Öcalan: Manchmal sind Utopien die einzig rettende Inspiration

Ein persönliches Fazit von Abdullah Öcalan, 26.08.2018

Man kann mein persönliches und politisches Leben in drei Abschnitte einteilen. Der erste Abschnitt begann mit meiner Mutter und damit, dass ich mir den Anspruch stellte, meinen Platz in der Gesellschaft selbst zu definieren, mit den ersten ablehnenden Reaktionen auf Familie und Dorf und dann mit meiner Einschulung in die Grundschule. Die Grundschule war der erste Schritt hin zu einem Interesse am Staat. Meine Persönlichkeit machte einen Schritt weg von der kommunalen Gesellschaft und hin zu etatistischen Gesellschaft.

Damit ging eine Urbanisierung einher. Die Werte der Stadt galten ge­genüber den ländlich-kommunalen Werten als überlegen. Mittelschule, Gymnasium, Beamtenzeit und Studium an der Universität bis zum letzten Studienjahr waren Vorbereitungsschritte für eine Karriere beim Staat. In diesem Alter ist bei jedem die Mentalität der Stadt und des Staates klar beherrschend. Die Situation, einer unterdrückten Nation anzugehören und in Unterentwicklung gehalten zu werden, verwandelt sich in Ablehnung des Staates. Sympathisantentum für die Linke bedeutet eigentlich nichts anderes als die Suche nach einem Staat, der mehr für Gerechtigkeit, Gleich­heit und Entwicklung sorgt. Meine Persönlichkeitsentwicklung wurde in diesem Abschnitt von ihrer Verbindung zur traditionellen Gesellschaft größ­tenteils abgeschnitten. Die mütterliche kommunale, ländliche und familiäre Gesellschaft wurde größtenteils verleugnet. Stattdessen hatte sich eine mar­ginale Persönlichkeit gebildet, die ihre eigene Vergangenheit verleugnete, geringschätzte, die Größe des Staates und der Stadt anbetete und blind auf die offizielle Ordnung zulief. Das Selbstbewusstsein wurde auf ziemlich tragische Weise massakriert.

In allen unterentwickelten Ländern bricht diese neue Person – in einem Rausch, dass „etwas aus ihr geworden ist“ – wie eine Katastrophe über uns herein. Sie verachtet die alte Gesellschaft: Eltern, Geschwister, Nachbarn, das Dorf, Verwandte, die Kinder, die Frauen, ebenso die eigene Abstammung und Klasse. Es kommt durch einen Modernismus ohne Inhalt zu einer tiefen Entfremdung des Menschen von seinen grundlegenden gesellschaftlichen Werten. Diese Persönlichkeit bleibt gegenüber der erdrückenden Übermacht des kapitalistischen Systems selbst dann marginal, wenn sie die Verhältnisse oberflächlich ablehnt sich der Linken zuwendet. Dadurch vertieft sich die Loslösung von der Gesellschaft lediglich weiter. Die Schulen, die Arbeit in der Stadt und meine Zeit als Katasterbeamter haben diese Menschen von Geschichte und Tradition losgelöst und zu einer „blechernen“ Persönlichkeit gemacht. Alles, was von dieser Persönlichkeit herrührt, die ihre Sensibilität verloren hat, verleugnet, sich in eine Lohnabhängigkeit begeben hat und der Hurerei der Stadt verfallen ist, wird zwangsläufig vor dem Kapitalismus und den Werten der Gesellschaft, die ihm entgegenstehen, kapitulieren. Es gibt einen engen Zusammenhang zwischen dieser Persönlichkeitsbild und der Tatsache, dass weder durch den Realsozialismus, noch durch die Sozi­aldemokratie oder die nationale Befreiung eine wirkliche gesellschaftliche Wende vollzogen wurde. Alle möglichen perversen, faschistisch-totalitären Ideologien und Praktiken finden ihre soziale Basis in der Herausbildung dieses Typus. Dieser Menschentypus, der mit der Französischen Revolution einen Sprung vorwärts machte, verlor in den neunziger Jahren seine alte Attraktivität und trat schließlich wieder in einen Prozess der Normalisierung ein.

