PROBLEME DER VÖLKER DES MITTLEREN OSTENS UND MÖGLICHE LÖSUNGSANSÄTZE

Leseprobe aus: Demokratischer KonföderalismusLeseprobe aus: Demokratischer Konföderalismus
von Abdullah Öcalan

(…) In den vergangenen zwei Jahrhunderten ist der Nationalismus in den Gesellschaften des Mittleren Ostens geschürt worden. Die nationalen Fragen sind nicht gelöst, sondern vielmehr in allen gesellschaftlichen Bereichen verschärft worden. Statt produktiven Wettbewerb zu betreiben, erzwingt das Kapital im Namen des Nationalstaats Kriege und Bürgerkriege. (…)

Die nationale Frage ist kein Hirngespinst der kapitalistischen Moderne. Nichtsdestotrotz war es die kapitalistische Moderne, welche die nationale Frage der Gesellschaft aufgezwungen hat. Die Nation hat die religiöse Gemeinschaft ersetzt. Allerdings muss der Übergang zu einer nationalen Gesellschaft gemeinsam mit der Überwindung der kapitalistischen Moderne erfolgen, wenn die Nation nicht der Deckmantel repressiver Monopole bleiben soll.

So negativ die Überbewertung der nationalen Kategorie im Mittleren Osten ist, so ernst wären die Konsequenzen einer Vernachlässigung des kollektiven nationalen Aspekts. Daher sollte dieses Thema nicht ideologisch, sondern mit wissenschaftlichen Methoden behandelt werden und nicht nationalstaatlich, sondern auf der Grundlage des Konzepts der demokratischen Nation und des demokratischen Kommunalismus. Eine derartige Vorgehensweise birgt in sich die zentralen Elemente der demokratischen Moderne.

In den vergangenen zwei Jahrhunderten ist der Nationalismus in den Gesellschaften des Mittleren Ostens geschürt worden. Die nationalen Fragen sind nicht gelöst, sondern vielmehr in allen gesellschaftlichen Bereichen verschärft worden. Statt produktiven Wettbewerb zu betreiben, erzwingt das Kapital im Namen des Nationalstaats Kriege und Bürgerkriege.

Kommunalismus wäre eine Alternative zum Kapitalismus. Unter demokratischen Nationen, die nicht um Machtmonopole kämpfen, kann er in einer Region, die bisher nur das Feld blutiger Kriege und Völkermorde gewesen ist, den Frieden bringen.

In diesem Zusammenhang können wir von vier Mehrheitsnationen sprechen: Araber, Perser, Türken und Kurden. Ich möchte Nationen nur ungern in Mehr- und Minderheiten einteilen, weil ich dies unangemessen finde. Aus demografischen Überlegungen heraus werde ich den Begriff Mehrheitsnationen jedoch verwenden. Im selben Kontext können wir auch von nationalen Minderheiten sprechen.

