Neue Stufe der Repression gegen Kurd_innen in Europa

azadi-transparent2von Monika Morres, Rechtshilfefonds Azadî

Die Nachrichten der letzten Tage überschlagen sich:

In Syrien eskaliert der blutige Konflikt, die Türkei rüstet zum Krieg gegen das Nachbarland auf, zwingt ein syrisches Flugzeug zur Landung, provoziert den NATO-Fall und kann zumindest verbal mit Unterstützung rechnen. NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen: »Wir haben alle notwendigen Pläne bereitliegen, um die Türkei zu schützen und zu verteidigen.« Bundesverteidigungsminister Thomas de Maizière kriegstreibt mit: »Deutschland steht fest an der Seite der Türkei«, und Außenminister Guido Westerwelle reist am 13. Oktober nach Istanbul, um die türkische Regierung einerseits zur Zurückhaltung zu ermahnen, sie aber andererseits in der Auffassung zu bestätigen, dass sie Transporte von Waffen über ihr Land nach Syrien nicht zulassen müsse. Darüber, was sich tatsächlich in dem Flugzeug aus Moskau befunden hat, wurde nichts verlautbart. Die türkische Regierung hatte behauptet, dass es sich um Waffenmaterial handele.

Die AKP-Regierung hat einen am 3. Oktober erfolgten Granateneinschlag von Syrien auf türkisches Territorium, bei dem fünf Zivilisten ums Leben kamen, zum Anlass genommen, massiv aufzurüsten. In den Folgetagen ist es türkischen Angaben zufolge zu weiteren Einschlägen gekommen. Wer allerdings die Granaten abgeschossen hat, ist bis heute nicht geklärt.

Doch ungeachtet dessen hat sich Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan bereits am 4. Oktober vom Parlament das Mandat für Militärinventionen gegen Syrien geben lassen, was die umgehende Verstärkung von Armee-Einheiten, den Einsatz von F-16-Kampfjets und die Verlegung von Panzerverbänden an der 900 Kilometer langen Grenze zur Folge hatte. »Die Türkei muss in jedem Fall für einen Krieg bereit sein«, so Erdoğan am 7. Oktober. Die AKP-Regierung verspricht sich durch diese höchst gefährliche Eskalation den im Zuge des »Arabischen Frühlings« erhofften, aber tatsächlich nicht eingetretenen Einfluss in der Region mit Gewalt zu gewinnen. Es geht der Türkei darum, Syrien als Machtfaktor zu zerstören, um ihrerseits hieraus Profit ziehen zu können – ganz im Sinne des Nordatlantikbündnisses und dessen Konzepts einer Neuordnung des gesamten Nahen und Mittleren Ostens. Würde Syrien ähnlich zerlegt wie der Irak, die Assad-Regierung zerschlagen und der Einfluss der Sowjetunion in der Region dadurch geschwächt, wären für die USA, EU und Israel alle Barrieren beseitigt, um sich dem Iran als eigentlichem Ziel in feindlicher Absicht zu widmen.

Türkischer Wolf heult …

Erdoğan spekuliert gleichzeitig darauf, mit militärischen Mitteln die sich sehr konkret abzeichnenden Autonomiebestrebungen im türkischen und insbesondere im syrischen Teil von Kurdistan bekämpfen und zerstören zu können. Innenpolitisch fährt die AKP-Regierung seit vielen Monaten sowohl gegen die kurdische Bevölkerung als auch die Befreiungsbewegung einen aggressiven Repressionskurs, der beängstigend an die 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts erinnert.