Der zweite Abschnitt begann mit dem Versuch, sich nun von der bürgerli­chen Gesellschaft und vom Staat zu lösen und eine unabhängige ideologische Gruppe aufzubauen, die das Ziel hatte, ein eigenes modernes, gesellschaftli­ches und politisches System aufzubauen. Während die erste Sozialisation durch religiöse Gebete mit den anderen Kindern und dem gemeinsamen Gehen zur Grundschule begann, erfolgte die zweite Sozialisation mit den Studenten auf einer linken und nationalen ideologischen Grundlage. Zwar gab es Bemühungen, gegen die Werte, die der Kapitalismus verbreitet, und den Chauvinismus der herrschenden Nation die eigene Gesellschaft von neuem zu suchen. Doch erreichten Bemühungen keineswegs ihr Ziel, da die vorhandenen linken und nationalen Strömungen nicht die Kraft hatten, die Normen des kapitalistischen Lebens zu überwinden. In diesem Abschnitt, den wir auch als erste Stufe der PKK-Werdung bezeichnen können, wurde ich in der stürmischen Welt der siebziger Jahre eigentlich wie ein Blatt im Wind hin-und her geweht. Ich hatte mich von der traditionellen Welt gelöst und mich auch nicht mit den Werten des Kapitalismus vereinigt. Es war ein typischer Prozess der Sektenbildung und Marginalisierung. Es gab unzählige Gruppen, die in ähnlicher Weise gegründet wurden und schnell wieder verschwanden. Es begann ein Kampf gegen den Staat, der dem Kampf einer Ameise gegen einen Elefanten glich. Unsere Theorie und unsere Praxis waren eigentlich ein Versuch, unsere Gesellschaft und unser Land von neuem zu entdecken. Eigentlich folgten wir einer linken Mode, wie es sie überall auf der Welt gab.

Wir hatten eine eigene, für uns spezifische Idee. Mit ihr säten wir sozusa­gen etwas Neues in der alten Gesellschaft und hofften, dass es aufblühen werde. Die Gruppe entwickelte sich, wurde größer. Wir fingen an, uns für etwas Besonderes zu halten. Die Wahrscheinlichkeit war groß, dass die Saat aufgehen würde. Als ich das Land verließ wie eine Raupe, die aus ihrem Kokon schlüpft, hatte eine Phase des Selbstvertrauens und des jugendlichen Draufgängertums begonnen. Es bestand Hoffnung, dass die Utopie Wirk­lichkeit wird. Als die Unterstützung der Bevölkerung für unsere Gruppe sich zu einer Massenbewegung entwickelte, wurde dieses Selbstvertrauen noch weiter gestärkt. Wir hatten die Kraft der Waffen kennen gelernt. Der Gipfel war erreicht, als eine ausgebildete und bewaffnete Guerillagruppe der zeitgenössischen Nationalbewegung ins Land aufbrach. Nun war die Zeit für einen neuen historischen Aufbruch gekommen.

Diesen ersten Teil eines Abschnitts meines Lebens, der die Jahre 1972-1984 umfasst, kann man unter verschiedenen Gesichtspunkten bewerten. Man könnte auch sagen, dass das mittellose kurdische Volk aufwachte und in der Gegenwart ankam. Es ließe sich auch als erster Aufstand, als der erste Schuss, abgefeuert gegen das blinde Schicksal bezeichnen, oder es als den Aufschrei der Ehre und der Würde interpretieren. Außerdem mögliche Interpretationen: erste erfolgreiche Aktion von David gegen Goliath; die ersten Schritte, Mut zur Meinungsfreiheit zu haben. Vielleicht ist es auch der Bruch mit den seit Jahrtausenden verwurzelten Normen der Sklaverei. Alles in allem war es eine sinnvolle Zeit, geradezu eine zweite Geburt, mit der Erarbeitung eines neuen Paradigmas, für deren Erfolg etwas Glück, etwas Arbeit und etwas Überzeugung nötig waren.

