„Öcalan ergreift die Initiative im gegenwärtigen Prozess“

demirtas_1BDP-Co-Vorsitzender Selahattin Demirtas im Gespräch mit der Tageszeitung Yeni Özgür Politika, 19.04.2013

Selahattin Demirtas, Co-Vorsitzender der Partei für Frieden und Demokratie (BDP), befand sich in der vergangenen Woche für einige Gespräche und die Konferenz mit dem Titel „Die Lösung der kurdischen Frage im zukünftigen Syrien“ in Berlin. Im Rahmen seiner Reise beantwortete Demirtas die Fragen von Deniz Başpenir und Murat Alpavut für die Tageszeitung „Yeni Özgür Politika“ zum gegenwärtig viel diskutierten möglichen Friedensprozess in der kurdischen Frage. Im Folgenden wird das Interview in verkürzter Form wiedergegeben.

Es ist unverkennbar, dass mit dem neuen Prozess auf die politischen Akteure viel Arbeit wartet. Was gedenken Sie, deren wichtige Kaderkräfte der BDP mit den Operationen des politischen Massakers als Geiseln genommen wurden, zu tun und an welchem Punkt befindet sich die politische Arbeit?

Seit dem 14. April 2009 sind intensive Operationen des politischen Massakers durchgeführt worden. Bis heute sind annähernd 10.000 Menschen festgenommen worden. In den Gefängnissen sind aktuell keine 10.000 Menschen, denn aufgrund des Kreislaufes (von Festnahmen und Freilassungen) befinden sich zurzeit ca. 3.000 unserer Freunde dort. Es ist erforderlich, dass in den folgenden Monaten keine unserer GenossInnen mehr in Haft bleibt. Denn diese Freunde haben keinerlei Verbrechen begannen. Sie festzunehmen war unrechtmäßig. Aus diesem Grund wäre es sehr gut, wenn Staat bzw. Justiz so schnell wie möglich von diesem Unrecht abkommen. Ohnehin widmen sich unsere freigekommenen FreundInnen im ähnlichen Rahmen erneut ihren Aufgaben zu. Wir hatten jedoch durch ihre Festnahmen mit Schwierigkeiten zu kämpfen. In allen Bereichen gab es große Lücken und Mängel. Wir haben versucht, dies durch die Verstärkung der Kader aufzufangen, aber besonders die Jugendräte haben schwere Schläge einstecken müssen. Auch wurden nur wenige der Jugendratsmitglieder freigelassen. Sehr viele von ihnen sind noch immer in Haft. Festnahmen von jungen GenossInnen und von weiblichen Aktivistinnen fanden noch umfangreicher statt. In der nächsten Phase müssen nicht nur die freigelassenen GenossInnen, sondern auch junge Menschen und Frauen eingebunden werden, die diesen Prozess unterstützen. Also auch wenn alle Gefangenen frei sind und weiterarbeiten, ist der Bedarf an Kadern für den neuen Prozess nicht gedeckt. Denn in dieser Zeit wird der Bedarf an einer großen, qualifizierten Menge an Kadern, die die Organisierung in den Arbeitsfeldern demokratische Politik, Diplomatie, Lobbyarbeit und damit einhergehend demokratische Aktionen und Aktivitäten übernehmen, groß sein. Um dem zukünftigen Prozess leistungsstark gegenüberstehen zu können, werden wir die Bildungs- und Organisierungsarbeit mit dieser Perspektive durchführen.

Die BDP und ihre Kader lassen während dieses Prozesses das „Empfinden der Türken“ nicht außer Betracht, aber ist es möglich, dass dies mindestens bei der Informierung, bei Mitteilungen und Diskussionen auch über das „Empfinden der Kurden“ zu sagen?