Die seit Jahrzehnten praktizierte Methode türkischer Amtsträger, den europäischen Staaten vorzuwerfen, nichts gegen »Terroristen« aus der Türkei zu unternehmen, hat Ministerpräsident Erdoğan erst kürzlich wieder aufgewärmt. So beklagte er gegenüber dem Privatsender NTV, Frankreich und Deutschland würden Ankara in seinem Kampf gegen die PKK behindern: »Im Gegenteil, sie lassen die Terroristenführer in ihren Ländern frei herumlaufen.«

… »Sozialisten« Frankreichs kuschen

Frankreich hat dieses Signal gehört: Am 6. Oktober wurden durch Kräfte der Anti-Terror-Behörde in Paris der – nach eigenen Angaben – mutmaßliche Europaverantwortliche der PKK, Adem Uzun, sowie eine weitere Person festgenommen. Einen Tag später erfolgten in den nordwestlichen Gemeinden Evron und Saint-Ouen-l’Aumone zwei weitere Festnahmen. Angeblich sollen die Kurden versucht haben, Waffen zu beschaffen.

In ihrer Pressemitteilung vom 12. Oktober stellte die Föderation Kurdischer Vereine in Deutschland, YEK-KOM, fest, dass es sich bei Adem Uzun um das geschäftsführende Vorstandsmitglied des Kurdischen Nationalkongresses (KNK) handelt: »Wir verurteilen diese Verhaftung aufs Schärfste und fühlen uns als Kurdinnen und Kurden in der Diaspora als direkt Betroffene.« Wie YEK-KOM weiter ausführte, sei Adem Uzun als »Delegierter des KNK für diplomatische Arbeiten« vorzeitig nach Paris angereist, um sich an der Vorbereitung einer »Westkurdistan (Nordsyrien)-Konferenz« am 13. Oktober zu beteiligen. »Wir sehen die Verhaftung von Herrn Uzun als weiteren Schlag gegen die Friedensbemühungen des kurdischen Volkes und als direkte Unterstützung des türkischen Staatsterrors gegen die kurdische Bevölkerung.«

Nach Angaben der kurdischen Nachrichtenagentur ANF seien in Frankreich seit 2007 rund 200 kurdische Aktivisten festgenommen und inhaftiert worden sowie im Jahre 2011 das Ahmet-Kaya-Kulturhaus in Paris geschlossen worden. YEK-KOM fordert die sofortige Freilassung von Adem Uzun und der anderen Festgenommenen.

Die KCK erinnerte in einem Statement vom 11. Oktober an die unrühmliche Rolle, die Frankreich 1923 bei der Vierteilung Kurdistans gespielt hat, und forderte die französischen Behörden auf, ihre antagonistische Haltung aufzugeben; anderenfalls müssten sie mit entsprechenden Reaktionen der kurdischen Widerstandsbewegung rechnen.

Französisch-türkisches Repressionsgeschäft

Ende September schon war bekannt geworden, dass die französische Regierung unter dem »Sozialisten« François Hollande ein gemeinsames Abkommen mit der Türkei über eine engere Zusammenarbeit geplant hatte, das am Tag der Festnahmen unterzeichnet worden sei – quasi als Zeichen der Ernsthaftigkeit Frankreichs. Wie dem Newsletter der Mesopotamischen Gesellschaft (Mesop) vom 9. Oktober ferner zu entnehmen war, sei im Rahmen dieser Kooperation auch über die künftige Auslieferung von inhaftierten PKK-Mitgliedern verhandelt und eine Vereinbarung geschlossen worden. Die Zeitung »Zaman« meldete, es sei hierbei u. a. um die kurdischen Aktivisten Nedim Seven und Canan Kurtyılmaz gegangen.

Gleichzeitig wird – wie »Die Welt« vom 9. Oktober berichtet – im jüngsten EU-Jahresbericht zur Türkei festgestellt, dass es dort hinsichtlich der Grundrechte keine Fortschritte gegeben habe. Danach missbrauchten die Gerichte die Gesetze zur Meinungs- und Pressefreiheit, »besonders jene in Bezug auf Terrorismus und organisierte Kriminalität«. Im Polizei- und Armeeapparat herrsche nach wie vor ein Klima der Straflosigkeit. So seien bislang die Hintergründe eines Anfang des Jahres entdeckten Massengrabes im kurdischen Gebiet der Türkei nicht angemessen untersucht worden. Kritisiert wird der türkische Justizapparat; hier gebe es im Hinblick auf Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und Effizienz erheblichen Nachholbedarf. Ein »signifikanter Rückstau« müsse auch bei Untersuchungen vor Gericht im Zusammenhang mit Vorwürfen exzessiver Polizeigewalt und verfahrensrechtlicher Fehler festgestellt werden. Im Rahmen der EU-Beitrittsverhandlungen, die im Oktober 2005 begannen, soll die Türkei 35 Kapitel »abarbeiten«.