Der zweite Teil des zweiten Abschnitts meines Lebens umfasst die Jahre vom 15. August 1984 bis zum 15. Februar 1999. Dieser fünfzehnjährige Zeitraum war eine überaus intensive Phase, die unter dem Zeichen des bewaffneten Kampf als zweitem Vorstoß der PKK stand. In der mittelöst­lichen Geschichte könnte man Vergleiche mit den Gruppen von Babak, den Charidschiten, den Qaramitah oder der von Hassan Sabah anstellen. Während im ersten Abschnitt eher ein jesusartiges Predigen überwog, erin­nert der zweite Abschnitt mit Exodus und bewaffneter Rückkehr eher an eine Mischung aus Moses und Mohammed. Die Aufgabe, eine Gruppe von Exilierten, die kaum etwas zustande bringt, „ins Gelobte Land zu führen“, erfordert große Anstrengungen und Fähigkeiten. Während die Wanderung die Assoziation an Moses hervorruft, erinnern die kriegerischen Aktionen an diejenigen Mohammeds in Medina. Es herrschte eine ähnliche spirituelle Atmosphäre von Glauben und Überzeugung. Die Art, sich der eigenen Überzeugung zu widmen, war ganz die von Gläubigen. Wir praktizierten den wissenschaftlichen Sozialismus wie eine Religion. Der Krieg galt ganz als heilige Handlung. Der Mensch, das Individuum wurden langsam zu nichts, das Ziel zu allem. Es war sehr schwer, zu bemerken, dass ich von einer historisch typischen Krankheit der Macht befallen worden war. Die schwache Persönlichkeit vom Lande, die jahrelang dem Bombardement des staatlichen und städtischen Milieus ausgesetzt war, kennt kaum andere Fähigkeiten, als sich an die Macht zu klammern, oder schafft es irgendwie nicht, mehr als eindimensional zu sein. Eine im Kapitalismus fürchterlich vereinsamte Person kann, wenn sie sich eine Systematik zulegt, im Gegen­teil eine großartige Gesellschaftlichkeit erfahren. Das am meisten typische Kennzeichen: alles opfern, im Glauben, dass die Aktion das Allerheiligste ist.

Man hätte sagen müssen: Das Leben ist der heiligste Wert. Stattdessen kam eine geradezu fanatische Persönlichkeit zum Vorschein, die im Ge­genteil glaubte, das Ziel sei alles, das Leben nichts. Diesen Dogmatismus können wir auch als Schicksalsglauben, die Verbundenheit mit einigen Prin­zipien, als eine Art Religionsbildung definieren. Das Paradigma, das wir uns auf diese Weise zulegten, war rein und abstrakt.

Die analytische Intelligenz glänzte. Die emotionale Intelligenz wurde unterdrückt. Sterben und Töten wurden auf ein rein technisches Problem reduziert. Eine genaue Analyse zeigt, dass wir letztlich als ideologische Satelliten des Kapitalismus, unter dem Einfluss seines profitorientierten Arbeitsethos, handelten. Wir harmonierten mit dem allgemeinen Charakter der Zeit. Es geschah in der Form einer eigenen Richtung. Aber letztlich schwammen wir in der Welt des Kapitalismus. Wir eigneten uns unsere Bildung auf der abstraktesten Ebene der kapitalistischen Strömung mit realsozialistischen und nationalen Verallgemeinerungen an und jagten wie verrückt ihren politischen und militärischen Gebilden nach. Dies schien uns der einzige Weg, um zur Gegenwart aufzuschließen.

Natürlich fand eine derartige Jagd nicht im luftleeren Raum statt. Das System hat seine Herren. Sie haben ihre eigenen Regeln und handelten entsprechend den Erfordernissen der herrschenden Welten. Den 15. Februar 1999 kann man auch als den Tag interpretieren, an dem mich die Mächte der kapitalistischen Welt wie der Todesengel Azrael mit tausendundeiner List an der Gurgel packte.

Ich muss einige meiner strategischen Fehler in dieser Zeit erwähnen. Ich hätte 1982 Kader ausbilden müssen, die wirklich in der Lage gewesen wären, eine bewaffnete Gruppe anzuführen, und sie erst dann ins Land schicken sollen. Es wäre vielleicht besser gewesen und hätte zu einem breiteren Vor­stoß geführt, wenn die Gruppe um Kemal Pir nicht 1980, sondern 1982 zusammen mit einer größeren Gruppe über Süd-und Ostkurdistan ins Land geschickt worden wäre. Dass in diesem Gebiet vor allem Duran Kalkan, Ali Haydar Kaytan und Mehmet Karasungur beauftragt waren, erwies sich als strategischer Fehler. Der Grund dafür war, dass wir den Prozess, der im Mitt­leren Osten stattfand, nur kopierten, und das auch noch schlecht. Der KDP nachzulaufen, sich von der Bevölkerung zu entfremden, sich den Freunden nicht als würdig zu erweisen, sich mit nebensächlichen Tätigkeiten abzuge­ben, schon abgeschlossene Arbeiten zu wiederholen, sich unnötigerweise in Konflikte zwischen PUK und KDP einzumischen, das vor ihnen liegende Potential, die durch den Iran-Irakkrieg entstandene Situation nicht zu sehen – all dies stellte sich als Fortsetzung dieser strategischen Mängel dar. Dem historischen Moment nicht gerecht zu werden, nicht dementsprechend zu arbeiten sowie sinnlose und willkürliche Interpretationen führten zu Er­gebnissen, die strategische Rückschläge für unsere Bemühungen darstellten. Gute Absichten waren in dieser Situation lediglich die Steine, mit denen der Weg zur Hölle gepflastert ist.

