Osê: Unser Projekt ist das einzige Lösungsmodell für Syrien

Die stellvertretende Ko-Vorsitzende der Autonomieverwaltung Nord- und Ostsyriens, Emine Osê, hat im Interview mit der Nachrichtenagentur ANF Fragen zur türkischen Invasion in Rojava und der Rolle internationaler Mächte beantwortet. In dem Gespräch äußerte sich die Politikerin außerdem zum Schweigen des Regimes angesichts der Besatzung syrischen Territoriums durch den Nato-Partner Türkei und dessen islamistische Proxy-Armee.

Der türkische Staat greift nach wie vor Nord- und Ostsyrien an. Insbesondere die Angriffe auf Gebiete entlang der internationalen Verkehrsstraße M4 werden gesteigert. Welche Bedeutung hat dieser Verkehrsweg und welche Auswirkungen hätte eine Besetzung durch die Türkei auf die Region?

Nach Beginn der Angriffe der Türkei und ihrer Proxy-Armee auf Girê Spî (Tall Abyad) und Serêkaniyê (Ras al-Ain) wurden zwei Abkommen ausgehandelt: eins zwischen Washington und Ankara und ein weiteres zwischen Ankara und Moskau. Wir wurden nicht in alle Punkte mit einbezogen, so dass wir lediglich der Waffenruhe unsere Zustimmung erteilt haben. Die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) hatten unseren Standpunkt dargelegt: wir haben den Abzug der QSD aus dem Gebiet zwischen Serêkaniyê und Girê Spî akzeptiert und der türkische Staat hat sich bereit erklärt, die Angriffe zu stoppen und einen langfristigen Waffenstillstand umzusetzen. Allerdings, so scheint es, haben weder die USA noch Russland, zwei Kräfte, durch deren Initiative dieser Krieg hätte beendet werden können, dieses Handlungsziel verfolgt. Wäre dem so, hätten sie eine entsprechende Haltung gezeigt, denn die Türkei hat ihre Angriffe zu keinem Zeitpunkt eingestellt. Daher gehen wir davon aus, dass ganz andere Beweggründe die USA und Russland veranlassen, passiv zu bleiben. Unserer Meinung nach ist die Botschaft eigentlich klar; die Türkei soll noch tiefer in syrisches Territorium eindringen. Wie Sie wissen, werden die Gegenden um Til Temir (Tell Tamer) und Ain Issa weiterhin angegriffen. Beide Städte liegen außerhalb der Region, die für die sogenannte „Sicherheitszone” vorgesehen ist. Obwohl sich die Operationszentren der USA und Russlands in unmittelbarer Nähe befinden, wird nichts unternommen, um einzugreifen oder die Angriffe zu stoppen. Infolgedessen ist davon auszugehen, dass es für gemeinsame Interessen eine Kooperation zwischen beiden Ländern gibt, die sich gegen das demokratische Projekt der Völker Nord- und Ostsyriens richten. Die Reaktion der angestammten Bevölkerung darauf ist nach wie vor, sich für die Verteidigung des eigenen Willens, der Heimat und des demokratischen Projekts in allen Lebensbereichen dem Widerstand anzuschließen. Das ist eine klare Botschaft an die Welt.

Die Besetzung der M4 sieht keines der Abkommen zu Nord- und Ostsyrien vor. Der türkische Staat und seine Milizen greifen die Straße dennoch an. Die Intention dahinter besteht allerdings nicht nur darin, die Gebiete entlang dieses Weges zu besetzen, sondern auch den Rest Nord- und Ostsyriens zu annektieren, einzukesseln, mit einem Embargo zu belegen und mittels der Milizen unmenschliche Praktiken wie Entführungen, Plünderung und Mord, so wie sie in Efrîn zur Tagesordnung gehören, auf alle anderen Regionen auszudehnen, um die Bevölkerung an die Wand zu drücken, ihr die Luft zum Atmen zu nehmen, und sie so schließlich gänzlich zu vertreiben und Nordostsyrien vollständig zu entvölkern. In Girê Spî und den anderen besetzten Gebieten ist das bereits gängige Praxis.

Die M4 stellt natürlich auch für uns eine wichtige Versorgungsroute dar. Deshalb leisten die QSD auf Grundlage der legitimen Selbstverteidigung großen Widerstand gegen alle Angriffe. Ich möchte allerdings nochmal betonen, dass weder die USA noch Russland, deren Armeen Stützpunkte entlang der M4 betreiben, kaum bereit sind, gegen die Angriffe zu intervenieren. Lediglich wenn die Milizen in Bedrängnis geraten, schalten sie sich hin und wieder ein. Rücken die islamistischen Proxys irgendwo vor, wird geschwiegen.

