlich geworden wie schwach der so stark geglaubte Kapitalismus, Imperialismus oder die Rolle von Israel im Mittleren Osten sind. Das Chaos im Mittleren Osten hat buchstäblich Alle verschluckt und unsichtbar gemacht. Auch die mit ihnen in Beziehung stehenden regionalen Staaten und ihre Hegemonie und Strukturen des Status quo sind zusammengebrochen und erschüttert worden. Woher kommt dies nun? Ohne Zweifel können wir dies mit der Krise des Systems und den historischen Widersprächen erklären, aber das ist nicht alles.

Die Systemkrise oder historische Widersprüche können sich nur mit einem gewissen Kampf und Interventionen in ein Chaos umwandeln. Damit hat der von der PKK seit 40 Jahren geführte Freiheitskampf einen großen Anteil am Entstehen des Chaos im Mittleren Osten und dem Niedergang des Systems. In dieser neuen Phase versuchen Alle sich buchstäblich im Mittleren Osten neu aufzustellen. Das ist sehr wichtig und muss erkannt werden. Das Zentrum der Krise der kapitalistischen Krise ist gegenwärtig der Mittlere Osten. Entweder wird sich der Kapitalismus im Mittleren Osten vom Neuen generieren und seine Lebensdauer weitere hundert oder tausend Jahre verlängern oder das Chaos im Mittleren Osten wird als ein Gebiet in dem sich die Freiheit entfaltet innerhalb des Systems der kapitalistischen Moderne einen neuen Durchbruch öffnen. Das ist der eigentlich Grund, warum sich alle Weltmächte heute im Mittleren Osten befinden und dort Krieg führen. Die Angelegenheit nur mit Ölkriegen zu erklären wäre ein sehr oberflächlicher Ansatz.

In der Krise des globalen kapitalistischen Systems ist der Mittlere Osten der Schauplatz des Dritten Weltkriegs. Jeder ist hier vertreten. Der Kampf hier ist ideologisch, politisch und systemisch. Der globale Imperialismus strebt danach, im Zuge dieses Kampfes eine postmoderne Welthegemonie und ein erneuertes Weltsystem zu entwickeln. Die regionalen Status quo-Staaten versuchen sich an ihren Vorteilen und Möglichkeiten des alten Systems des 20. Jahrhunderts festzuhalten. Die unterdrückten Völker und gesellschaftlichen Kreise streben in diesem Chaos danach, ihre eigene Freiheit und Gleichheit zu erlangen. Das ist nun in Rojava der Fall.

Ist es trotz den USA, Russland und den europäischen Staaten möglich in Nordsyrien oder auch im gesamten Mittleren Osten ein sozialistisches Leben aufzubauen?

Wenn wir den Mittleren Osten vor der Krise betrachten, gab es keine freiheitliche Linie. Weder in Tunesien, Libyen, Ägypten, noch in den Golfstaaten gab es eine. In wessen Händen drehte sich das Chaos? Es stellte sich mehr als ein Kampf dar, in dem sich die kapitalistische Moderne von neuem etablieren wollte und als ein Konflikt der imperialistischen und kolonialistischen Kräfte. Es gab keine Linie und Organisierung, die die Freiheit hätte ausdrücken können. Weil die Suche nach Freiheit der Gesellschaften unorganisiert war, sind die Kämpfe und Bemühungen kontinuierlich in deren Händen geschmolzen. Aber als die Krise Rojava erreichte, ist dort aufgrund der freiheitlichen Linie eine neue Situation entstanden. Das ist eine neue Situation, die durch die PYD und YPG entstand. Zum ersten Mal ist im Mittleren Osten gegen die kapitalistische Moderne eine demokratische, freiheitliche und sozialistische Linie hervorgetreten. Deshalb sind alle von Anfang an zusammenkommen, um diese Linie zu ersticken. Deshalb haben sie sich zusammen getan und versucht diesen Kampf, der mittlerweile vom Mittleren Osten und der Welt getragen wurde, zu brechen. Am Ende waren sie gezwungen, mit denen, die sie nicht liquidieren konnten, Beziehungen aufzunehmen.

