Öcalans Blick auf den Mittleren Osten

Abdullah Öcalan über die Beweggründe der wichtigsten Akteure im aktuellen Nahostkonflikt, 16.05.2018

Abdullah Öcalan ist seit seiner Entführung 1999 auf der türkischen Insel Imrali völlig von der Außenwelt abgeschnitten. Seit April 2015 befindet er sich faktisch in Totalisolation. Trotz seiner Situation schrieb er als Kenner der Region zahlreiche Bücher. In seinem „Manifest der demokratischen Zivilisation“ schrieb er bereits vor zehn Jahren, dass sich im Mittleren Osten ein Dritter Weltkrieg ereigne. Entscheidend in diesem Krieg seien dabei nicht die Position von gewissen Ländern, sondern die existenziellen Interessen der globalen hegemonialen Kräfte. Laut Öcalan werde in diesem Krieg manchmal die Diplomatie und manchmal die Gewalt in den Vordergrund rücken. Der Konflikt werde sich in der gesamten Region verbreiten.

Die oben kurz geschilderten Voraussichten von Öcalan sind heute Wirklichkeit. Wir haben gesehen, wie ein Tweet von Trump den Dollar in Russland, dem Iran und der Türkei beeinflusste. Wir sehen heute, wie sich der Hegemonialkrieg verschärft und mal mit Diplomatie, mal mit Krieg andauert. Dabei ist nicht ein bestimmter Ort das Zentrum des Krieges, sondern der ganze Kulturraum des Mittleren Ostens. Wir erleben eine chaotische Lage weltweit.

Wir erleben derzeit auf globaler Ebene turbulente Zeiten. Die Zuspitzung der Lage zeigt sich insbesondere auf syrischem Boden. Durch die diplomatischen Offensiven der Weltmächte ergeben sich neue Ordnungen. Doch diese ‘Tages-Allianzen’ sollten uns bei der Betrachtung der Lage nicht in die Irre führen. Denn die seit Jahren bestehenden ausschlaggebenden Bündnisse unter dem Dach der kapitalistischen Moderne bestehen bis heute fort. Anstatt des ‘Kriegsgeschreis’ in Syrien und der damit einhergehenden Täuschungsmanöver bedürfen wir Perspektiven wie der Öcalans, die der tatsächlichen Situation gerechter werden. Denn Öcalan ist eine der Personen, die Syrien und die sozio-politische Verfassung des Landes am besten kennt. Er führte dort jahrelang politische Arbeiten, baute Beziehungen auf und analysierte die verschiedenen Phasen während seines Aufenthaltes vor Ort. Als er davon sprach, dass ‘das syrische Wasser zu kochen beginnt’, teilte niemand seine Vorhersage. Niemand dachte an die Revolution in Rojava, als Öcalan bereits betonte, dass ‘der kurdische Aufstand in Syrien deutlich stärker als der arabische Aufstand’ sein werde.

Im Jahr 2008 machte Öcalan bereits wichtige Voraussagen: “Bald werden sie mit einer Operation gegen Syrien beginnen. Ob in ein paar Monaten oder in ein paar Jahren, kann ich nicht genau sagen. Auch die Türkei wird an die Reihe kommen. Für die Türkei werden sie sich auch etwas einfallen lassen. Auch wenn die Demokratie an die Macht gelangt. Ob Republikaner oder Demokraten ist nicht weiter wichtig. Mit beiden werden sie (spricht von anderen Staaten) gleich umgehen.”

Daraus ergibt sich eine wichtige Frage für uns: Wie betrachtete Öcalan die heutigen Kriegsakteure? Was genau sagte er über die einzelnen Länder?

Erstens: Öcalan betont, dass Institutionen, Organisationen und Sitzungen, die einzig der Show dienen, zu nichts führen können. Die bis zum heutigen Tage durchgeführten Sitzungen, in deren Rahmen keine einzige tragfähige Lösung erarbeitet wurde, zeigen das zu Genüge. Warum? Öcalan gibt eine klare Antwort: “Wir wissen, dass die von der Kapitalistischen Moderne verursachten Probleme durch Projekte der jüngeren Vergangenheit wie den nationalstaatlichen Zusammenschlüssen wie dem Bagdad-Pakt, CENTO oder RCD nicht langfristig gelöst wurden. Organisationen wie die Arabische Liga oder die Organisation für Islamische Zusammenarbeit  bleiben in Bezug auf die Lösung der wichtigsten Fragen ohne Erfolg und Einfluss. Auch das hängt mit ihrer nationalstaatlichen Beschaffenheit zusammen. Hinzu kommt, dass jeder Nationalstaat in der Region von einem bestimmten kapitalistischen Zentrum abhängig ist. Keiner dieser Staaten verfügt über die Kraft, sich außerhalb des Rahmens zu bewegen, der ihm von diesem jeweiligen Zentrum vorgegeben wird. Dass trotz der zahlreichen Sitzungen und Konferenzen keine Lösung gefunden werden konnte, hängt mit diesem Umstand zusammen.”

