Oslo zum Zweiten?

muzakereZübeyir Aydar, Exekutivratsmitglied im Kurdischen Nationalkongress (KNK)

Die gewaltsamen Konfrontationen in Nordkurdistan und der Türkei sowie ihre Auswirkungen bestimmten die Entwicklungen der letzten zwei Monate in der kurdischen Frage. Die militärischen Auseinandersetzungen, die ihren Anfang am 15. August 1984 genommen hatten, halten jetzt seit 28 Jahren an. Wie auch zahlreiche Experten und Beobachter feststellten, gehören die Gefechte der letzten drei Monate zu den schwersten in der gesamten Zeit. Während die türkische Armee in bestimmten Gebieten Rückschläge hinnehmen musste, hat die kurdische Guerilla in nicht unbedeutenden Gebieten die Kontrolle übernommen. Die Regionen Colemêrg (Hakkari) und Botan unterstehen regelrecht einer doppelten Autorität sowohl der Türkei als auch der Guerilla. Diese Entwicklung wirkte sich auf die Politik aus und führte zu neu entfachten Diskussionen über eine Lösung.

»Das Problem ist mit Waffen nicht zu lösen«
Ein Vergleich der Debatten der letzten Zeit mit denen des Vorjahrs zeigt Unterschiede auf. Letztes Jahr, nach dem Abbruch der Oslo-Gespräche, griff auf der einen Seite die iranische Armee die kurdische Befreiungsbewegung in Qandil an, auf der anderen Seite startete das türkische Militär mit der Intention, die kurdischen Guerillakräfte zu liquideren, einen umfassenden Angriff. Das antikurdische Bündnis zwischen der Türkei, Iran, Syrien mit einer gewissen Beteiligung des Irak war Anfang 2011 erneuert und infolgedessen die Vernichtung der Guerilla in einer »Sandwich«-Operation beschlossen worden.

Dementsprechend waren die damaligen Diskussionen von dieser Offensive bestimmt. Zahlreiche Regierungsvertreter, allen voran der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan, posaunten: »Das war`s, wir werden noch in diesem Jahr diese Sache abschließen.« Regierungsnahe Medien debattierten über die »tamilische Lösung« der sri-lankischen Regierung, es gab Schlagzeilen wie »Die PKK ist besiegt, lasst uns die Phase nach ihr besprechen«. Eine umfassende offensive Kampagne wurde geführt. Aber alle diese Absichten blieben Wunschdenken. Die iranische Armee wurde in Qandil besiegt. Die türkische Armee führte Nulloperationen durch, hunderte Kampfflugzeuge bombardierten die Berge, ohne Erfolg.
Die Diskussionen im vergangenen Jahr waren ausschließlich auf Vernichtung und Liquidierung der PKK gerichtet. In diesem Jahr waren die Debatten andere. Der Ministerpräsident, der noch letztes Jahr behauptete: »Gespräche mit der PKK wird es nicht nochmal geben!«, erklärte in diesem Jahr, dass Gespräche sowohl auf Imrali als auch in Oslo stattfinden könnten. Die Schlagzeile des letzten Jahres »Unsere Armee hat gesiegt« wurde dieses Jahr ersetzt durch »Das Problem ist mit Waffen nicht zu lösen«. Statt einer »tamilischen Lösung« werden das nordirische und das baskische Modell diskutiert. Das sind zweifellos bemerkenswerte Entwicklungen. Weiter unten werde ich auf dieses Thema vor allem in Bezug auf die Oslo-Phase erneut eingehen.