Was ist in dieser Position zu tun? Natürlich müssen die für Freiheit Kämpfenden zuallererst sich selbst vertrauen. Wenn sie ein Bedürfnis nach und einen Glauben an ihre Ideologie, den Sozialismus, die Freiheit und die Gleichheit der Gesellschaft haben, brauchen sie sich nicht scheuen mit wem auch immer Beziehungen aufzubauen.

Die von Ihnen gestellte Frage ist förmlich wie das Schicksal des Mittleren Osten. Wenn dort jemand einen Freiheitskampf führt und eine Politik verfolgt, seine eigenen Interessen auszuweiten, dann sind diese Kräfte dazu gezwungen, ständig eine Phase und Situation der Beziehungen und Widersprüche zu leben. Dies kann manchmal in Form von Kompromissen und Bündnissen, manchmal in Form von Auseinandersetzungen sein. Beispielsweise waren die USA, die den KurdInnen gegenüber zu Anfang keinerlei Interesse zeigten, dazu gezwungen, später mit den YPG taktische Beziehungen einzugehen.

Aber sie versuchten mit der eingegangenen taktischen Beziehung alles in ihrer Macht stehende zu tun, sie von ihrer sozialistischen Identität zu trennen und ins kapitalistisch-imperialistische System zu integrieren. Das ist eines ihrer wichtigsten Anliegen bei der Entwicklung von Beziehungen. Aber die KurdInnen und die freiheitliche Linie haben eigene Anliegen in dieser Beziehung. Es ist wichtig wer auf wessen Pferd steigt. Auch sind die Ergebnisse die beide Seiten aus dieser Beziehung in strategischer und taktischer Hinsicht erwerben von Bedeutung. Der Gewinn einer Stellung durch die KurdInnen in Rojava und die Kräfte der Demokratischen Föderation Nordsyrien trägt eine strategische Bedeutung für alle sozialistischen und antisystemischen Kräfte. Die Anwesenheit der USA aber hat einen quantitativen Wert allein für das imperialistische System. Ohne Zweifel sind diese taktischen Beziehungen wichtig für sie. Wir sind uns klar darüber, dass diese Beziehungen fortwährend konfliktreich sein werden. Doch die Bewegung in Rojava vertraut auf sich selbst und erzielt durchaus Ergebnisse.

Auf einem kleinen Stück Land, das wir Rojava nennen, wurde ein Raum der Freiheit geschaffen

Heute ist eine internationale Koalition in Syrien aktiv, die von den USA repräsentiert wird. Hinter dieser stehen alle Kräfte des Kapitalismus. Eine andere Front dieses System bildet Russland, hinter der ebenfalls eine Vielzahl von Kräften steht. Wenn man die eine Seite als NATO nimmt und die andere als Eurasien, dann haben in Person von Russland und den USA alle hegemonial-kapitalistische und imperialistischen Kräfte auf der Welt ihre zentrale Repräsentanz. Gleichzeitig befinden sich die regionalen Staaten in Beziehungen und Widersprüchen zwischen diesen beiden Polen. Während diese auf der einen Seite versuchen das kapitalistisch-imperialistische Weltsystem durchzusetzen, konkurrieren sie auf der anderen Seite miteinander darum, ihre eigene Hegemonie zu einer absoluten Hegemonie auszubauen.

In solch einer Situation haben wir auf einem kleinen Fleck Erde, welchen wir Rojava nennen, einen Raum der Freiheit, einen demokratisch-kommunalen Raum geöffnet. Wir sprechen im Mittleren Osten zum ersten Mal von einem solchen Raum der Freiheit. Es gibt eine Kraft, die sich auf diesem Stück Erde gesellschaftlich, politisch und ökonomisch Ausdruck verschafft. Diese Kraft hat die gesamte materielle und moralische Kraft einer Gesellschaft hinter sich und kämpft auf ihre Weise. Gleichzeitig möchte sie sich gegen die gesamte Macht des kapitalistischen Systems mit einem ideologischen, politischen und wirtschaftlichen Widerstand behaupten. Wir müssen darüber nachdenken, was dieser Freiraum bedeuten kann. Es gibt die imperialistische und kapitalistische Herangehensweise, die diesen Raum vernichten will. Damit geht eine gewisse Last einher.

