Reform und gesellschaftliche Wende in der Türkei

turkei lupe1Abdullah Öcalan über das Verhältnis zwischen Staat und Parteien in der Türkei. 12.05.2018

Der Staat betrachtet alle gesellschaftlichen Probleme aus der Perspektive der Sicherheit. (…) Auch die Ära der Republik ist in erster Linie von militärischer Führung geprägt. So, wie die Republik durch Krieg gegründet wurde, sollten sich auch alle folgenden grundlegenden politischen und sozialen Institutionen unter der strengen Kontrolle des Militärs realisieren. Diese Tatsache spielt im Verhältnis der Türken zum Staat eine dominantere Rolle als bei anderen Ländern, Völkern oder Nationen. Es ist, als sei der Etatismus den Türken in Fleisch und Blut übergegangen und nicht nur auf die Kaste der Staatslenker und Bürokraten beschränkt. Keine Gruppe der Gesellschaft kann mehr ohne ihn auskommen. Wie man nicht ohne Allah leben kann, kann man auch nicht ohne Staat leben – so die gängige Überzeugung. Je stärker und gewalttätiger der Staat ist, desto höher die subjektive Sicherheit. Schwäche oder Zusammenbruch des Staates bedeutet für sie selbst Vernichtung und Tod. Sie mögen damit etwas übertreiben, aber es gibt handfeste historisch-gesellschaftliche Gründe für dieses Denken. Da die Türken niemals Macht von innen heraus aufgebaut, sondern stets anderen entrissen haben, fürchten sie stets, sie auch durch andere wieder zu verlieren. Dies kann zu allen möglichen Arten von Massakern und Vernichtung führen. Insofern wird verständlich, warum wir dieses Verhältnis als eine historisch-dialektische Tatsache erwähnen.

Weil die Republik sowohl auf dieser Kultur aufbaut als auch selbst infolge eines Krieges gegen die Besatzungsmächte nach dem ersten Weltkrieg entstanden ist, wird für sie selbst und die Gesellschaft Sicherheit immer höchste Priorität haben. Insofern unterscheidet sich ihre Entwicklung von derjenigen westlicher Gesellschaften in vielen Punkten. Viele Gemeinschaften haben dort ihre Existenz nicht durch Krieg, sondern vielmehr durch ihre Gegenwehr gegen den Krieg-Macht-Komplex behauptet. Ständig haben sie versucht, die Krieg führenden Mächte einzuschränken. Diese Kultur erleichtert die Entstehung von Zivilgesellschaft und Demokratie. Sie räumt den Menschenrechten Priorität ein. Dennoch ist die Tradition von Krieg und Macht für die gesellschaftlichen Verhältnisse entscheidend. Der Unterschied liegt in der Intensität und im philosophischen Verständnis. Bei den Türken wird der Staat sowohl sehr intensiv erlebt, als auch philosophisch-religiös überhöht. Daher wird jedes Verhalten, das eine Einschränkung für den Staat bedeuten könnte – Zivilgesellschaft, Menschenrechte und sogar universelle rechtliche und politische Normen – als Bedrohung des Staates wahrgenommen. Im Grunde ist das Vertrauen in die Demokratie immer noch schwach ausgeprägt. Vielmehr überwiegt die Furcht, sie werde den Staat schwächen und zum Einsturz bringen. Selbst das pseudodemokratische Spiel zweier oligarchischer Parteien versuchte man seit 1945 vollständig zu kontrollieren. Demokratie wird als Gefahr für den Staat gedacht. Deshalb fehlt es nie an strengster Kontrolle.

Der staatsfixierte Blick auf die Gesellschaft ist in jeder Institution spürbar. Der Staat, insbesondere das Militär gelten immer noch als die einzig möglichen Garanten für gesellschaftlichen Fortschritt und persönlichen Aufstieg. Einer staatlichen Institution anzugehören ist demnach sowohl eine Ehre als auch der sicherste Weg, ein Auskommen zu finden. Offenbar können sich in einer derart staatsfixierten Gesellschaft Selbstvertrauen und Kreativität kaum entfalten. Eine Gesellschaft, die sich im Namen des Staates geradezu selbst vergisst und für unwürdig erachtet, ist natürlich nicht in der Lage, eine Zivilgesellschaft, Recht, wirtschaftliche Stärke und kreative politische Institutionen zu schaffen. Diese Haltung der Türken zum Staat hat ihre schlimmsten Auswirkungen in Krisenzeiten. Wenn der Staat in eine Krise gerät, gilt das als Katastrophe, da keine andere Kraft für eine Lösung in die Bresche springt. Man hält dies für den Moment der Entscheidung zwischen Leben und Tod. Dabei ist es sowohl für Staat als auch für die Gesellschaft ein Kriterium der Modernität, nicht alles vom Staat zu erwarten und den Staat so zu begrenzen, dass er keine Last darstellt. Die Effizienz Europas beruht unter anderem darauf, dass dort das Staatsverständnis in diesem Sinne korrigiert wurde.