Zweitens: Öcalan weist auch darauf hin, dass der Krieg eine Art Maske darstellt. Er bezeichnet die ‘ideologische Hegemonie’ als entscheidendes Problem: “Es ist nicht möglich, die Moderne ohne eine ideologische Hegemonie und nur durch politischen und militärischen Druck aufrecht zu erhalten. In der vor-kapitalistischen Zeit wurde versucht auf dem Weg der Religion das Gewissen der Gesellschaft zu kontrollieren. Auf dem Weg des Nationalismus hält der Nationalstaat seine Staatsbürger und die im Rahmen des Kapitalismus entstandenen Klassen unter Kontrolle.”

Drittens: Aktuell sehen sich alle grundlegenden Akteure im Mittleren Osten dazu gezwungen, direkt in die Geschehnisse einzugreifen. Seit langer Zeit waren sie in Form von Söldnerarmeen und Briefkastenfirmen in der Region aktiv. Doch die Entwicklungen führten zu einem anderen Punkt. Der Wirtschaftskrieg nahm deutlich an Intensität zu und alle sahen sich dazu gezwungen, andere Ansätze zu verfolgen und auf neue Karten zu setzen.

Öcalan beklagt in diesem Zusammenhang, dass die Situation nicht richtig erfasst wurde. Er fordert, die 22 neu gegründeten Nationalstaaten und die Ziele hinter deren Gründung richtig zu analysieren: “Wenn wir die hegemoniale Ordnung der kapitalistischen Moderne im Mittleren Osten nicht richtig verstehen, werden wir auch nicht in der Lage sein, die Gründe für die Schaffung der 22 arabischen Nationalstaaten richtig zu verstehen. Aus der Perspektive der nationalstaatlichen, klein-bourgeoisen Unabhängigkeit und ihres von einer links-rechts, religiös-konfessionellen, ethnisch und nationalistischen Betrachtungsweise geprägten Geschichtsverständnisses bleibt die Ordnung der kapitalistischen Moderne im Mittleren Osten unverständlich. Daher ist es notwendig zuallererst die Errichtung der Hegemonie der kapitalistischen Moderne in der Region richtig zu erfassen, wenn wir die Wirklichkeit der arabischen Situation begreifen möchten (Ähnliches gilt sicherlich auch für die Republik der Türkei).

Viertens: Wichtig sind auch die Situation der verschiedenen Länder, ihre jeweiligen Pläne und Interessen. Sie sind die wichtigsten Akteure, die in praktisch alle Angelegenheiten in der Region verwickelt sind. Öcalan verliert nicht viel Zeit mit den Ländern, die als Werkzeuge für die eigentlichen Akteure dienen.

Die USA

Laut Öcalan ist die USA die hegemoniale Macht des Systems. Nachdem sie in Folge des 2. Weltkrieges von England die Stellung der Weltmacht übernommen hatte, arbeitet sie heute wieder eng mit dem ehemaligen Hauptkonkurrenten zusammen. Erinnern wir uns: Trumps Kriegsankündigung in Richtung Russland wurde zuerst und bedingungslos von England unterstützt. Es unterstützt den Krieg auf fast besessene Art und Weise. Es sind englische Institutionen, die derzeit die manipulativsten Nachrichten über den Mittleren Osten verbreiten.

Öcalan richtet die Aufmerksamkeit darauf, dass die USA als mächtigster Akteur an einem ökonomischen Wettlauf teilnehmen, in dessen Rahmen sie über eine sehr ausgeprägte Fähigkeit der eigenen Restaurierung verfügen. Während dieser Phase der eigenen Restaurierung wird sie den Schwerpunkt auf die Verteidigung der eigenen Hegemonie setzen. Dafür wird die USA punktuelle Angriffe durchführen statt eine allumfassende Konfrontation zu riskieren.

England, Deutschland, Frankreich etc.