Daneben gibt es eine freiheitliche Linie des Widerstands, die diesen Raum noch weiter ausbreiten will. Hier müssen wir den Widerspruch und den Konflikt gut verstehen. Ohne diesen Widerspruch und Konflikt zu verstehen, können wir die ganze Angelegenheit nicht verstehen. Die Widersprüche und Konflikte hierbei, die Beziehungen der YPG mit Russland und den USA, müssen sehr gut bewertet werden. Wenn wir sogar nur schauen wie diese Beziehungen an einem Tag geführt werden, ist es möglich das Problem zu verstehen.

Sie haben von den strategischen Herangehensweisen der Kräfte gesprochen. Über was für einen strategischen Ansatz verfügt Russland?

Im strategischen Ansatz Russlands sehen wir den Versuch als regionale Kraft in die Region zu intervenieren. Welche Kräfte unterstützen es? Der Iran, die Türkei, der Irak und Syrien. Russland möchte die anderen Staaten im Mittleren Osten auf eine gewisse Weise beeinflussen und so eine Kraft aufbauen. Was ist hierbei sein grundlegendes strategisches Ziel? Es möchte, dass das Regime in Syrien einen nationalstaatlichen Charakter gewinnt und so von Neuem eine hegemoniale Kraft wird. Wir können hierbei keinen Ansatz erkennen, der sich mit Demokratie, Gleichheit, Freiheit oder einer wirklichen grundlegenden demokratischen Lösung der Probleme assoziieren lässt.

Während dieser Ansatz umgesetzt wird, baut Russland in den alltäglichen Widersprüchen mit den verbündeten Kräften ein Konzept auf. Es verfolgt eine Politik, den von den KurdInnen angeführten Freiraum in das gegenwärtige Regime bzw. Nationalstaat zu integrieren. Seine militärische, politische und diplomatische Kraft schützt es auf diese Basis. Aber auf der anderen Seite versuchen diejenigen, die einen Freiheitskampf führen, die Situation dieser Kraft ausnutzen und sich durch die Widersprüche hinweg ihren Weg zu bahnen. Deshalb ist es sehr schmerzhaft. Russland versucht durch Beziehungen mit den TürkInnen, IranerInnen und den Kräften des Regimes den Freiheitskampf zu übernehmen und ins Regime zu integrieren. Die Freiheitsbewegung versucht trotz alledem, von den Rissen dieser Beziehungen zu profitieren und politisch, militärisch, wirtschaftlich und diplomatisch ihren Weg fortzusetzen.

Wenn wir schon von dem strategischem Ansatz Russlands sprechen, möchte ich auch in Hinsicht auf die USA eine Frage stellen. Was für einen strategischen Ansatz verfolgt die USA?

Ähnliches gilt auch für die USA. Sind sie sehr erfreut über die freiheitliche Linie der PYD? Ich denke, dass die USA nicht sehr vom Aufbau eines kantonalen Gebildes, der Bevorzugung eines Selbstverwaltungssystems und den Bestrebungen zur Schaffung einer im sozialen Sinne freiheitlichen Gesellschaft, erfreut sind. Sie sehen darüber als eine konjunkturelle Situation hinweg und möchten mit taktischen Beziehungen militärische Erfolge erzielen. Aber dem gegenüber bauen sie ihre staatlichen Beziehungen auf einer strategischen Grundlage langfristig aus. Es wird also bloß das hegemoniale System gestärkt, wenn in der taktischen Beziehung nicht der antiimperialistische Charakter gesehen und sich stattdessen abgegrenzt wird. Abseits von taktischen, politischen und militärischen Beziehungen gibt es keine andere Beziehung. Das vom Imperialismus zur Grundlage genommene, auf Monopolen basierende ökonomische System ist in Rojava auch nicht gültig.

