Nordkurdistan: Kein Ende der Repressionen in Sicht

Kadir Çakmak ist das jüngste Todesopfer der Polizeigewalt in Nordkurdistan

Civaka Azad – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V, 23.12.2014

Die Repressionsmaßnahmen des türkischen Staates nach den Solidaritätsdemonstrationen für Kobanê vom 6. bis 9. Oktober dauern auch in diesem Monat an. MenschenrechtsaktivistInnen ziehen bereits Vergleiche zu den im Jahr 2009 gestarteten KCK-Operationen , bei denen tausende kurdische AktivistInnen, JournalistInnnen und PolitikerInnen festgenommen wurden. Die HDP-Abgeordnete Sebahat Tuncel erklärte, die Türkei befinde sich in einem nicht-erklärten Ausnahmezustand, mit dem die Regierung die Opposition und die demokratischen Kräfte zerschlagen wolle. Dabei behilflich ist auch eine Änderung der türkischen Strafprozessordnung vom 12. Dezember, wonach künftig ein „ausreichender“ (vorher „dringender“) Verdacht genügt, um eine Festnahme vorzunehmen.

2176 Festnahmen und 456 Verhaftungen in 70 Tagen

Nach Angaben des Menschenrechtsverein IHD vom 11. November wurden im Zusammenhang mit Solidaritätsaktionen mit Kobane alleine in der Zeit von 1. Oktober bis 10. November 2014 2176 Personen festgenommen und 456 von ihnen verhaftet wurden, darunter auch HDP- und DBP-PolitikerInnen, JournalistInnen und viele Kinder und Jugendliche. Die Begründungen reichen von „Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation“, „Unterstützung einer terroristischen Organisation“, „Widerstand gegen Polizeibeamte“, bis zu „Beschädigung öffentlichen Eigentums“. Erwähnenswert ist, dass auch Flüchtlingen aus Kobane, die zum Teil vom Krankenhausbett verhaftet wurden, vorgeworfen wird, Mitglieder einer terroristischen Organisation zu sein. Gemeint sind die überparteilichen syrisch-kurdischen Volksverteidigungseinheiten YPG, die auf keiner einzigen Terrorliste stehen.

179 extralegale Hinrichtungen in 7 Jahren

Nach der Ermordung des 18-jährigen Demonstranten Rojhat Özdel durch Schüsse türkischer Sicherheitskräfte am 06.12.2014 in Gever (Yüksekova) wurde nun am 16.12.2014 ein weiterer Jugendlicher getötet. Der 16-jährige Kadir Çakmak (Bild oben links) war am Dienstagabend bei einer Protestkundgebung durch drei gezielte Schüsse von maskierten Polizeikräften in Amed (Diyarbakir) im Stadtteil Sur ermordet worden. Dem veröffentlichten Autopsie-Bericht ist klar zu entnehmen, dass Çakmak aus nächster Nähe in den Rücken geschossen wurde. Die Aufzeichnungen einer Sicherheitskamera am Ort der Ermordung wurden von der Polizei beschlagnahmt und sind nicht mehr aufzufinden.

Gegen die in den letzten Monaten zunehmenden Ermordungen von zivilen Aktivisten und den KCK-Operationen ähnelnden Polizeioperationen haben am 19.12., einem Aufruf der prokurdischen Parteien HDP (Demokratische Partei der Völker), DBP (Partei der Demokratischen Regionen) und des Demokratischen Gesellschaftskongresses (DTK) folgend, tausende Menschen in Amed (Diyarbakir) demonstriert. Die Baran-Tursun-Stiftung für Opfer von Polizeigewalt erklärte, dass in den vergangenen sieben Jahren (2007-2014) insgesamt 179 Menschen durch Polizeikugeln ermordet wurden.

“Mit dem Sicherheitspaket werden die Hinrichtungen zunehmen”

Die Protestwelle vom 6. bis 9. Oktober als Vorwand nehmend, diskutiert die türkische Regierung über ein neues Sicherheitspaket. Diese neuen Gesetze würden den türkischen Sicherheitsbehörden unter anderem erlauben, potentielle Straftäter vorläufig festzunehmen, wenn Annahmen bestehen, dass diese Personen rechtswidrige Handlungen begehen. Der türkische Menschenrechtsverein IHD warnte in einer Erklärung, dass mit einer Verabschiedung des neuen Sicherheitspakets die türkische Regierung vollständig autoritär werde. Ein Staat, der per Gesetz “präventive Festnahmen”, die Beschneidung von Demonstrations- und Meinungsfreiheit und den unverhältnismäßigen Einsatz von Waffengewalt durch die Polizei erlaube, werde allgemein als Polizeistaat definiert.

Die DBP-Politikerin aus Amed Hafize İpek erklärte, dass mit den Diskussionen über den “Gesetzesentwurf für die innere Sicherheit” die Hinrichtungen auf offener Straße zugenommen hätten. Sie warnte, dass mit einer Beschließung dieser Gesetze die extralegalen Hinrichtungen zunehmen werden.

200 “verdächtigte” Studenten in Amed im Fadenkreuz der Polizei

Im Rahmen dieser neuen “Sicherheitsvorkehrungen” hat die Polizei aus Amed in einer Liste etwa 200 Schüler/Studenten registriert, die zwischen dem 2. Oktober und 20. November 2014 an Aktionen wie Kundgebungen oder Demonstrationen teilgenommen haben. Die Schüler/Studenten werden in einer Warnmeldung der Polizei aus Amed an die Nationale Sicherheitsbehörde als der Kriminalität verdächtigte Personen eingestuft. Die Nationale Sicherheitsbehörde hat die Informationen über die einzelnen Schüler/Studenten an die jeweiligen Schulen geschickt, mit der Aufforderung die notwendigen Schritte einzuleiten.

228 schwerkranke Gefangene in der Türkei

Auch die Situation der kranken Gefangenen ist dramatisch. Den letzten Angaben zufolge befinden sich 578 in türkischen Gefängnissen, 228 von ihnen sind in einem lebensbedrohlichen Zustand. Den zumeist krebskranken Gefangenen wird auch in den Gefängnissen keine medizinische Behandlung erlaubt. So haben nach offiziellen Angaben des türkischen Justizministeriums im Jahr 2013 insgesamt 316 Menschen in den türkischen Gefängnissen ihr Leben verloren.

1984 Minderjährige in Haft, 113 gefoltert

Anlässlich des Weltkindertages am 20. November veröffentlichte der Menschenrechtsverein IHD erschütternde Zahlen zur Situation inhaftierte Kinder in der Türkei: 49 Kinder seien 2014 in der Haft, 64 in Polizeigewahrsam gefoltert worden. Dabei handle es sich laut IHD nur um die Fälle, die ihm gemeldet wurden, die Dunkelziffer liege aus Angst vor weiteren Repressionsmaßnahmen viel höher. 2014 seien bei Protestaktionen 360 Kinder festgenommen, 59 verhaftet und 42 zum Teil schwer verletzt worden.

“Kinder sind die größten Opfer von Menschenrechtsverletzungen”, heißt es im IHD-Bericht, der vor allem das Schweigen und die Untätigkeit des Justizministeriums angesichts physischer und sexueller Gewalt an inhaftierten Kindern kritisiert.