Dem Problem des Verhältnisses zwischen Staat und Parteien müssen wir uns gesondert widmen, da es noch verheerender ist. Alle Parteien beruhen ausnahmslos auf einer bewussten oder objektiven Staatsfixierung. Dadurch, dass sie wie die Gesellschaft dem Staat Priorität einräumen, verlieren sie von vornherein ihre Funktion. Aufgabe der Parteien müsste in erster Linie sein, als Institutionen die Forderungen des Staates und die der Gesellschaft auszubalancieren, dabei durchgängig der Gesellschaft Priorität einzuräumen, ihr Bewusstsein zu fördern und sie zu organisieren. Stattdessen erwarten die politischen Parteien in der Türkei stets vom Staat entweder die Revolution, oder sie suchen seine politische Unterstützung. Meist betrachten sie den Staat jedoch als Einnahmequelle. Zwar sind Parteien für Demokratien unverzichtbare Elemente, diese Herangehensweise verleiht den Parteien aber von vornherein einen antidemokratischen Charakter. So werden sie geradezu zu einem zweiten, einem Schattenstaat. Als ob ein Staat nicht reichen würde, ist jede Partei ein Miniaturstaat. Jeder Parteipolitiker hält sich für einen Staatsmann. Indem sie sich und ihre Umgebung durch den Staat ernähren, erhöhen sie den Einfluss des Staates weiter und vergrößern so den Schaden, den er anrichtet. Vielleicht ist in keinem anderen Land die Tradition der „Staatsparteien“ so stark verinnerlicht wie in der Türkei. Dass sie den Staat ins Zentrum aller Werte stellen, macht die Parteien blind dafür, Politik zu produzieren, eine Wirtschaftspolitik zu entwickeln, die Demokratie zu fördern und zu stärken und der Gesellschaft zumindest so viele Lösungsansätze wie der Staat zu präsentieren. Daher werden sie sowohl für den Staat als auch für die Gesellschaft unbrauchbar. Weil sich auch die Bevölkerung dieser Situation bewusst ist, straft sie jede Partei, die den Staat retten will, an der Wahlurne gnadenlos ab.

Die Parteien lösen keine Krise, sondern sind zu Instrumenten geworden, um Krisen zu vertiefen. Dieser Charakter der Parteien war eine der Hauptursachen dafür, dass sich in der Türkei nach dem II. Weltkrieg die Demokratie nicht nach zeitgenössischen Maßstäben entwickelte. Das Fehlen einer demokratischen Kultur führte dazu, dass die Gesellschaft alles vom Staat erwartete. Der Etatismus der Parteien, den sie nur in der Opposition vorübergehend aufgeben, ist auch für die politischen und wirtschaftlichen Krisen der Gegenwart ursächlich. Dies gilt auch für die CHP, die einst die Republik gegründet hat, heute politisch in der Klemme ist und keine wirkungsvolle Oppositionspolitik betreibt. Diese Situation rührt daher, dass sie insbesondere gegenüber der PKK und davor gegen revolutionäre linke Bewegungen freiwillig die Politik des Staates verteidigt hat. Dass sie keine auf die Probleme bezogene Politik entwickelt hat, sondern es vorzog, als Agitationskolonne des Staates zu fungieren, hat sowohl sie selbst als auch den Staat in die Sackgasse geführt und die Probleme zu einem riesigen Berg anwachsen lassen.

Die deutlichsten Auswirkungen dieser Entstehungs-und Funktionsweise des Staates bei den Türken zeigen sich gegenüber den Kurden und der kurdischen Frage. Wer den Staat verstehen will, muss die Situation der Kurden und die kurdische Frage betrachten, da sie die wichtigsten Symptome darstellen. Der Staat nimmt jeglichen Unterschied, jede Artikulation der Problematik der Kurden einzig als Sicherheitsrisiko wahr. Er erklärt sie also für nicht existent, oder aber nimmt sie bei der kleinsten Forderung nach Freiheit als beängstigende Gefahr wahr, die sofort ausgemerzt werden muss.