Monopolen wird kein Raum gegeben. Im Wesentlichen wird ein im politischen und wirtschaftlichen Sinne freiheitliches und gleichberechtigtes demokratisches System in Rojava aufgebaut. Dies können wir leicht in der föderalen Verfassung erkennen. Was wird gesellschaftlich organisiert? Die demokratische Gesellschaft und die demokratische Politik. Im wirtschaftlichen Sinne hingegen will man eine kommunale Gesellschaft schaffen. Dafür werden antikoloniale und antimonopolistische Gesetzte gemacht. Hier wird mit Russland, den USA oder anderen kapitalistisch-imperialistischen Kräften also kein taktisches und strategisches Bündnis aufgebaut, sondern im Gegenteil ihnen eine andere Welt aufgezwungen. Es wird versucht ihnen zu zeigen, dass eine andere Welt möglich ist. Das kapitalistische System hingegen akzeptiert dies nicht und möchte diese freiheitliche Alternative bevor sie geboren wird bereits in den Nationalstaat integrieren. Es möchte die Alternative auf den Weg des Nationalismus und den Nationalstaat führen.

Hinter Russland und den USA stehen enorme militärische und politische Kräfte. Im Vergleich mit ihren Kräften ist das eine große Übermacht und ein asymmetrisches Kräftegleichgewicht tritt hervor. Was sind gegenüber diesen beiden Fronten ihre Vorteile? Haben sie ideologische, politische und gesellschaftliche Vorteile?

Selbstverständlich haben wir Vorteile. Entwicklungen in vielerlei Hinsicht beweisen das. Der Mittlere Osten ist ein Ort an dem historisch die Zivilisationen entstanden sind. Wenn ich von Zivilisation spreche, dann meine ich damit die Phase von der Entstehung der klassen- und staatsbasierten Gesellschaft bis zum kapitalistischen System. Innerhalb dieser Phase sprechen wir von einer historischen Situation, in der wirklich alle Werte im Namen der Gesellschaft, Freiheit, Menschheit, Gleichheit auf irgendeine bestimme Weise vernichtet und degeneriert wurden. In diesem Sinne ist die Gesellschaft in einer großen Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit.

Das gegenwärtige Chaos ist sowieso ein Ergebnis dessen. Die Gesellschaften haben eine große Suche nach Freiheit. Unsere größte Überlegenheit ist die Suche der Gesellschaft nach Freiheit. Im sehr allgemeinen Sinne gibt uns unsere sozialistische Ideologie, die eine Antwort auf diese Suche nach Freiheit der Gesellschaft bilden kann, gegen den Imperialismus und Kolonialismus eine Überlegenheit. Im Mittleren Osten konkret hingegen gibt es sehr intensive soziale Fragen, die auf Ethnie, Religion, Konfession, Klasse und Geschlecht basieren. Das System der Zivilisation und sein letzter Repräsentant, das kapitalistische System, sind die Schöpfer dieser Probleme.

Wir schlagen ein demokratisches Lösungsmodell vor, das der Geschichte und der Kultur der mittelöstlichen Völker entspricht. Wir führen im Grunde die sozialistische Idee mit ähnlichen Erfahrungen des historischen und kulturellen Lebens dieser Völker zusammen. Und genau dies macht unsere Ideen so anziehend. Zudem haben wir als Bewegung eine 40-jährige Vergangenheit. Dies ist eine Vergangenheit, die sich nur der Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und der Geschwisterlichkeit der Völker verschrieben hat. Aus diesem Grund vertrauen alle gesellschaftlichen Kreise dieser engagierten Bewegung, die den prophetischen Traditionen ähnelt, die im Gedächtnis der Völker des Mittleren Osten ihren Platz einnimmt. Wir bringen diese Tradition heute mit dem Sozialismus zum Ausdruck. Somit ist es möglich mit einem richtigen ideologischen, politischen und organisatorischen Ansatz eine große Kraft im Mittleren Osten zu werden. Wir haben die Richtigkeit dessen im Mittleren Osten bewiesen. Vorher haben dies durch die Geschichte hindurch viele VerteidigerInnen der Freiheit bewiesen. Wir haben uns in Kurdistan erhoben, in allen vier Teilen Kurdistans. Aber später haben wir in Rojava ein noch höheres Niveau erreicht. Dies ist für uns eine wichtige Stütze. Wird sich hier richtig angenähert, dann können auch Ergebnisse erzielt werden.