1. Es gibt mehr als zwanzig arabische Nationalstaaten, die die arabische Gemeinschaft spalten und ihren Gesellschaften durch Kriegführung schaden. Das ist einer der Hauptfaktoren, der für die Entfremdung von kulturellen Werten und die scheinbare Aussichtslosigkeit in der nationalen arabischen Frage verantwortlich ist. Diese Nationalstaaten sind noch nicht einmal in der Lage gewesen, eine länderübergreifende Wirtschaftsgemeinschaft zu bilden. Sie sind der Hauptgrund für die problematische Situation der arabischen Nation. Ein religiös motivierter Stammesnationalismus zusammen mit einer sexistischen patriarchalen Gesellschaft durchdringt alle Gesellschaftsbereiche und führt zu ausgeprägtem Konservatismus und Kadavergehorsam. Niemand glaubt, dass die Araber in der Lage sein werden, eine arabische nationale Lösung für ihre inneren und länderübergreifenden Probleme zu finden. Allerdings könnten Demokratisierung und ein kommunalistischer Denkansatz eine solche Lösung bieten. Ihre Schwäche gegenüber Israel, das die arabischen Nationalstaaten als einen Konkurrenten ansehen, ist nicht nur auf internationale Unterstützung durch die Hegemonialkräfte zurückzuführen, sie ist vielmehr das Ergebnis starker demokratischer und kommunaler Institutionen innerhalb Israels. Im Laufe des letzten Jahrhunderts ist die Gesellschaft der arabischen Nation durch radikalen Nationalismus und Islamismus geschwächt worden. Das Wesen einer kommunalistischen Gesellschaft ist trotzdem nicht ganz unbekannt. Es sind dort noch immer Reste einer natürlichen Gesellschaft lebendig. Zusammen mit einem demokratisch-nationalen Bewusstsein mag es auf lange Sicht Wege zur Befreiung geben. Wenn sie es schaffen, kommunalen Sozialismus, der ihnen nicht fremd ist, mit dem Verständnis von einer demokratischen Nation zu verbinden, dann können sie in der Lage sein, eine sichere, langfristige Lösung für sich zu finden.

2. Die Türken und Turkmenen bilden eine weitere einflussreiche Nation. Sie teilen mit den Arabern ein ähnliches ideologisches Machtverständnis. Sie sind strikte Etatisten und tief geprägt von einem religiösen und rassischen Nationalismus. Aus soziologischer Sicht sind Türken und Turkmenen ziemlich unterschiedlich. Die Beziehungen zwischen Turkmenen und der türkischen Elite gleichen den gespannten Beziehungen zwischen Beduinen und arabischer Elite. Erstere bilden eine Schicht, deren Interessen mit Demokratie und Kommunalismus vereinbar sind. Die nationalen Probleme sind recht komplex.

Es herrschen das Machtstreben des Nationalstaates, ausgeprägter Nationalismus und eine sexistische patriarchale Gesellschaft, wodurch sich eine äußerst konservative Gesellschaft ergibt. Die Familie gilt als die kleinste Zelle des Staates. Individuen wie Institutionen haben diese Perspektive übernommen. Türkische und turkmenische Gemeinschaften führen einen Machtkampf. Andere ethnische Gruppen sind einer ausgesprochenen Unterwerfungspolitik ausgesetzt. Die zentralistischen Machtstrukturen des türkischen Nationalstaates und die rigide offizielle Ideologie haben bis heute eine Lösung der kurdischen Frage verhindert. Die Gesellschaft wird in den Glauben versetzt, es gäbe keine Alternative zum Staat. Es besteht kein Gleichgewicht zwischen dem Individuum und dem Staat. Gehorsamkeit gilt als die größte Tugend.

Im Gegensatz dazu bietet die Theorie der demokratischen Moderne allen nationalen Gemeinschaften in der Türkei eine angemessene Herangehensweise zur Lösung ihrer nationalen Probleme an. Das auf der Gemeinschaft basierende Projekt einer demokratischen türkischen Konföderation würde sowohl ihre innere Einheit stärken als auch die Voraussetzungen für eine friedliche Koexistenz mit den Nachbarn schaffen. In Bezug auf gesellschaftliche Zusammengehörigkeit haben Grenzen ihre frühere Bedeutung verloren. Ungeachtet geografischer Grenzen ermöglichen heutige moderne Kommunikationsmittel eine virtuelle Einheit zwischen Individuen und Gemeinschaften, wo immer sie sich auch befinden. Eine demokratische Konföderation der türkischen nationalen Gemeinschaften könnte einen Beitrag zum Weltfrieden und zum System der demokratischen Moderne darstellen.