Deutschland immer dabei

Premierminister Erdoğan hat sich Anfang November letzten Jahres zu bilateralen Gesprächen in Berlin aufgehalten und auch dort seine Litanei heruntergebetet vom kurdischen Terrorismus, der in Deutschland toleriert werde (»Zaman« v. 8.10.2012). Die Auseinandersetzungen rund um das Verbot einer von YEK-KOM geplanten Demonstration, mit der auf das PKK-Betätigungsverbot aufmerksam gemacht und dessen Aufhebung gefordert werden sollte, sind den Leserinnen und Lesern dieser Zeitschrift bekannt.

Im Oktober 2011 ist der kurdische Aktivist Ali Ihsan Kitay in Hamburg festgenommen worden und muss sich seit August dieses Jahres vor dem Oberlandesgericht der Hansestadt verantworten. Die Anklage wirft ihm »Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland« (§ 129b in Verbindung mit § 129a StGB) vor. Er soll von Mai 2007 bis Mitte September 2008 in leitender Funktion innerhalb verschiedener PKK-Strukturen in Deutschland tätig gewesen sein; konkrete Straftaten werden ihm nicht vorgeworfen. Seine Verteidigerin, Cornelia Ganten-Lange, erklärte hierzu u. a.: »Das Vorgehen im Zusammenhang mit dem § 129b ist verfassungsrechtlich bedenklich. Die Gewaltenteilung wird aufgehoben. Es wird dem Justizministerium – also der Exekutive – überlassen zu entscheiden, ob eine ausländische Vereinigung terroristisch ist oder ob sie legitimen Widerstand gegen eine Diktatur leistet oder als legitime Befreiungsbewegung gelten darf. Diese Entscheidung ist dann von geostrategischen Interessenlagen abhängig.«

Ali Ihsan Kitay, der die deutsche Sprache nicht beherrscht, sitzt in Isolationshaft. Gespräche mit Besucher_innen werden gefilmt und finden nur hinter einer Trennscheibe in Anwesenheit von LKA-Beamten statt. Zudem wird Verteidiger- und sonstige Post überwacht. Lange Zeit hat ihm die Gefängnisleitung trotz Genehmigung durch den Haftrichter türkischsprachige Bücher vorenthalten sowie Deutsch- und Englischkurse untersagt.

Immer gleiche Inszenierungen

Wie in Dutzenden ähnlicher Verfahren in der Vergangenheit, die nach § 129/a StGB geführt wurden, beruht auch diese Anklage auf einer Unmenge abgehörter Telefongespräche, bei denen selbst eine Verabredung zum Kaffeetrinken von der Anklage als konspirativ und terrorverdächtig gedeutet wird. Profane Unterhaltungen werden nach Gusto interpretiert und willkürlich in einen bestimmten Kontext zusammengebastelt. »Wenn man so viel Energie, Zeit und staatliche Mittel aufwenden würde für die Konfliktlösung und die Entwicklung von Frieden in Kurdistan, gäbe es längst keinen Krieg mehr«, hatte eine Prozessbeobachterin erklärt. Während die Telefonate der Öffentlichkeit in epischer Breite vorgelesen werden, bleiben Stellungnahmen kurdischer Persönlichkeiten, Organisationen oder Parteien im Verborgenen. Hier gilt, dass die Texte von den Verfahrensbeteiligten in aller Stille selbst gelesen werden.

Laut hingegen wird es wieder, wenn teils Jahre zurückliegende Urteile vorgelesen werden. Sie haben zumeist mit dem aktuellen Prozess oder gar der angeklagten Person nichts zu tun, sondern sind obligatorischer Bestandteil jeder dieser Gerichtsinszenierungen. Diese Methode verhindert jegliche Auseinandersetzung mit politischen, strategischen und strukturellen Entwicklungen, die zu teilweise völlig neuen Einschätzungen führen müssten.