Unsere zweite und wichtigste Überlegenheit ist die direkte Beteiligung der Menschen und Gesellschaften am Kampf. Bislang war die Beteiligung der Gesellschaften an Konflikten und Kämpfen mit ihren eigenen Interessen im Mittleren Osten begrenzt. Die Gesellschaften waren eher in der Position der VerliererInnen und Unterdrückten zwischen den herrschenden Kräften. Alle gesellschaftlichen Kreise, die in Nordsyrien leben, nehmen auf eine aktive Art und Weise in den politisch-militärischen und organisatorischen Arbeiten ihren Platz ein. Folglich ist die Möglichkeit für die kolonialistischen und imperialistischen Kräfte die Gesellschaften gegeneinander auszuspielen äußerst gering worden. Dass die Gesellschaft ihre Existenz auf direkte Weise innerhalb solch einer Angelegenheit zum Ausdruck bringt, entspricht dem Entstehen eines neuen Zentrums, eines neuen sozialen Raums. Das ist unser größter Vorteil gegenüber den Herrschenden.

Eine Insel im Meer

Wir können beispielsweise von der Demokratischen Föderation Nordsyrien, dem Kanton Cizîrê oder einem anderen Kanton sprechen. Wenn wir dies formulieren können wir nicht genügend begreifen wie wichtig das ist. Aber die Föderation oder die Kantone sind nicht nur eine gewöhnliche Sache. Was bedeutet das? Es bedeutet inmitten des Meeres eine Insel zu gründen, eine Insel zu sein. Es ist unmöglich, dass das jemand versteht, der den Feind nicht kennt. Es ist unmöglich, dass jemand das versteht, der die Freiheit nicht bis ins Mark liebt. Deshalb ist es nichts anderes als Demagogie vorzugeben, die gegenwärtige Situation mit sehr oberflächlichen ideologischen Ansätzen und politischen Bewertungen zu verstehen.

Was ist das nun, was sich in Rojava erhebt? Was ist das, was sich in Kobanê und Efrîn erhebt? Was bedeutet die Föderation Nordsyrien als Ganzes? Wenn wir all dies bedenken, dann bedeutet es, dass dort nicht nur eine Antwort auf die Freiheitssuche eines Volkes gefunden wird oder das Projekt auf ein Gebiet begrenzt bleibt. Ganz im Gegenteil sind Gebiete entstanden, die die Freiheit lebenswert machen. Freiräume entstehen in Form kleiner Inseln. Diese Inseln kommen zusammen, versuchen Föderationen zu bilden, um der Marginalisierung zu entgehen, und erhalten durch die Zusammenkunft mit internationalen revolutionären Bewegungen universellen Charakter.

Wir sollten erkennen, dass die ausweglose Situation der strukturellen Krise des Kapitalismus und die Widersprüche und das Chaos, das die hegemonialen Gebilde innerhalb des Systems erleben, den revolutionären Kräften im Kampf große Vorteile bieten. Somit bieten die Suche der Gesellschaften nach Freiheit, die Sehnsucht der Menschheit wieder ihre menschliche Identität zu erreichen und die konkreten Ergebnisse dieser Sehnsucht im Mittleren Osten und Rojava mehr als genug Möglichkeiten für die Entwicklung des Freiheitkampfes.

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Morgen beginnen wir den zweiten Teil des Gesprächs mit Riza Altun mit der Beantwortung der folgenden Frage:

„Im Westen, insbesondere in Lateinamerika werden die Regime des Iran und Syriens nicht nur als IS-Gegner, sondern darüber hinaus auch als Antiimperialisten betrachtet. In letzter Zeit hat auch Tayyip Erdoğan angefangen eine antiamerikanische und antieuropäische Sprache zu nutzen. Was liegt Ihrer Meinung nach dem Antiamerikanismus dieser Staaten zugrunde? Sind deren Haltungen wirklich antiamerikanisch oder handelt es sich um einen inneren Kampf zwischen den imperialistischen und kolonialistischen Kräften?“

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Zur Person:
Riza Altun ist eines der Gründungsmitglieder der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Er ist Mitglied im Zentralkomitee der PKK und im Exekutivrat der KCK (Koma Civakên Kurdistan – Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans). Mehr als zehn Jahre verbrachte er ab Anfang der 1980er in türkischen Gefängnissen, unter anderem in dem berüchtigten Gefängnis Nr. 5 in Diyarbakir (Amed). Zurzeit ist er Sprecher der Außenbeziehungs-Kommission der KCK.