3. Die kurdische nationale Gesellschaft ist überaus komplex. Die Kurden sind weltweit die größte Nation ohne einen eigenen Staat. Sie haben sich seit dem Neolithikum in ihren heutigen Siedlungsgebieten niedergelassen. Landwirtschaft und Viehzucht wie auch ihr Vermögen, sich unter Ausnutzung der geografischen Vorteile ihrer gebirgigen Heimat zu verteidigen, halfen ihnen, als autochthones Volk zu überleben. Die kurdische nationale Frage erwächst aus der Tatsache, dass ihnen ihr Recht auf Souveränität verweigert worden ist. Andere versuchten sie zu assimilieren, zu vernichten und verleugneten schließlich rundweg ihre Existenz. Keinen eigenen Staat zu haben, hat seine Vor- und Nachteile. Die Auswüchse staatlicher Kulturen sind nur begrenzt übernommen worden. Dies kann nützlich sein bei der Realisierung alternativer gesellschaftlicher Konzepte jenseits der kapitalistischen Moderne. Ihr Siedlungsgebiet wird durch die nationalen Grenzen von vier Staaten geteilt und liegt in einer geostrategisch wichtigen Region, was den Kurden einen strategischen Vorteil bietet. Sie haben keine Chance, mithilfe von Staatsmacht eine nationale Gesellschaft zu bilden. Zwar gibt es heute ein kurdisches politisch eigenständiges Gebilde in Irakisch-Kurdistan, dabei handelt es sich aber nicht um einen Nationalstaat, vielmehr um ein halbstaatliches Gebilde.

Kurdistan war auch armenischen und aramäischen Minderheiten zur Heimat geworden, bevor sie Genoziden zum Opfer fielen. Außerdem gibt es kleinere Gruppen Araber und Türken. Selbst heute noch leben dort viele verschiedene Religionen und Glaubensrichtungen nebeneinander. Dort besteht ebenfalls in Ansätzen eine Klan- und Stammeskultur, dabei fast keine städtische Kultur.

Alle diese Eigenschaften sind ein Segen für die Bildung demokratischer politischer Formationen. Kommunale Genossenschaften in der Landwirtschaft wie auch in der Wasserwirtschaft und auf dem Energiesektor bieten sich als ideale Produktionsweise an. Die Situation ist auch für die Entwicklung einer moralischpolitischen Gesellschaft von Vorteil. Selbst die patriarchale Ideologie ist hier weniger tief verwurzelt als in den benachbarten Gesellschaften. Dies ist für die Etablierung einer demokratischen Gesellschaft, in der Freiheit und Gleichberechtigung der Frauen eine der tragenden Säulen zu bilden haben, von Vorteil. Es bietet außerdem die Voraussetzungen für die Schaffung einer demokratischen, umweltfreundlichen Nation in Einklang mit dem Paradigma der demokratischen Moderne. Der Aufbau einer auf multinationalen Identitäten beruhenden demokratischen Nation ist angesichts der Sackgasse Nationalstaat die ideale Lösung. Die entstehende Einheit könnte zu einer Blaupause für den gesamten Mittleren Osten werden und sich dynamisch auf Nachbarstaaten ausbreiten. Wenn die benachbarten Nationen von diesem Modell überzeugt werden, wird dies das Schicksal des Mittleren Ostens verändern und die Chancen der demokratischen Moderne, eine Alternative zu schaffen, erhöhen. In diesem Sinne wären also die Freiheit der Kurden und die Demokratisierung ihrer Gesellschaft gleichbedeutend mit der Freiheit der ganzen Region und ihrer Gesellschaften.

4. Die Gründe für die heutigen Probleme der persischen oder iranischen Nation sind auf die Interventionen der historischen Kulturen und der kapitalistischen Moderne zurückzuführen. Obwohl ihre ursprüngliche Identität Ergebnis der zoroastrischen und der mithraischen Tradition war, sind diese von einer Variante des Islam ausgelöscht worden. Der als die Synthese von Judaismus, Christentum und Zoroastrismus mit griechischer Philosophie hervorgegangene Manichäismus konnte sich nicht gegen die Ideologie der offiziellen Kultur durchsetzen. Tatsächlich gelang es ihm lediglich, die Tradition der Rebellion zu nähren. In jüngerer Zeit wurde die islamische Tradition in das schiitische Glaubensbekenntnis umgewandelt so als jüngste zivilisatorische Ideologie adaptiert. Gegenwärtig gibt es Modernisierungsbestrebungen, indem die Elemente der kapitalistischen Moderne durch ihren schiitischen Filter gepresst werden.