Mein zweiter bedeutender strategischer Fehler war, die entstehenden Ten­denzen zur Bandenbildung nicht rechtzeitig erkannt zu haben und ihnen nicht rechtzeitig entgegen getreten zu sein. Es war eine weitere Folge des Dogmatismus, dass ich diese Aufgabe verlässlichen Freunden überließ. Ich hätte die massive Korrumpierung bemerken und definitiv stoppen müs­sen. Den gesamten positiven Bemühungen der PKK haben diese Vorgänge äußerst schwere Schläge versetzt. Mir fällt es schwer, das unglaubliche Vorge­hen einiger geradezu monströs mutierter Charaktere zu beschreiben. Noch unverständlicher ist, dass die Truppe, die so sorgfältig ausgebildet worden war, vor diesen Personen so leicht kapituliert hat. Wegen meiner Auffassung von Freundschaft redete ich mir stets ein, sie täten nur das Beste, seien komplett ehrlich, sie könnten alles schaffen. Dieser an Dogmatismus gren­zende Glaube war ein wichtiger Faktor für diese Vorgänge. Als ich dann viel zu spät aufwachte und mir alles klar wurde, waren viel Zeit und vor allem junge Kämpferinnen und Kämpfer, in die ich viel Arbeit investiert hatte, Unterstützung durch die Bevölkerung, und viele andere materielle und ideelle Werte bereits verloren.

Aus den Jahren 1992 und 1993 hätte ich weitergehende Lehren ziehen müssen. Während der Irak-Kuwait-Krise und 1991 wäre es besser gewesen, bei den Gruppen im Land zu sein. Was ich 1982 nicht getan hatte, hätte ich jetzt tun müssen. Die Aktivitäten in Syrien hätte ich hinten anstellen müssen. Man hatte mich wiederum in der gleichen Weise glauben gemacht, die Situation erfolgreich bewältigen zu können, indem ich intensiv Verstärkung sandte.

Ich hatte immer erwartet, dass unter tausenden von hochwertigen Kadern mit Sicherheit solche wären, die in der Situation richtig reagieren würden. Aber das Bandenwesen im Schoß der Bewegung und die verantwortungslose Haltung des Zentralkomitees machten alles zunichte, was sie beisteuerten. Die Geschichte wurde sehenden Auges in den Misserfolg geführt. Allein mit Disziplin und Opferbereitschaft war es nicht möglich, die Werte zu retten und die Aufgaben erfolgreich zu lösen. Das zufällige Zusammentreffen von Osman Öcalans Einigung mit der PUK, die einer Kapitulation glich, und die selbstmörderischen Unternehmungen von Murat Karayılan und Cemil Bayık verhinderten Ende 1992 noch größere Verluste. Das war der Punkt, an dem ich die Lektion hätte radikal lernen müssen. Es bestand die Not­wendigkeit einer radikalen Analyse der zentralen Kader, ohne gleichzeitig die Gebiete im Inneren des Landes zu vernachlässigen. Der Versuch, dies über Syrien durch Einrichtung neuer Schulen zu korrigieren und die ständige Wiederholung blockierten mich sehr. Diese Arbeiten hatten ihren Sinn größtenteils verloren. Ich hatte es versäumt, rechtzeitig persönlich zu intervenieren. Ich konnte mich nicht dazu durchringen, mich nach derart großen Verlusten ins Guerillagebiet zu begeben. Mir erschien der Versuch sinnvoller, die Stagnation nicht auf militärischen, sondern auf politischen Wegen zu durchbrechen. Ein militärischer Angriff hätte andernfalls zu un­serer vollständigen Vernichtung führen können. Die politischen Arbeiten hingegen konnten eine Bewegung mit noch mehr Potential ermöglichen. In der Truppe setzte sich die immer gleiche Arbeitsweise fort. Das zeigte sich bis in die Zeit des Kongra-Gel. Die jüngste innere Krise besteht aus einer Fortsetzung der Art und Weise, wie sie ins Land gingen, dort Ba­sen errichteten, arbeiteten und ein Verständnis von Taktik entwickelten. Selbstkritiken wurden nicht sinnvoll durchgeführt. Es gab das Beharren auf alten persönlichen Einstellungen und Arbeitsweisen. Das führte immer und überall zu nichts anderem als sinnlosen Verlusten, unerfüllten Aufgaben, Leid und letztlich dem Zusammenbruch ganzer Arbeitsbereiche. Mein zweiter Lebensabschnitt ist widersprüchlich, weil er den Staat zum Mittelpunkt hat, gleichzeitig aber die Qualitäten der kommunalen, demo­kratischen Haltung noch nicht verloren hat. Für das Ergebnis sollte das Ringen dieser beiden Widersprüche entscheidend sein. Der 15. Februar versetzte gleichzeitig dem Streben nach einem Staat den Todesstoß. Wenn die Ausrichtung einer Partei auf den Staat, wenn also der Etatismus eine Krankheit ist, dann war der Schlag, den mir alle Staaten der kapitalistischen Welt am 15. Februar 1999 versetzten, eine Medizin, eine Art Geburtshilfe für einen Neuanfang.