Während laut Prozessbericht des Unterstützer_innenkreises für Ali Ihsan Kitay die Richter_innen beim Verlesen der TÜK »immer wieder ins Lachen verfallen«, habe ich in so manchen Verfahren vor dem OLG Düsseldorf die Erfahrung gemacht, dass in Roben gehüllte Beamt_innen in sanften Schlaf verfallen oder sich Bundesanwält_innen völlig desinteressiert mit anderem beschäftigen, wenn Angeklagte ihre Erklärungen zum Prozess vortragen.

Schon im Oktober 2006 hat AZADÎ in einer Pressemitteilung zur Verurteilung eines kurdischen Aktivisten geschrieben: »Seit Jahren laufen die Verfahren gegen kurdische Politiker wie Theateraufführungen des immer gleichen Trauerspiels mit denselben Regisseuren und dem allen hinlänglich bekannten Finale. An einer Änderung des Spielplans sind die Intendanten nicht interessiert. Man hat sich eingerichtet in diesem Theater. Die Rollen bleiben fest verteilt, die Gehälter krisensicher und die staatliche Unterstützung ist auf lange Zeit gesichert.«

Von besonderer »Dramatik« sind die Auftritte der sogenannten PKK-Experten des Bundeskriminalamtes. Ein solcher machte am 19. September seine Zeugenaussagen, wobei er durch völlige Unwissenheit über die politische Entwicklung der PKK, der Situation in der Türkei oder im Mittleren Osten aufgefallen war und dies von der Verteidigung kritisiert wurde. Dies sei umso schwerwiegender, als dessen Einschätzung zur PKK und der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) wesentlicher Bestandteil der Anklage sei. Eingeräumt hatte der Beamte, dass er bei seiner Beurteilung auf Informationen eines Kollegen aus dem Zeitraum vor 2006 zurückgegriffen habe. Ihm sei im übrigen die Situation in der Türkei und die Umsetzung politischer Konzepte der PKK bzw. der KCK als nicht wichtig erschienen. Sein Schwerpunkt sei das Ermitteln von Straftaten gewesen, völkerrechtliche Aspekte und politische Hintergründe hätten in diesem Zusammenhang keine Rolle gespielt. Was er aber wisse sei, dass es sich bei der PKK um eine terroristische Organisation handele, die in allen Teilen Kurdistans einen Alleinvertretungsanspruch vertrete und mit der KCK gleichzusetzen sei.

Die Formel PKK = Kadek = Kongra-Gel = KCK = PKK ist allen Angehörigen von Polizei, Geheimdiensten und Justiz eingebrannt. So äußerte die Richterin in einem Verfahren wegen Verstoßes gegen das Vereinsgesetz vor dem Landgericht Berlin gegen einen nichtkurdischen Aktivisten, dass ihr das PKK-Verbot »in Fleisch und Blut übergegangen« sei und ein LKA-Beamter meinte sinngemäß, dass für ihn jede kurdische Demonstration vom Hermannplatz in Berlin zum Kottbusser Tor eine einzige Straftat sei und ihm die Kundgebungsreden nur Kopfschmerzen bereiten würden (junge Welt v. 29.8.2012).

Beendet das Schweigen und fördert den Frieden!