Die iranische Gesellschaft ist multi-ethnisch und multi-religiös und mit einer reichen Kultur gesegnet. Alle nationalen und religiösen Identitäten des Mittleren Ostens sind dort zu finden. Diese Vielfalt steht in starkem Kontrast zum Hegemonieanspruch der Theokratie, die einen subtilen religiösen Nationalismus pflegt. Zudem scheut sich die herrschende Klasse nicht vor anti-modernistischer Propaganda, wann immer sie ihren Interessen dient. Revolutionäre und demokratische Tendenzen sind von der traditionellen Zivilisation integriert worden. Ein despotisches Regime regiert das Land geschickt. Die negativen Auswirkungen der amerikanischen und europäischen Sanktionen sind in diesem Zusammenhang nicht ganz unwesentlich.

Trotz starker zentralistischer Anstrengungen im Iran existiert bereits eine Art Föderalismus von unten. Wenn Elemente demokratischer Zivilisation und föderalistische Elemente einschließlich Azeris, Kurden, Belutschen, Arabern und Turkmenen einander überschneiden, kann das Projekt einer »Demokratischen Föderation des Iran« daraus hervorgehen und an Attraktivität gewinnen. Frauenbewegung und kommunale Traditionen werden hier eine besondere Rolle spielen.

5. Die armenische nationale Frage beinhaltet eine der größten Tragödien, die der Vormarsch der kapitalistischen Moderne im Mittleren Osten mit sich gebracht hat. Die Armenier sind ein sehr altes Volk. Sie teilten einen Großteil ihres Siedlungsgebietes mit den Kurden. Während diese in erster Linie von Landwirtschaft und Viehzucht lebten, befassten sich die Armenier mit Kunstgewerbe und Handwerk. Ebenso wie die Kurden entwickelten auch sie eine Tradition der Selbstverteidigung. Abgesehen von einigen kurzen Phasen gründeten die Armenier nie erfolgreich einen Staat. Sie stützen sich auf die christliche Kultur, die ihnen ihre Identität und ihren Glauben an eine Erlösung gibt. Aufgrund ihrer Religion wurden sie oft vonseiten der muslimischen Mehrheit unterdrückt. Deshalb trug der entstehende Nationalismus in der armenischen Bourgeoisie Früchte. Bald gab es Differenzen mit den türkischen Nationalisten, die schließlich im Völkermord der Türken an den Armeniern endeten.

Nach den Juden sind die Armenier die zweitgrößte Volksgruppe, die vor allem in der Diaspora lebt. Die Gründung eines armenischen Staates westlich von Aserbaidschan löste jedoch die armenische nationale Frage nicht. Die Folgen des Genozids können kaum in Worte gefasst werden. Die Suche nach der verlorenen Heimat bestimmt ihre nationale Psyche und bildet den Kern der armenischen Frage. Das Problem wird durch die Tatsache verschärft, dass diese Gebiete seitdem von anderen Volksgruppen besiedelt worden sind. Kein nationalstaatsbasiertes Konzept kann eine Lösung anbieten. Es gibt dort weder eine homogene

Bevölkerungsstruktur noch irgendwelche klaren Grenzen, wie sie die kapitalistische Moderne verlangt. Die Ansichten ihrer Gegner mögen faschistisch sein, doch es reicht nicht aus, nur den Völkermord in Erinnerung zu rufen. Konföderale Strukturen könnten für die Armenier eine Alternative sein. Die Gründung einer demokratischen armenischen Nation im Einklang mit dem Paradigma der demokratischen Moderne verspricht ihnen eine Gelegenheit, sich neu zu definieren. Es könnte ihnen ermöglichen, wieder ihren Platz in der kulturellen Vielfalt des Mittleren Ostens einzunehmen. Im Falle, dass sie sich als armenische demokratische Nation erneuern, werden sie nicht nur weiterhin ihre Rolle innerhalb der mittelöstlichen Kultur spielen, sondern auch den richtigen Weg zur Befreiung finden.