Als dritten Abschnitt meines Lebens, wenn man das überhaupt noch als Leben bezeichnen will, kann man die Etappe bezeichnen, die vom 15. Februar 1999 bis zum möglichen Lebensende reicht. Das herausragende Merkmal ist, dass an seinem Beginn der Bruch mit dem staatsfixierten Leben im Allgemeinen und dem modernen kapitalistischen Leben im Besonderen steht. Der Bruch mit der Zivilisation und der Fixierung auf den Staat ist kein Rückschritt. Im Gegenteil bedeuten das Ende der Vernachlässigung und Zerstörung der Natur und der Verzicht auf eine aufgeblasene Machtper­sönlichkeit, die sich auf Blut und Lügen stützt, eher die Möglichkeit, ganz grundlegend zu gesunden. Es geht um die Hinwendung von einer kranken Gesellschaft zu einer gesunden Gesellschaft. Und um die Abkehr von einer in die Ecke gedrängten, verfetteten, von der Natur völlig entfremdeten, in gewisser Weise von Krebsgeschwüren durchsetzten, absurd verstädterten Gesellschaft, hin zu einer ökologischen Gesellschaft. Von einer Gesellschaft mit einem durch und durch autoritären und totalitären Staat hin zu einer kommunalen-demokratischen, freien und egalitären Gesellschaft.

Attraktiv finde ich ethisch-politische Menschen, die Freundschaft mit Tieren pflegen, in Eintracht mit der Natur leben, auf einem Gleichgewicht der Geschlechter aufbauen, in Freiheit, Gleichheit und Liebe leben und die Kraft der Wissenschaft und der Technik davor bewahren, Spielzeug für Krieger und Mächtige zu sein. Ich rede definitiv nicht von einer Sehnsucht, die durch die Haft in einem Ein-Personen-Gefängnis hervorgerufen wird! Ich rede von einem geistig-seelischen Paradigma. Kategorisch sage ich: das Anbeten von Kraft und Macht, das funkelnde und glitzernde Leben aller blutbesudelten Zivilisationen, ich habe es wirklich satt und hasse es. Als Kind hatte ich die Jagdkultur völlig verinnerlicht. Ich jagte Vögel, köpfte sie und schoss Tiere, ohne mit der Wimper zu zucken. Meinen neuen Lebensabschnitt möchte ich damit beginnen, dass ich all diese Tiere um Verzeihung bitte. Ich glaube, dass die größte Glückseligkeit nicht dort liegt, wo prächtige Paläste, sondern wo Hütten im Grünen stehen. Ich glaube, dass man die Erfüllung des Lebens erreicht, indem man alle Farben, Stimmen und Be­deutungen der Natur wahrnimmt und vereint. Ich glaube, dass der wahre Fortschritt nichts mit riesigen Städten und Machtautoritäten zu tun hat, sondern dass diese im Gegenteil die größte Quelle von Krankheit sind. Ich glaube vielmehr, dass das Leben an einem Ort, der das alte Dorf ebenso überwindet wie die neue Stadt und ökologisches Siedeln mit den neuesten Erkenntnissen von Wissenschaft und Technik verbindet, die wahre Revolu­tion darstellt. Ich glaube, dass die riesigen Bauten der Zivilisation das Grab der Menschlichkeit sind. Wenn es einen Weg in die Zukunft gibt, so glaube ich daran, dass er sinnvoll und wert ist, gegangen zu werden.