Isolation Abdullah Öcalans hält weiter an
An der Situation des kurdischen Volksvertreters Abdullah Öcalan hat sich in dieser Zeit nichts geändert. Die verschärften Isolationshaftbedingungen halten weiterhin an. Am Erscheinungstag dieses Heftes, d.?h. am 1. November 2012, sind es genau 462 Tage, dass seine Kontakte zur Außenwelt auf rechtswidrige Weise unterbrochen sind. Besuche seiner Anwälte und Familienangehörigen sind untersagt. Über dreißig Anwälte sind noch immer inhaftiert, weil sie seine Verteidigung übernommen hatten. Um Spekulationen über seine Situation entgegenzutreten, wurde im September 2012 sein Bruder auf die Gefängnisinsel gebracht, um ihn für 15 Minuten zu sehen. Das war alles. Unterdessen wurde Anfang September eine internationale Unterschriftenkampagne mit über tausend Erst¬unterzeichnern, darunter Politiker, Intelektuelle und Nobelpreisträger, begonnen, in der die Freiheit für Abdullah Öcalan und alle politischen Gefangenen in der Türkei gefordert wird. Diese Kampagne wird gegenwärtig weltweit geführt.

Hunderte Gefangene im Hungerstreik
Am 12. September haben in der Türkei 63 kurdische politische Gefangene einen unbefristeten Hungerstreik begonnen, um auf die Situation Abdullah Öcalans sowie auf die schlechten Haftbedingungen aufmerksam zu machen. Sie fordern die Freiheit für Abdullah Öcalan, die umfassende Anerkennung der kurdischen Sprache einschließlich des Verteidigungsrechts und der Bildung in ihrer Muttersprache. Der heutige Tag (17. Oktober) ist der 39. des Hungerstreiks. Der Gesundheitszustand dieser Gefangenen ist inzwischen angegriffen und die Phase der Lebensgefahr hat begonnen. Am 15. Oktober haben sich aus 76 Gefängnissen in der Türkei hunderte weitere kurdische politische Gefangene sowie linke politische Gefangene angeschlossen.

Die Gefängnissituation in der Türkei steht aufgrund der Folter, Misshandlungen und schlimmen Haftbedingungen seit eh und je auf der Tagesordnung. Wegen derselben Probleme stehen die Gefängnisse gegenwärtig kurz vor der Explosion. Vor einigen Monaten steckten in mehreren Haftanstalten die Gefangenen aus Protest ihre Zellen in Brand. Die Situation ist ernst, jederzeit kann es zu Todesfällen kommen. Obwohl Anlass zu großer Sorge besteht, ist keinerlei Bewegung aufseiten der Regierungsvertreter zu verzeichnen.

Festnahmen und Verhaftungen halten an
Auch in diesen letzten zwei Monaten haben die Festnahmen kurdischer Politiker unter der Bezeichnung »KCK-Operationen« angehalten [KCK: Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans]. Hunderte Menschen sind in dieser Zeit verhaftet worden. Parallel dazu laufen die KCK-Prozesse und es kommt zu Verurteilungen von bis zu 20 Jahren. Das Vergehen war es, sich politisch betätigt zu haben.
Auch die Repression gegen die Partei für Frieden und Demokratie (BDP) hält unvermindert an. Als reichte die Verhaftung ihrer Parteifunktionäre nicht aus, steht jetzt die Aufhebung der parlamentarischen Immunität der BDP-Abgeordneten und deren Verhaftung zur Debatte. Die BDP wird politisch isoliert, ökonomisch eingeschnürt und auf polizeilichem und gerichtlichem Wege daran gehindert, Politik zu machen. Äußerst interessant ist: Am 30. September veranstaltete die AKP ihren vierten Parteikongress, zu dem die politischen Parteien der Türkei sowie zahlreiche Regierungsvertreter weltweit eingeladen waren, sogar der Präsident der Autonomen Region Kurdistan und Vorsitzende der Demokratischen Partei Kurdistans (PDK), Masud Barzani – aber die BDP, mit einer Fraktion im türkischen Parlament, nicht.