6. In der Moderne erlitten die christlichen Aramäer dasselbe Schicksal wie die Armenier. Auch sie sind eines der ältesten Völker im Mittleren Osten. Sie teilten sich ein Siedlungsgebiet nicht nur mit den Kurden, sondern auch mit anderen Volksgruppen. Wie die Armenier litten sie unter der Unterdrückung durch die muslimische Mehrheit, was innerhalb der aramäischen Bourgeoisie einem Nationalismus europäischer Prägung der Weg ebnete. Letzten Endes fielen auch die Aramäer einem Genozid von türkischer Hand unter Führung des faschistischen Komitees für Einheit und Fortschritt zum Opfer. Kollaborierende Kurden hatten dabei ihre Hand im Spiel. Die nationale Frage der aramäischen Gesellschaft hat ihre Wurzeln in der Zivilisierung, hat sich aber auch mit dem Christentum und den Ideologien der Moderne weiter entwickelt. Für eine Lösung bedarf es einer radikalen Transformation der Aramäer. Ihre wirkliches Heil liegt vielleicht darin, mit der Mentalität der klassischen Zivilisation und der kapitalistischen Moderne zu brechen, sich stattdessen die demokratische Zivilisation zu eigen zu machen und ihre reichhaltige kulturelle Erinnerung als ein Element demokratischer Moderne zu erneuern, um sich selbst als »Aramäische Demokratische Nation« zu rekonstruieren.

7. Die Geschichte der Juden bringt ebenso die im Ganzen problematische Kulturgeschichte des Mittleren Ostens zum Ausdruck. Die Suche nach dem Hintergrund von Vertreibung, Pogromen und Völkermord läuft auf die Abrechnung mit der Zivilisation hinaus. Die jüdische Gemeinschaft hat die Einflüsse der alten sumerischen und ägyptischen Kulturen genauso wie die der regionalen Stammeskulturen aufgenommen. Sie hat eine Menge zur Kultur des Mittleren Ostens beigesteuert. Wie die Aramäer auch fielen sie extremen Entwicklungen der Moderne zum Opfer. Vor diesem Hintergrund entwickelten jüdischstämmige Intellektuelle eine komplexe Sicht auf diese Fragen. Allerdings ist das bei weitem nicht ausreichend. Für eine Lösung der Probleme, wie sie sich heute darstellen, bedarf es einer erneuten Aneignung der Geschichte des Mittleren Ostens auf einer demokratischen Grundlage. Der israelische Nationalstaat befindet sich seit seiner Gründung im Krieg. Die Parole lautet: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Feuer kann aber nicht mit Feuer bekämpft werden. Selbst wenn Israel dank internationaler Unterstützung relative Sicherheit genießt, ist dies keine nachhaltige Lösung. Nichts wird dauerhaft sicher sein, solange die kapitalistische Moderne nicht überwunden ist.

Der Palästina-Konflikt macht deutlich, dass das nationalstaatliche Paradigma nicht hilfreich ist für eine Lösung. Es ist sehr viel Blut vergossen worden; was bleibt, ist das schwere Erbe scheinbar unlösbarer Probleme. Das israelisch-palästinensische Beispiel beweist das völlige Versagen der kapitalistischen Moderne und des Nationalstaates.