Der Bruch mit der hierarchischen, etatistischen Klassenzivilisation ist die stärkste Selbstkritik. Ich glaube daran, dass ich ihn erfolgreich vollziehen werde. Die Kindheit der Menschheit, die ins Vergessen gestoßene Geschichte der Werktätigen und der Völker, die Welten der Freiheit und der Gleichheit in den Utopien der Frauen, der Kinder und der Kind gebliebenen Greise – ich will mich lieber an ihnen beteiligen, dort einen Erfolg erzielen.

All das ist Utopie. Aber manchmal sind Utopien die einzig rettende Inspiration. Aus den heutigen Bauten, die schlimmer sind als Gräber, wird man natürlich durch Utopien ausbrechen. Meine Situation ähnelt der keines anderen Menschen. Ich will auch nicht, dass sie das tut. Da ich jetzt mehr verstehe und mehr fühle, bin ich wohl auf dem richtigen Weg. Der Mensch, von Sinn und Gefühl erfüllt, ist der stärkste Mensch. Mit Sicherheit werde ich niemals wieder die Sünde begehen, den Großen zu ähneln. Ohnehin wollte ich ihnen nicht wirklich ähnlich sein, und es ist mir auch gar nicht gelungen. Das gründliche Verständnis der Vergangenheit der Menschheit, vor der ich Respekt habe, ist eine Realität, in der ich mein Leben erneut suchen und finden werde, um neu zu beginnen. Die Zukunft ist nichts anderes als die aktive Form dieser Bemühungen.

Denke ich immer nur an mich? Keineswegs. Diese Eingabe kann der ganzen Menschheit etwas lehren. Die neu aufgebaute PKK kann alle edlen Freundinnen und Freunde, meine Genossinnen und Genossen, die Verstandeskraft und Willen besitzen, zusammenführen. Unter dem Kongra-Gel als demokratischem Dach können sich das gesamte Volk von Kurdistan und sei­ne Freundinnen und Freunde sammeln. Gegen beliebige Angriffe auf unser Leben, unser Land und unsere Gesellschaft kann die HPG eine kompetente Verteidigung leisten; sie kann Übeltäter stets zur Rechenschaft ziehen. Frau­en mit höchsten Ansprüchen können sich in der PAJK zusammenfinden, die in ihrer Identität die zeitlose Reife und Klugheit von Göttinnen, die Reinheit von Engeln und die Schönheit der Aphrodite vereint.

Mit dieser Eingabe präsentiere ich dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte meine grundlegenden Überzeugungen und mein Ideal von Menschlichkeit – dem Rechtsprechungsorgan eines Europas, das sich als letzter Vertreter der Zivilisation stolz und selbstsicher gebärdet. Statt Hoffnungen darein zu setzen, bedauere ich, dass das Gericht vermutlich keine andere Rolle spielen wird, als sich für die Interessen des Profits instru­mentalisieren zu lassen.

Mit dem Wunsch nach einer demokratischeren, freieren und gerechteren Gesellschaft entbiete ich meine Hochachtung.

27. April 2004

Abdullah Öcalan

Einpersonengefängnis Imrali, Mudanya, Bursa

Bei dem Text handelt es sich um einen Auszug aus “Jenseits von Staat, Macht und Gewalt” von Abdullah Öcalan.

Seit vielen Jahren versucht Abdullah Öcalan, günstigere Bedingungen für eine friedliche, politische Lösung des Konflikts in der Türkei herbeizuführen. Jahrelang führte er mit der türkischen Regierung Gespräche über eine Lösung. 2009 legte er seine »Roadmap für den Frieden« vor. 2013 stoppte sein Aufruf zum Rückzug der Guerilla effektiv den bewaffneten Konflikt in der Türkei. Öcalan ist seit seiner Entführung 1999 auf der türkischen Insel Imrali völlig von der Außenwelt abgeschnitten. 11 Jahre lang war er der einzige Häftling auf der Insel – bewacht von mehr als 1000 Soldaten. Seit Ende Juli 2011 hat Öcalan mit keinem Anwalt sprechen können. Öcalan hält so den »Europa-Rekord« für Haft ohne Zugang zu Anwälten. Seit April 2015 befindet er sich faktisch in Totalisolation. Diese Zustände machen Imrali zum schlimmsten der ohnehin berüchtigten türkischen Gefängnisse. Die weltweite Kampagne für Öcalans Freiheit hat 10,3 Millionen Unterschriften gesammelt. Das Time-Magazine kürte ihn 2013 zu einer der 100 weltweit einflussreichsten Persönlichkeiten. Er ist Autor zahlreicher Bücher.