Natürlich ist für die Transparenz des Prozesses und aus Sicht der Sicherheit eine klare Aufklärung des Volkes wichtig. Hierbei fällt auch den kurdischen Medien eine wichtige Rolle zu. Sie vertreten die Tradition der freien Presse, die alle Entwicklungen aus nächster Nähe zu betrachten, objektiv verfolgen und zu übermitteln versuchen. Aus diesem Grund erachten wir es als wichtig, die wahren Entwicklungen über die kurdischen Medien zu vermitteln. Will unser Volk sich richtig informieren, Manipulationen und Falschpropaganda nicht ausgesetzt sein, sollte sie nur den Nachrichten kurdischer Medien und nicht den spekulativen Nachrichten anderer Medien Gehör und Achtung schenken. Kurdische PolitikerInnen müssen zur Sicherstellung der Informierung des Volkes und der Transparenz des Prozesses noch enger mit den kurdischen Medien in Verbindung stehen können und noch intensiver in einen Dialog treten, damit dieser Prozess nicht im Dunkeln bleibt und nicht der Lenkung durch die AKP ausgesetzt wird.

Sie haben stets betont, dass Sie mehr als der AKP, dem kurdischen Volk, der organisierten Kraft und gemeinsam mit Öcalan sich selbst vertrauen. Denkt man an die Tradition des türkischen Staats und dieses in der AKP lebendig gebliebene Wesen, kann man da sagen, dass Sie eine breite, kontrollierte Strategie verfolgen? Gab es in dieser Hinsicht Etappen ihrerseits, die unzureichend waren oder verpasst wurden?

Nein. Es gibt den seit 6 Monaten begonnen Verhandlungsverlauf und jedes Stadium dieses Prozesses haben wir äußerst kontrolliert und souverän durchlaufen. Es sollte zunächst folgendes nicht vergessen werden: Dieser Prozess ist nicht auf Vorschlag und Drängen der AKP begonnen worden. Dieser Prozess hat vor 6 Monaten mit einem handschriftlichen Brief von Herrn Öcalan begonnen. Herr Öcalan hat ihn begonnen. Er selbst hat die Voraussetzungen und den Rahmen der Verhandlungen vorgegeben. Die türkischen AKP-Medien versuchen die Auffassung zu erwecken, die AKP habe den Lösungsprozess ins Rollen gebracht und wir unterstützen diesen, dies ist falsch. Der Prozess ist ein von Herrn Öcalan begonnener Prozess. Er ist seine Initiative gewesen. Und wir unterstützen den von Herrn Öcalan begonnenen Verhandlungsprozess. Als Herr Öcalan diesen Prozess in die Wege leitete, wusste er von dem von Ihnen erwähnten Charakter und den Besonderheiten der AKP, er macht dies wissend von der gesamten Geschichte des türkischen Staats und dessen DNA. Er ist sich bewusst darüber, was er tut. Wir sind versichert dadurch, dass dieser Ansatz stark ist und auf Initiative durch Herrn Öcalan geführt wird. Solange Herr Öcalan bei diesem Thema entschieden ist, werden wir hinter ihm und diesem Weg stehen. Denn das kurdische Volk hat einen sehr großen Preis dafür gezahlt, an diesen Punkt zu gelangen. Er ist der kurdische Repräsentant, er ist der Verhandlungspartner. Und dass diese Realität jetzt anerkannt ist, und es geschafft worden ist, ist der Stolz des kurdischen Volkes. Das kurdische Volk sieht die Dinge auf diese Weise. Daher schreiten wir, wie ich schon gesagt habe, nicht aus Vertrauen zur AKP, sondern zu Herrn Öcalan, voran.

Auch sie sind ein Teil des Kongresses für eine Demokratische Gesellschaft DTK. Wird sich die DTK zu einem flexibleren, allumfassenden Gefüge wandeln können und für die Westkurden ohne Widerspruch zum obersten Organ werden können?