Die Juden gehören zu den Kulturträgern des Mittleren Ostens. Die Verweigerung ihres Existenzrechts ist ein Angriff auf den Mittleren Osten als solchen. Ihre Umwandlung in eine demokratische Nation ebenso wie für Armenier und Aramäer würde ihre Beteiligung an einer demokratischen Konföderation des Mittleren Ostens erleichtern. Das Gemeinschaftsprojekt einer »Levantinischen Demokratischen Konföderation« wäre ein positiver Anfang. Strikte und exklusive nationale und religiöse Identitäten können sich unter diesem Projekt zu flexiblen und offenen Identitäten entwickeln. Vielleicht entwickelt sich auch Israel zu einer akzeptableren, offenen demokratischen Nation. Zweifellos müssen sich aber auch seine Nachbarn einer solchen Transformation unterziehen.

Spannungen und bewaffnete Konflikte im Mittleren Osten lassen eine Transformation des Paradigmas der Moderne unabwendbar erscheinen. Ohne sie ist eine Lösung der schwierigen gesellschaftlichen Probleme und nationalen Fragen unmöglich. Die demokratische Moderne bietet eine Alternative zu dem zur Problemlösung unfähigen System.

8. Die Vernichtung der hellenischen Kultur in Anatolien ist ein unwiederbringlicher Verlust. Die von den türkischen und griechischen Nationalstaaten im ersten Viertel des letzten Jahrhunderts vereinbarte ethnische Säuberung hat ihre Spuren hinterlassen. Kein Staat hat das Recht, Menschen aus ihrem angestammten Kulturraum zu vertreiben. Dennoch bewiesen die Nationalstaaten immer wieder ihre unmenschliche Haltung in solchen Fragen. Die Angriffe auf die hellenische, jüdische, aramäische und armenische Kultur wurden verstärkt, während sich der Islam überall im Mittleren Osten ausbreitete. Dies wiederum trug zum Niedergang der mittelöstlichen Zivilisation bei. Die islamische Kultur war nie in der Lage, die entstandene Lücke zu füllen. Als die kapitalistische Moderne im 19. Jahrhundert in den Mittleren Osten vordrang, fand sie eine durch selbst zugefügte kulturelle Erosion geschaffene kulturelle Wüste vor. Kulturelle Vielfalt stärkt auch die Abwehrmechanismen einer Gesellschaft. Monokulturen sind weniger robust. Deshalb war die Eroberung des Mittleren Ostens nicht schwer gewesen. Das Projekt einer homogenen Nation, wie von den Nationalstaaten propagiert, förderte ihren kulturellen Niedergang.

9. Genauso haben die kaukasischen Volksgruppen nicht unerhebliche gesellschaftliche Probleme. Immer wieder sind sie in den Mittleren Osten eingewandert und stimulierten seine Kulturen. Sie haben fraglos einen Beitrag zu seinem kulturellen Reichtum geleistet. Das Auftauchen der Moderne ließ diese Minderheitenkulturen beinahe verschwinden. Auch sie würden ihren angemessenen Platz in einer konföderalen Struktur finden.Abschließend möchte ich noch einmal festhalten, dass die fundamentalen Probleme des Mittleren Ostens tief in der Klassengesellschaft verwurzelt sind. Sie haben sich mit der globalen Krise der kapitalistischen Moderne verschärft. Diese Moderne und ihr Anspruch auf Vorherrschaft können keinerlei Lösung bieten, ganz zu schweigen von einer langfristigen Perspektive für die Region des Mittleren Ostens. Die Zukunft gehört dem Demokratischen Konföderalismus.

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Abdullah Öcalan: Demokratischer Konföderalismus
1. Auflage 2012 / ISBN: 978-3-941012-48-6

Erscheint in der International Initiative Edition im Mesopotamien-Verlag, Neuss

Internationale Initiative »Freiheit für Abdullah Öcalan – Frieden in Kurdistan«
Postfach 100511
50445 Köln
www.freedom-for-ocalan.com

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