Die Kurden in Syrien setzen sich für ein demokratisches Syrien ein
Die Entwicklungen in Syrien und Westkurdistan (Syrisch-Kurdistan) beanspruchen weiterhin ihren Platz auf der politischen Agenda. Es sind 19 Monate vergangen, seit am 15. März 2011 die Aufstände gegen das syrische Regime begannen. Gegenwärtig hält die Gewalt in all ihrer Härte an und bringt menschliche Dramen mit sich. Zu Beginn der Ereignisse in Syrien verfielen türkische Repräsentanten in eine Erwartungshaltung, dass es auch hier zu einem raschen Regimewechsel wie im Vorfeld in Tunesien, Ägypten und Libyen kommen würde. Um keine Chance zu verpassen und der Macht näher zu sein, reagierten sie sehr früh. Sie haben die syrische Opposition in Istanbul versammelt, ihr ökonomische Unterstützung geleistet, ihr eine politische und militärische Basis geboten. Diese voreilige Reaktion der Türkei resultierte größtenteils aus ihren Erfahrungen mit der kurdischen Frage. Während der militärischen Okkupation des Irak glauben sie falsch gehandelt zu haben, als Folge dessen konnten die Kurden im Irak einen politischen Status gewinnen. Derselbe Fehler sollte sich in Syrien nicht wiederholen, daher fühlte sich die Türkei zu einer aktiven Syrien-Politik gezwungen. Folglich unternimmt sie alles, um zu verhindern, dass die Kurden das entstandene Machtvakuum nutzen. Zuletzt nahm sie einen syrischen grenzverletzenden Granatbeschuss vom 4. Oktober zum Anlass, um im türkischen Parlament ein Mandat für grenzüberschreitende Militäroperationen zu erwirken. Dieses Mandat dient vielmehr der Einschüchterung der Kurden und stellt eine Bedrohung dar. Auch das Verlangen, in Nordsyrien eine Pufferzone zu errichten, ist eine Intervention zur Kontrolle der dortigen kurdischen Regionen. Die Kurden in Syrien setzen sich für ein demokratisches Syrien ein und eine autonome kurdische Region. Sie treten jeglicher aggressiven Politik der Türkei entgegen und werden im Falle eines Angriffs breiten Widerstand leisten.

Ich habe das Thema Syrien hier nur kurz aus kurdischer Sicht angerissen. Es gibt sicherlich viel mehr dazu anzumerken. Die ideologische Nähe der türkischen Führung zur Organisation der Muslimbruderschaft, die konfessionelle Annäherungsweise der Türkei, Saudi-Arabiens und des Iran, die blutrünstige Baath-Diktatur in Syrien, die Qualität der syrischen Opposition, der Unsinn der Behauptung des Trios Türkei/Saudi-Arabien/Katar »Wir bringen Syrien Demokratie«, die Doppelmoral der sogenannten westlichen Länder – das kann zweifelsohne alles viel gründlicher bewertet und analysiert werden.

»Wenn nötig, kann es erneut zu Oslo- und Imrali-Gesprächen kommen«
In diesen Wochen sind die »Oslo-Gespräche« in der Öffentlichkeit breit debattiert worden, nachdem der Sprecher der Republikanischen Volkspartei (CHP) einige Dokumente dazu veröffentlicht hatte. Die Absicht der CHP war es, die AKP-Regierung mit diesem Schritt vor der nationalistischen Öffentlichkeit in Bedrängnis zu bringen. Aber das Gegenteil trat ein. Die CHP wurde für ihren Vorstoß kritisiert und ihr Vorsitzender war gezwungen zu erklären, dass sie nicht gegen die Gespräche seien. Auch Ministerpräsident Erdogan beteiligte sich an dieser Diskussion und verkündete: »Wenn nötig, kann es erneut zu Oslo- und Imrali-Gesprächen kommen.« Weitere Regierungsmitglieder behaupteten, es werde zu Gesprächen dieser Art kommen.

Die sogenannten Oslo-Gespräche, die zwischen der kurdischen Befreiungsbewegung unter Führung der PKK und dem türkischen Staat im Jahr 2006 erst einmal indirekt begonnen hatten, mündeten später in direkte Gespräche. Diese wurden auf zwei Ebenen geführt, auf Imrali mit Abdullah Öcalan und in Oslo mit Vertretern der Bewegung. Zwischen Imrali und Oslo wurde der Dialog mittels Briefen gewährleistet. Diese Gespräche hielten an bis zu den Parlamentswahlen im Juni 2011. Danach wurde der Dialog von der türkischen Regierung trotz unterschriftsreifer Protokolle einseitig abgebrochen.