Natürlich wird diese Situation von der Bevölkerung sehr aufmerksam beobachtet. Immerhin begründen diese Kräfte ihre Präsenz damit, die territoriale Integrität Syriens verteidigen und die Defensive nordostsyrischer Gebiete sicherstellen zu wollen. Von einer Verteidigung der Rechte der Bevölkerung kann aber nicht die Rede sein, sonst wären nicht so viele Menschen vertrieben worden. Die Bevölkerung sieht ja, dass sie vor den Augen dieser Kräfte mit Flugzeugen und Panzern bombardiert wird. Diese Menschen haben den IS überlebt und wollen die gleiche Erfahrung nicht nochmal machen.

Aus Girê Spî und Serêkaniyê sind sehr viele Menschen geflüchtet. Wir als Autonomieverwaltung haben am ersten Tag des Krieges eine Mobilmachung ausgerufen und halten sie nach wie vor aufrecht. Wir stehen den Geflüchteten bei, denn es ist unsere Pflicht. Für die aus den besetzten Städten geflohenen Menschen wurden große Camps errichtet. Außerdem dokumentieren wir die Kriegsverbrechen der Türkei und ihrer islamistischen Milizen gegen die Zivilbevölkerung, um sie der internationalen Öffentlichkeit zugänglich zu machen, und vertreten mit politischen und diplomatischen Mitteln den Willen unserer Bevölkerung.

Kampf gegen Besatzung nicht auf Agenda des Regimes

Gemäß dem Abkommen zwischen der Türkei und Russland halten sich vor allem in den angegriffenen Gebieten russische und syrische Truppen auf. Auch wenn Regimesoldaten in der jüngsten Zeit einige der Angriffe erwiderten, gab es aus Damaskus bisher keine Reaktion. Wie interpretieren Sie die Haltung des Regimes?

In einigen kleinen Dörfern und manchen Fronten erwiderten Regimesoldaten die Angriffe, allerdings auf Initiative der dort stationierten Truppen. Damaskus hat keine Kriegsentscheidung gegen die Kräfte getroffen, die Syrien besetzen. Das Regime verfolgt eher den Ansatz, unter Zuhilfenahme der Besatzungsangriffe Druck auf unser demokratischen Projekt auszuüben. Offenbar erkennt Damaskus nicht, dass die Integrität Syriens in Gefahr ist. In erster Linie sollte sich das Regime klar machen, dass Rojava ein Teil von Syrien ist. Die Besetzung eines Gebietes in Rojava bedeutet die Besetzung Syriens. Sowohl das Regime als auch die militärischen Kräfte in der Region sollten ihre Handlungen auf dieser Grundlage auslegen. Stattdessen handelt Damaskus mit der Perspektive, der Autonomieverwaltung weitere Zugeständnisse abzuringen, weil sich das Regime erhofft, das alte System wiederherzustellen. Das aber ist unmöglich. Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendeine Person in Nord- und Ostsyrien diesem Plan zustimmt. So wie die Bevölkerung den IS kennt, kennt sie auch das Regime. Dass das Regime glaubt, dass alle Probleme, die zwischen Damaskus und der Bevölkerung bestanden, aus dem Weg geräumt seien, ist der falsche Ansatz. Sollte das Regime dennoch darauf bestehen, werden sich dieser Idee nicht nur unsere militärischen Kräfte entgegenstellen, sondern auch das Volk. Und zwar auf Grundlage des Prozesses, wie er vor der Revolution im Jahr 2012 eingeleitet wurde. Denn die Menschen haben ausschließlich für den Schutz der Landesgrenzen einer Rückkehr des Regimes zugestimmt. Der Ansatz dabei war, die Integrität Syriens zu schützen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass das Regime seinen zentralistischen Machtstaat wiederherstellen kann. Die Erwartung der Bevölkerung ist, dass das Regime gemeinsam mit unseren Kräften die Verteidigung der territorialen Integrität Syriens gewährleistet. Außerdem sollen beide Seiten für die Lösung der Krise in einen Dialog treten.

