Nach Scheitern des türkischen Angriffskriegs in Syrien droht Erdoğan den Êzîden im Nordirak mit neuer Militärintervention

Peter Schaber für Civaka Azad, 13.04.2017

Es war Anfang April, als sich der türkische Autokrat Recep Tayyip Erdoğan mit einer Erfolgsmeldung zu Wort meldete: Die Militäroperation im Norden Syriens, die seine Armee im August 2016 unbestreitbar völkerrechtswidrig begonnen hatte, sei zu Ende und man habe alle Ziele erreicht, denn „Daesh“, der Islamische Staat, sei aus Al-Bab vertrieben worden. Erdoğans Einschätzung verschwieg, dass das eigentliche Ziel des Einmarsches allerdings keineswegs die Eroberung al-Babs gewesen war.

Vielmehr bezweckte die AKP-Regierung in Ankara die Schwächung der Föderation Nordsyrien und der Volksverteidigungseinheiten YPG/YPJ, weil sie sich dadurch eine Schwächung der kurdischen Bewegung rund um die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) im Südosten des eigenen Landes erhoffte. Der Einsatz der türkischen Streitkräfte verfehlte dieses Ziel aber nicht nur, politisch ging die kurdische Selbstverwaltung in Rojava sogar gestärkt aus dem Angriff hervor. Von Moskau bis Washington, von Teheran bis Damaskus war man sich nicht in vielem einig, aber ein taktisches Übereinkommen traf man doch: Niemand wollte die türkische Besatzungsmacht und ihre dschihadistischen Verbündeten nach Minbic (Manbidsch) oder Rakka marschieren sehen.

Erdoğan also scheiterte auf ganzer Linie, während sich an die Ideen des PKK-Gründers Abdullah Öcalan anknüpfende Rätestrukturen weiter und weiter ausbreiteten. So konnte die „Erfolgsmeldung“ Anfang April nicht ohne Ankündigung neuer Angriffskriege bleiben. Der türkische Präsident drohte den „Terroristen“ von YPG und PKK, ohne genaue Marschziele zu nennen. In einem späteren Interview konkretisierte Erdoğan seine Ziele und nannte Tal Afar, Mossul und den Shengal (Sindschar) als Gebiete, für die die Türkei eine „Verantwortung“ habe.

Selbstverwaltung im Shengal

Der Shengal ist Erdoğan nicht ohne Grund ein besonderer Dorn im Auge. Als 2014 die Terrormiliz Islamischer Staat in die êzîdischen Siedlungsgebiete einrückte, zogen sich die rund 12000 hier stationierten Peschmerga von Mesud Barzanis KDP zurück und überließen die dort lebenden Êzîdinnen und Êziden ((alternative Schreibweise “Jesiden”)) einem grausamen Schicksal. Der IS mordete, vergewaltigte und raubte. Wer fliehen konnte, zog sich in den Schutz der Shengal-Berge zurück. Dort schützten zunächst zwölf Guerillakämpfer der HPG den Eingang zum Gebirge und verhinderten ein Eindringen der Dschihadisten. Aus den Bergen an der türkisch-irakischen Grenze kamen, damals auch noch auf Einladung Mesud Barzanis, Guerilla-Kräfte mit schweren Waffen nach.

Einige hundert Êziden gingen nach Rojava und wurden dort von der YPG bewaffnet. „Als der Genozid begann, sind aus meiner Familie sieben Männer nach Derik gegangen. Wir nahmen Waffen auf und sind gemeinsam mit der YPG zurückgegangen, um den Fluchtkorridor für die Bevölkerung frei zu kämpfen“, erinnert sich Heval Veysel, der heute im Bereich für Gesellschaftsarbeit der Êzîdeneinheit YBŞ tätig ist. Diese waren nach der Befreiung des Shengal unter Anleitung der HPG entstanden, heute sind tausende Êzîdinnen und Êzîden ihnen organisiert.

Auf die Befreiung von den IS-Besatzern folgte aber nicht nur der Aufbau der militärischen Selbstverwaltung der Êzîden, es begann auch ein neues gesellschaftliches Projekt. Die Bevölkerung sollte sich von nun an selbst regieren, ihre eigenen Angelegenheiten selbst bestimmen. Dieses Projekt hat seit 2014 Fortschritte gemacht, wenn auch oft mit Widersprüchen und nicht immer schnell genug.

Der Türkei und ihrem lokalen Verbündeten, der KDP, gilt es als große Bedrohung. Seit Monaten verschärft sich die Rhetorik aus Erbil wie aus Ankara. Mehrfach sprach Erdoğan davon, im Shengal ein „zweites Kandil“ verhindern zu wollen, Barzani sekundierte und forderte die PKK auf, den Shengal zu verlassen.

Erdoğans Befehl, Barzanis Bande

Parallel zu Erdoğans Säbelrasseln begannen Anfang März erste Provokationen gegen die êzîdische Selbstverwaltung im Shengal. Milizen, die in den meisten Medien einfach als „Peschmerga“ beschrieben wurden, versuchten in Khanasor, einer für die Êzîden bedeutenden Stadt im Shengal, einzumarschieren. „Was hier ankam, war eine Mischung aus verschiedenen Banden“, sagt Heval Veysel. „Da waren türkischsprachige Kämpfer dabei, Roj-Peschmerga aus Rojava und auch Turkmenen und Araber, die früher hier in der Region mit IS kooperiert hatten.“ Die Schreie der verletzten Gegner seien Türkisch und Arabisch gewesen.

Hinter der Attacke, bei der sieben Kämpfer von YBŞ und HPG fielen, vermutet auch Veysel die Türkei: „Sie haben zuerst den IS unterstützt, doch dieser wurde zurückgeschlagen. Dann haben sie sich der KDP bedient, aber auch die hatte keinen Erfolg. Jetzt droht Erdoğan an, eigene Truppen zu schicken. Ich sage, soll er doch. Wir wollen keinen Krieg, aber wir können uns hier verteidigen. Für Erdoğan ist es eine durchwegs feindliche Umgebung.“

Tatsächlich sind die Verteidiger des Shengal gut vorbereitet. Auch der Angriff der KDP-nahen Banden Anfang März scheiterte, Tote auf Seiten von YBŞ und HPG gab es vor allem deshalb, weil diese versuchten, den Konflikt durch einen Dialog zu lösen. Sollte ein erneuter Angriff folgen, wird die Antwort, so hört man vor Ort, wohl anders ausfallen. „Wir wollen wirklich keinen Krieg, schon weil es bei den Peschmerga auch kurdische und êzîdische Soldaten gibt“, sagt Heval Militan, ein junger Guerillakämpfer. „Aber wenn sie angreifen, dauert es nicht lange. Das müssten sie selber eigentlich auch verstehen. Denn wir sind oben auf dem Berg und sie sind unten. Und wir wissen, wie man einen Guerilla-Krieg führt.“

Obwohl das Vorhaben von wenig Erfolg gekrönt sein wird, könnte der türkische Präsident kurz vor oder nach dem Referendum über die Präsidialdiktatur in der Türkei einen Angriff versuchen. Kürzlich bekundete er: „Wir werden entweder vorrücken oder wir sind dazu verdammt, zu verkümmern. Ich bin entschlossen, Schritte nach vorne zu machen.“

Sollte das tatsächlich geschehen, wäre die internationale Öffentlichkeit gefragt. Denn ein durch irreguläre Milizen am Boden unterstützter Luftkrieg gegen den Shengal stellt nichts weniger dar, als den Versuch, den vom IS begonnenen Genozid an den Êzîden zu Ende zu führen.