Ali Ihsan Kitay hat zum Prozessauftakt eine Erklärung abgegeben, in der er einen Bogen schlägt von den historischen Hintergründen des türkisch-kurdischen Konflikts, über seinen Lebensweg und seine Entscheidung, sich der PKK anzuschließen, zu deren Politik und ihren Wandlungen bis hin zu seiner fast zwanzigjährigen Haftzeit mit vielfach durchlittenen Folterungen. Er schildert die Gründe seiner Flucht aus der Türkei nach Deutschland und sieht sich nun auch hier konfrontiert mit Kriminalisierung, Gefängnis und Sonderhaftbedingungen. »Man hat an mir in der Türkei Foltermethoden angewandt, die unvorstellbar sind. Die Auswirkungen dieser Folter dauern immer noch an. Während ich versucht habe, mich davon zu befreien, erlebe ich aufgrund der hier angewandten Isolationspolitik ernsthafte Zerstörungen, die meine Persönlichkeit sehr beeinflussen. Das wird nicht wieder gut zu machende Folgen haben.« Der 47-Jährige resümiert, dass durch die vom türkischen Staat angewandten Gewaltmethoden die »Kurdenfrage niemals gelöst« werden könne, sie seien »im Endeffekt eine große Katastrophe für beide Seiten« und bedeuten »Unlösbarkeit und Chaos«. Er ruft die »internationalen Institutionen und Persönlichkeiten« dazu auf, »gegenüber den in der Türkei herrschenden unmenschlichen Vorgehensweisen nicht weiter zu schweigen«.

Sie sollen sich »so schnell wie möglich dafür einsetzen, dass dieser sinnlose Krieg aufhört und sich eine Phase des Friedens entwickelt«.

Fenster ohne Aussicht

Er äußert sich auch zu den Haftbedingungen in der U-Haftanstalt Holstenglacis. »Ich befand mich in der U-Haft in Block B2, in dem Sondersicherheit und Aufsicht strenger waren. Die Abteilung, in der ich mich zuvor befand, unterscheidet sich von den restlichen Abteilungen. Hier befinden sich die Häftlinge, deren Lage als ›bedenklich und schwerwiegend‹ eingestuft wird. (…) Hier gibt es keine Möglichkeit, mit irgendjemandem zu sprechen. Seit ich hier bin, werde ich allein festgehalten, 23 Stunden des Tages verbringe ich in der Zelle. Nur eine Stunde täglich werde ich zum Hofgang gebracht. Die ersten vier Monate haben sogar die Aufseher in der Kantine für mich eingekauft und es mir gebracht. Zum Hofgang wurde ich allein gebracht. Ich kann keine sportlichen Aktivitäten wahrnehmen. Ich darf meine Familie nur eine Stunde im Monat an einem geschlossenen Ort unter Polizeiaufsicht treffen. Die Zelle, in der ich mich befand, unterschied sich von anderen. Das Fenster der Zelle wurde mit einem kleinen gelöcherten Blech zugemacht. Dadurch kannst du nicht gut sehen. Deswegen habe ich jetzt Sehbeschwerden und -störungen. Die meisten Häftlinge sind aufgrund der Praxis der Dammtor-U-Haft derart beeinflusst, dass sie an Depressionen leiden.«

Auch Ridvan Ö. und Mehmet A. nach § 129b angeklagt

»Ich gehöre einer Generation an, die im Schatten des Krieges groß geworden ist; ich musste als Kind erwachsen sein und als Erwachsener sehne ich mich nach meiner Kindheit zurück. Bereits heute habe ich eine gebrochene Lebensgeschichte. Zwischen drei Sprachen fühle ich mich wie drei halbe Menschen und habe Schwierigkeiten, mich klar auszudrücken. Die Einschnitte, die ich in den jungen Jahren meiner Entwicklung erlitten habe, haben mich so geprägt, dass ich immer glaube, ein unvollständiger Mensch zu sein und zu bleiben.« Diese Worte sprach der 30-jährige Ridvan Ö. anlässlich der Eröffnung seines Hauptverfahrens am 13. September vor dem OLG Stuttgart.

Ihm sowie dem gleichaltrigen Mitangeklagten Mehmet A. wird ebenfalls Mitgliedschaft in einer terroristischen ausländischen Vereinigung (§ 129b i. V. m. § 129a StGB) vorgeworfen. Sie sollen Spendengelder gesammelt, öffentlichkeitswirksame Demonstrationen organisiert, Schulungsveranstaltungen durchgeführt, Reisen von Kadern koordiniert und Nachwuchs für die Guerilla rekrutiert haben. Beschuldigungen, wonach sie als mutmaßliche Mitglieder einer Vereinigung im Ausland dort möglicherweise Straftaten begangen hätten, gibt es nicht. Im Sinne des § 129b ist dies auch nicht erforderlich, wird doch jedes tatsächliche oder mutmaßliche Mitglied einer als terroristisch eingestuften Organisation automatisch für deren gesamten Aktivitäten mitverantwortlich gemacht.