Kurden sollen in eine Situation gedrängt werden, in der sie sich mit allem abfinden

Beide Abkommen zu Nordsyrien sehen vor, die territoriale Integrität Syriens zu verteidigen und die Krise zu überwinden. Wie beurteilen Sie das Schweigen der USA und Russlands angesichts der zunehmenden Angriffe auf die Region und der Ausweitung der Besatzung durch den türkischen Staat?

Die Präsenz von internationalen Kräften wie den USA und Russland in Nordostsyrien ist direkt relevant für die Krise im Land. Beide Kräfte geben an, für eine Lösung der Syrienkrise zu arbeiten. Wieso verlaufen dann alle Anstrengungen, die sie bisher für eine neue syrische Verfassung unternommen haben, im Sande? Das syrische Verfassungskomitee ist in einer Sackgasse. Der Grund ist klar: es agiert nicht im Sinne der Bevölkerung. Wir als Autonomieverwaltung haben von Anfang an klargestellt, dass ein solcher Ausschuss ohne die Einbeziehung der Völker Nord- und Ostsyriens nicht zur Problemlösung beitragen kann. Solange der Wille des Volkes unbeachtet bleibt, wird das Verfassungskomitee auch nicht aus der Sackgasse finden.

Außer unserem demokratischen System besteht ohnehin keine Alternative, die Syrien aus der Krise führen könnte. Und trotzdem werden wir in jeder Hinsicht angegriffen. Das zeigt, dass eine Absicht, die Syrienkrise in einem demokratischen Rahmen zu lösen, nicht vorliegt. Diese Kräfte verfolgen nur ein einziges Ziel: die vorhandenen Kräfte gegeneinander aufzubringen, sie zu zermürben und in eine Position zu treiben, in der ihnen nichts anderes übrig bleibt, als ausschließlich die Interessen dieser äußeren Kräfte zu sichern. Sowohl die Bevölkerung als auch die Institutionen Nord- und Ostsyriens sind sich dessen bewusst. Wir sind keine Gesellschaft mehr, die alles akzeptiert, was ihr vorgelegt wird. Wir befinden uns im 21. Jahrhundert.

Wir reden von demokratischen Systemen, dem Zusammenbruch von staatlichen Systemen, die auf den Erhalt des Status Quo ausgerichtet sind. Wir wollen demokratische Systeme, die aus der Gesellschaft hervorgehen. Unser Projekt hier ist der Beginn einer neuen Ära, die unsere Gesellschaft mit ihrem eigenen politischen Willen hervorgebracht hat. Die internationalen Mächte glauben, das Volk könnte mit Angriffen und Repression zermürbt werden. Sie irren sich. Die Menschen Nord- und Ostsyriens werden ihr Pojekt verteidigen, köste es was es wolle. Denn es ist die Selbstorganisierung der Bevölkerung, die die Grundlage des demokratischen Projekts hier bildet. Es bezieht seine Stärke von seiner militärischen Kraft, der es vertraut. In diesem Sinne wird die von den internationalen Mächten für ihre Eigeninteressen in der Region verfolgte Politik den unethischen Rahmen nicht verlassen können und erfolglos bleiben. Unsere Gesellschaft hat die Etappe des revolutionären Kampfes schon längst erreicht und auf den verschiedenen politischen und demokratischen Ebenen Relevanz erlangt. Außerdem kann sie die Verteidigung ihrer Existenz sicherstellen.

Der Sitz der Autonomieverwaltung Nord- und Ostsyriens wird aus Ain Issa in eine andere Region verlegt. Liegt es an den anhaltenden Angriffen auf die Stadt?

Ain Issa liegt am internationalen Verkehrsweg M4 und somit auf einer Route, wo es jederzeit zu Konflikten und Angriffen kommt. Keine der Kräfte in der Region kann garantieren, dass wir von Angriffen der Milizen verschont bleiben. Die militärischen Kräfte sind nach wie vor in Position, um die Gegend zu verteidigen. Und auch unsere an Girê Spî gegliederten Institutionen werden weiterhin ihren Aufgaben nachgehen.

Es ist jedoch eine große Herausforderung, als Autonomieverwaltung Nord- und Ostsyriens unsere Arbeit mit den Selbstverwaltungen aller sieben Regionen in einem Gebiet mit Sicherheitsproblemen fortzusetzen. Zwar sind wir in ständigem Kontakt, aber regelmäßige Fahrten in die verschiedenen Regionen stellen unter den gegebenen Voraussetzungen ein Risiko dar. Einige unserer Kommissionen werden zwar in Ain Issa bleiben, aber der Sitz der Autonomieverwaltung wird in jedem Fall verlegt werden.

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