Öcalan widmet der Rolle der EU-Staaten einen eigenen Platz. Denn laut ihm werden die EU-Länder als Ursprungsorte der Entstehung des Kapitalismus ihre gewichtige Position weiter aufrechterhalten. Sie werden weiter auf die strategische Partnerschaft mit den USA setzen. Praktisch alle Länder der EU spielen auf die eine oder andere Art eine Rolle im Mittleren Osten. Sie beteiligen sich an einigen Orten direkt am Krieg, während sie an anderen Orten Distanz zu den Ereignissen bewahren. Doch als grundlegende Akteure verfolgen sie alle ihre Ziele in der Region. Sie betrachten den Krieg als Notwendigkeit, um die Krise und das Chaos zu überwinden. 500 Jahre lang spielten sie eine Führungsrolle für die kapitalistische Moderne. Aufgrund ihrer Position werden aus ihren Reihen die stärksten Kräfte für eine Reform des Kapitalismus, des Nationalstaats und des Industrialismus hervorgehen. Doch laut Öcalan wäre es falsch, die Schaffung eines neuen Systems vonseiten der EU zu erwarten. Die EU-Länder könnten eine unverzichtbare Rolle als Zentrum für neue wissenschaftliche und philosophische Aufbrüche spielen. Doch als potenzielle Kraft für ein neues System und in ihren Unternehmungen dafür werden diese Länder nur eingeschränkt aktiv werden und damit nicht den Ausgangspunkt für das neue System darstellen.

Russland

Öcalan betrachtet Russland nicht als ein Land, das auf der Seite einer Lösung im Rahmen der demokratischen Moderne steht. Die Politik Russlands muss daher vor dem Hintergrund dieser grundlegenden Feststellung betrachtet werden.

Im Kern schaffte es das Land nicht die kapitalistische Moderne zu überwinden und spielte stattdessen in vielen Punkten eine unterstützende Rolle für das System. Wenn man vor Augen führt was für eine Rolle die von kommunistischen Parteien angeführten russischen und chinesischen Revolutionen in der Verbreitung der kapitalistischen Moderne gespielt haben, wird dies verständlicher. Als Teil der kapitalistischen Moderne konnten sie im Mittleren Osten keinen Erfolg erzielen. Ohne Zweifel spielte auch die regionale Kultur dabei eine Rolle. Der Kultur der Moderne gelang es nicht, die regionale Kultur vollständig zu erobern. Wir können an dieser Stelle einen starken kulturellen Widerstand beobachten.

Russland muss als Block, der im Widerspruch zu anderen Akteuren steht, auf einmal viele Offensiven unternehmen! Das gilt sowohl für Offensiven gegen den Block der USA und Englands, als auch gegen die nationalstaatliche Politik im Mittleren Osten.

Iran

Öcalan betrachtet den Iran als ein Land, das bestrebt ist seine eigene Hegemonie auszubauen und dessen Eliminierung nicht leicht sein wird. Öcalan bezeichnet es als eine Besonderheit des Irans, an allen Orten des Krieges aktiv und gleichzeitig nirgendwo sichtbar zu sein.

Die Türkei, die arabischen Nationalstaaten und Israel akzeptierten stets die Legitimität des nationalstaatlichen Systems, das ihre eigene Existenz erst möglich machte. Die Islamische Revolution im Iran akzeptierte den trotz aller Widersprüche etablierten Status-Quo jedoch nicht und begann am Aufbau einer Gegenhegemonie zu arbeiten. Die aktuellen Spannungen zwischen dem Iran und Israel sind daher nicht nur Ausdruck eines Kampfes zwischen zwei Nationalstaaten, sondern eines andauernden Konflikts zweier Systeme um die Hegemonie.

Der iranische Staat wurde nach dem 1. Weltkrieg ähnlich wie die türkische Republik und das afghanische Königreich im Rahmen der hegemonialen Interessen Englands als moderner Nationalstaat neu aufgebaut. Die starke kulturelle Tradition akzeptiert keine schiitische Oligarchie, die einen Kompromiss mit der kapitalistischen Moderne schließt. Daher besteht seit jeher die Möglichkeit, dass die Widersprüche im Iran sich zu einem Kampf der beiden alternativen Modernen entwickeln. Im Gegensatz zur Türkei oder den arabischen Nationalstaaten wird es nicht leicht sein, den Iran in die Knie zu zwingen. Auch wenn der Konflikt derzeit noch vor allem mit Worten geführt wird, befinden sich die iranische Oligarchie und Israel bereits in einem Konflikt um die Hegemonie über den Mittleren Osten. Insbesondere die Frage der nuklearen Aktivitäten wird vonseiten des Irans in diesem Zusammenhang als zweiter Trumpf eingesetzt. Das Streben nach Hegemonie war stets Teil der schiitischen Tradition.