Am 14. September 2011 tauchten einige Ausschnitte dieser Gespräche im Internet auf. Am 7. Februar 2012 erklärte die Istanbuler Staatsanwaltschaft, ihnen lägen die Oslo-Dokumente vor und die an diesen Gesprächen beteiligten staatlichen Vertreter hätten eine Straftat begangen; diese wurden zur Aussage vorgeladen. Polizeibeamte behaupteten, die Dokumente während einer polizeilichen Durchsuchung am 13. Januar 2012 im BDP-Parteigebäude in Amed (Diyarbakir) beschlagnahmt zu haben. Ministerpräsident Erdogan zufolge habe hingegen die PKK die Dokumente der CHP zugespielt.

Ich denke, an dieser Stelle sind einige Anmerkungen zu diesem Thema angebracht:
1. Besagte Dokumente sickerten nicht vonseiten der PKK durch, sondern diejenigen, die gegen diese Gespräche waren und innerhalb des Staates Machtkämpfe führen, besorgten sie aus dem Staatsarchiv und verbreiteten sie. Die Dokumente an die CHP kamen ebenfalls von diesen Kreisen. Die polizeiliche Aussage, die Dokumente während einer Durchsuchung im BDP-Gebäude beschlagnahmt zu haben, ist Verleumdung; sie ist lächerlich und dient ausschließlich der Vertuschung der eigenen Schuld. Dazu hat die PKK-Führung (Öcalan) mehrfach entsprechende Erklärungen abgegeben.

2. Die Oslo-Phase bedeutete aus Sicht der kurdischen Befreiungsbewegung die Suche nach Frieden und Lösung mittels Dialog. Die Bewegung war bereitwillig und aufrichtig. Sie begann tro tz militärischer Angriffe einen einseitigen Waffenstillstand. Sie entsandte eine Gruppe von Guerillas als Friedensgruppe in die Türkei, um ihre guten Absichten zu demonstrieren und zur Entspannung der Atmosphäre. Sie unterbreitete dem türkischen Staat ihre Vorschläge für die Lösungsphase und den Frieden in Form einer Roadmap. Sie erklärte, dass sie eine Lösung innerhalb der Staatsgrenzen der Türkei sucht. Die Bewegung hat alle Themen auf den Tisch gelegt, zur Diskussion eröffnet und sich bereit erklärt für den Frieden.

3. Trotz Zusagen präsentierte die Gegenseite niemals einen Lösungsvorschlag. Sie hat immer aufgeschoben. Als sie in Bedrängnis kamen, erklärten sie lediglich: »Wir werden Euren Vorschlag der Regierung vorlegen und die Antwort darauf bringen.« Aber sie brachten keine.

4. Das führte dazu, dass die PKK-Führung immer mehr zu der Überzeugung gelangte, die Gegenseite benutze eine Hinhaltetaktik; wenn sich die Möglichkeit ergebe, würde sie die Bewegung mit dem Ziel ihrer Vernichtung angreifen, und sie führe diese Gespräche nur zu diesem Zwecke. Die antikurdische Koalition der Türkei mit Iran, Syrien und Irak im letzten Jahr hat das gezeigt.

5. Trotz den Regierungserklärungen gibt es gegenwärtig keine funktionierende Friedens- oder Dialogphase.

6. Die PKK ist mit der Dialogphase in Oslo und Imrali verbunden. Es ist kein Thema, dass sie sich von ihren Versprechen abwendet. Die kurdische Befreiungsbewegung ist überzeugt von der friedlichen Lösung der kurdischen Frage und ist dazu entschlossen. Der Beginn einer neuen Dialogphase hängt von dem Willen und der Haltung der Gegenseite ab.

Kurdistan Report Nr. 164 November/Dezember 2012

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