Er wird sich wandeln müssen. Dies ist der eigentliche Auftrag des DTK. Aber auf Grund der vom Kampf aufgezwungenen Schwierigkeiten, konnte diese Mission nicht erfüllt werden. Ich nehme an, dass von nun an Anstrengungen vorgenommen werden, daraus ein flexibles Gefüge zu schaffen, das alle mit einbezieht und umfasst, um über einen ideologischen Rahmen hinaus für alle Kräfte in Kurdistan ein Kongress zu werden.

Sie haben in Deutschland Gespräche geführt. Was sind ihre Erwartungen? Wie steht der deutsche Staat diesem Prozess gegenüber?

Wir haben bei den Gesprächen mit den Verantwortlichen der deutschen Regierung und der Opposition diese ermahnt und ihnen unsere Erwartungen mit folgenden Worten mitgeteilt. „Ihr betrachtet die PKK offiziell immer noch als Terrororganisation. Ihr habt diese Entscheidung auf Wunsch der türkischen Regierung getroffen. Doch die türkische Regierung führt mit dieser Organisation, die ihr „Terrororganisation“ nennt, offizielle Gespräche. Sie führt Verhandlungen. Wenn die Türkei Verhandlungen führt, dann müsst auch ihr folglich diese Entscheidung neu überdenken. Wenn ihr den unbewaffneten, demokratischen Kampf der PKK unterstützen wollt, wenn ihr den Weg dafür freimachen wollt, dann müsst ihr auch das Existenzrecht und das Recht auf Ausübung der demokratischen Politik der kurdischen Einrichtungen anerkennen. Dies wird eure Ansicht auf diesen Prozess definieren.“ Die Bevollmächtigten des deutschen Außenministeriums haben erklärt, dass sie hinter diesem Prozess stehen und anstandslos unterstützen, dass sie eine Lösung möchten und für Stabilität in dieser Region sind. So wurde es bei den Gesprächen mit offiziellen Stellen übermittelt …

Die Vorbereitungen zum Rückzug sind fast abgeschlossen. Es sind zwei Kommissionen zusammengestellt worden, aber reichen diese Kommissionen in der Zeit des Rückzugs aus?

Die Kommission, die wegen des Rückzugs gegründet wurde, ist sehr wichtig, aber alleine nicht ausreichend. Auch die Kommission des Parlaments und die Kommission der Weisen muss den gesamten Prozess beobachten, beaufsichtigen, Provokationen verhindern und bei Bedarf vermitteln können, wenn er ins Stocken gerät und er muss Lösungsvorschläge vorlegen können. Bei beiden Kommissionen sind diese Fähigkeit nicht erkennbar. Darum werden wir als BDP und DTK zusammen mit den NGOs im Fall des Beginns vom Rückzug zivile Komitees bilden. Überall. Wir werden zivile Komitees bilden, die z.B. den Prozess beobachten, den Rückzug beaufsichtigen, aber die Rückkehr von Dorfschützern, paramilitärischen Kräften in die Rückzugsgebiete verhindern und die Provokationen durch Banden verhindern und die Rückkehr der Willigen erleichtern. Diese zivilen Komitees werden überall in Kurdistan, auch in den ländlichen Gebieten, ihre Tätigkeiten durchführen.

Sie haben den kurdischen Repräsentanten Öcalan zwei Mal getroffen. Wie war seine Stimmung?

Jedes Mal wenn wir dorthin gehen, sehe ich seine starke Einstellung und Aufregung. Ich rede hier nicht von einer durchschnittlichen Einstellung und Aufregung. Er ist wirklich weitaus weiter, als man sich einen Menschen auf einer Insel erwarten kann. Diese Situation macht einen glücklich und traurig zugleich. Er selbst hat alle dortigen Bedingungen längst überwunden. Meiner Meinung nach ist er der einzige auf Imrali, der frei ist. Alle weiteren Beschäftigten sind Geiseln auf Imrali. Er steht da wirklich so, als sei er der wahre Besitzer vom Imrali.

Quelle: YÖP, 19.04.2013, ISKU

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