Zur Sache selbst haben sich beide Angeklagten bislang nicht geäußert.

Die Verfolgungsermächtigung nach § 129b gegen Ridvan Ö. erteilte das BMJ am 1. April 2011; diese gegen Mehmet A. am 12. Mai 2011. Beide wurden im Juli 2011 festgenommen, der eine auf dem Düsseldorfer Flughafen, der andere in Freiburg; sie befinden sich in der JVA Stuttgart-Stammheim.

Verteidigung beantragt Aussetzung des Verfahrens und Klärung der Verfassungsmäßigkeit des § 129b

Die Verteidigung beantragte am zweiten Verhandlungstag zum einen die Aussetzung des Verfahrens bezüglich des Tatvorwurfs § 129b und forderte zum zweiten, die Akten dem Bundesverfassungsgericht zur grundsätzlichen Entscheidung darüber vorzulegen, ob die Norm dieses Paragrafen verfassungswidrig ist.

Politisierung der Justiz

Insbesondere kritisiert sie es als »unerträglich« und unzulässig, dass die §§ 129 und 129a, die sich auf inländische Vereinigungen beziehen, pauschal und unverändert auf »Vereinigungen irgendwo und überall im außereuropäischen Ausland« (§ 129b) übertragen würden. Bei den Ermächtigungen des Bundesjustizministeriums (BMJ) zur diesbezüglichen Strafverfolgung handele es sich darüber hinaus um »ausschließlich politisch zu treffende Entscheidungen«, die wesentlich von der »aktuellen politischen Ausrichtung des BMJ und seiner Stellung zu der in Frage stehenden Vereinigung« abhänge. Die Behörde könne »völlig frei« entscheiden, ob sie eine Ermächtigung erteilt, zurücknimmt oder später erteilt, ohne dies begründen zu müssen. Entscheidungen seien weder anfechtbar noch rechtlich bzw. richterlich überprüfbar, was eine »Politisierung der Justiz« zur Folge habe mit »Merkmalen der Willkürlichkeit« – ähnlich der Indizierung von Personen und »terroristischen« Organisationen auf den UN- und EU-Terrorlisten.

Dies müsse als »umso gravierender« bezeichnet werden, als die den Entscheidungen zugrunde liegenden politischen Motivationen »massive Grundrechtseingriffe und Freiheitseinschränkungen« von Betroffenen mit sich brächten – »bis hin zu einer Freiheitsentziehung von zehn Jahren«.

Terroristische Vereinigung und Befreiungsbewegung nicht gleich

Der § 129b enthalte außerdem eine »sachlich nicht gerechtfertigte Gleichbehandlung von terroristischen Vereinigungen mit Befreiungsbewegungen«. Es werde nicht danach unterschieden, ob eine Organisation eklatant gegen «objektive Menschenrechtsstandards« verstoße oder ob ihre Handlungen auf die Verteidigung gegen ein repressives System gerichtet sei und sie die Herstellung menschenwürdiger Verhältnisse anstrebe: »Befreiungsbewegungen kämpfen gegen solche Staaten, die die Grund- und Menschenrechte nicht achten.« Mit dem bewaffneten Widerstand verfolgten sie Ziele, die »völker- und menschenrechtlich anerkannt« seien. Schließlich bestünden »gravierende Unterschiede« zwischen Verteidigungshandlungen gegen Willkür und Unterdrückung durch eine Befreiungsbewegung und »Gräueltaten gegen die Zivilbevölkerung durch militante Gruppierungen«.

Die Verteidigung wies zudem auf die Brisanz hin, dass die Bundesregierung in jüngster Zeit »direkt oder indirekt unter Einschluss von Menschenrechtsverbrechen militärisch agierende Aufstandsbewegungen im arabischen Raum« unterstützt habe, bei denen nicht unbedingt erkennbar sei, dass sie sich für eine staatliche Ordnung einsetzen, die die Gewähr für Freiheits- und Menschenrechte böten. Anschauliche Beispiele hierfür seien Libyen und Syrien. So kämpften in Syrien mehrheitlich islamistisch geprägte Gruppen mit militärischen Mitteln und »unter vielfältiger Begehung von Menschenrechtsverbrechen« – mit direkter und indirekter Unterstützung westlicher Staaten inklusive der Bundesrepublik. Auch in Libyen sei mit massiver Unterstützung westlicher Staaten ein diktatorisches Regime durch islamistisch zusammengefasste Verbände militärisch bekämpft und gestürzt worden.

Und was ist mit Staatsterrorismus?

Ein weiterer wichtiger Aspekt sei ferner, dass der § 129b Abs. 1 gegen den Gleichheitsgrundsatz verstoße, indem die Kategorie staatlichen Terrorismus völlig fehle. Auch im Rahmenbeschluss des Rates zur Terrorismusbekämpfung seien die Aktivitäten von Streitkräften eines Staates in bewaffneten Konflikten nicht erfasst. Die Verteidigung ist der Auffassung, dass »Gewalttaten, die durch einen souveränen Staat verübt werden (sog. Staatsterrorismus), mit der Ausübung von Gewalt durch nichtstaatliche Vereinigungen vergleichbar« sei. Schließlich könnten Staaten auch Taten im Sinne des § 129a Abs. 2 begehen und gegen die »Grundwerte einer die Würde des Menschen achtenden staatlichen Ordnung oder gegen das friedliche Zusammenleben der Völker gerichtet sein« und als »verwerflich« eingestuft werden. (Wie anders sollte man die Lieferung von Tod bringendem deutschem Rüstungs- und Kriegsmaterial oder die Vergabe von Lizenzen zur Herstellung von Waffen an die Türkei werten? Azadî)

Der 6. Strafsenat (Staatsschutz) des OLG lehnte den ersten Antragspunkt (Aussetzung des Verfahrens) ab und stellte zum zweiten Punkt (Prüfung der Verfassungsmäßigkeit) eine Entscheidung zurück.

Und kein Ende

Neben den laufenden Verfahren gegen Ali Ihsan Kitay, Rid­van Ö. und Mehmet A. sind weitere § 129b-Verfahren zu erwarten: Sedat K., der aufgrund eines Festnahmeersuchens der Bundesanwaltschaft (BAW) am 25. Juli dieses Jahres von Frankreich an Deutschland überstellt wurde; Abdullah S., seit April 2012 in U-Haft. Metin A. befindet sich seit Frühsommer letzten Jahres auf Antrag der BAW in der Schweiz in Auslieferungshaft und Vezir T., der aus persönlichen Gründen haftverschont ist.

Noch einmal Ridvan Ö.

»Als Flüchtling ist man immer zur Hälfte zugleich Gefangener, denn die eigene Zukunft, sogar das tägliche Leben, sind in der Hand anderer. Dies kann wohl nur verstehen, wer es selbst erlebt hat. (…) In einem zusammenfassenden Rückblick ist mein Leben dadurch geprägt, dass ich in jungen Jahren gezwungen war, mein Haus und meine Heimat zu verlassen und 12 Jahre ohne Familie weit weg von dort, wo der Mittelpunkt meines Lebens ist, zu leben. Ich schaue zufrieden darauf zurück, dass ich trotz allem nicht in kriminelle, unethische oder unmoralische Machenschaften verstrickt worden bin.«

Dieses unwürdige, undemokratische und politisch motivierte Vorgehen gegen Kurdinnen und Kurden muss ein Ende haben. Deshalb sind alle Verfahren einzustellen und die Gefangenen frei zu lassen.

entnommen aus dem Kurdistan Report Nr.164

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