Dieser Herangehensweise des Staates liegt die Ausweglosigkeit der nationalistischen Ideologie zugrunde. Wenn er nicht mit dem Nationalismus infiziert wäre, müsste er der kurdischen Realität nicht auf diese Weise begegnen. Wie wir bei der historischen Betrachtung gesehen haben, überwiegt in der Bevölkerung eigentlich die Tendenz zu einem partnerschaftlichen Zusammenleben. Die Haltung der Kurden zum Staat unterscheidet sich zwar von derjenigen der Türken, jedoch sind auch sie geneigt, den Staat als gemeinsames Instrument der Verteidigung gegen äußere Bedrohungen zu akzeptieren. Dies haben wir in der osmanischen Zeit und in den Gründungsjahren der Republik gesehen. Die nationalistische Auffassung, die nur eine Geschichte, eine Sprache, eine Nation und einen Staat kennt, führte gemeinsam mit den Aufständen als einem Faktor dazu, dass für die Kurden nur eine erzwungene Assimilierung übrig blieb. Sie wurden von der ökonomischen, sozialen und politischen Entwicklung des Systems ausgeschlossen und zur Gefahr in jeder Hinsicht erklärt. Als bester Kurde galt ein toter Kurde. Selbst eine Lösung, die hundertprozentig zum Vorteil der Türken wäre, könnte sie nicht von dieser Gefahrenwahrnehmung befreien. Die kleinste Regung der Kurden, jede soziale und politische Forderung wurde als „Separatismus“ abgestempelt. Diese Herangehensweise hat mit Wissenschaftlichkeit oder Moderne nichts zu tun, sie wäre sogar im Mittelalter ein Anachronismus gewesen. Es handelt sich um puren Nationalismus, der noch die kleinste Unterschiedlichkeit entweder als Gefahr oder als Anlass zur Assimilation betrachtet. Daher kann sich der Staat keine andere Lösung vorstellen, als mit allen militärischen, politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Mitteln zu kämpfen. Seit der Entstehung der kurdischen Freiheitsbewegung unter der Führung der PKK verinnerlichten sowohl die Linke als auch die Rechte, der Staat und die Gesellschaft diese Politik als ein heiliges Ziel. Unter der Parole der „nationalen Einheit“ wurden selbst durch und durch demokratische Initiativen bezüglich der Forderungen der Gegenseite als Separatismus gebrandmarkt. Dazu kam noch die sogenannte „Anti-Terror-Politik“. Im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts wurde alles in der Politik und sämtliche Ressourcen des Staates daran gesetzt, die PKK als terroristisch zu deklarieren. Das Ergebnis war die Krise und das Chaos, in das die Türkei ab den neunziger Jahren geriet. Die totale Mobilmachung wurde ausgerufen, das Recht wurde mit Füßen getreten. Die Wirtschaft versank im Schuldensumpf. Die Politik insgesamt wurde auf ein Instrument der Sicherheitspolitik reduziert. Der Aufbau eines Dorfschützerwesens und die Förderung der Bruderschaften ließ bei den Kurden das Stammeswesen und die tariqat wieder erstarken. Die Unterstützung für die primitiv nationalistischen Gruppen in Südkurdistan führte gar dazu, dass sie einen kurdischen Bundesstaat erhielten. Kurdische Nakschibendi-Scheichs bekamen einen Platz im Herzen des Staates. Die wichtigsten Institutionen der Republik wurden so an Gegner der Republik ausgeliefert. Das kann man nicht einmal mehr einen Pyrrhussieg nennen, es ist nichts anderes als der Bankrott der nationalistischen Politik. Mit dem neuen Greater Middle East Project der USA ist man wieder am Anfang angelangt. Die Türkei sieht sich vor die Alternative gestellt, entweder mit den Kurden zu kooperieren oder ausgebremst zu werden.

Bei dem Text handelt es sich um einen Auszug aus “Jenseits von Staat, Macht und Gewalt” von Abdullah Öcalan.

Seit vielen Jahren versucht Abdullah Öcalan, günstigere Bedingungen für eine friedliche, politische Lösung des Konflikts in der Türkei herbeizuführen. Jahrelang führte er mit der türkischen Regierung Gespräche über eine Lösung. 2009 legte er seine »Roadmap für den Frieden« vor. 2013 stoppte sein Aufruf zum Rückzug der Guerilla effektiv den bewaffneten Konflikt in der Türkei. Öcalan ist seit seiner Entführung 1999 auf der türkischen Insel Imrali völlig von der Außenwelt abgeschnitten. 11 Jahre lang war er der einzige Häftling auf der Insel – bewacht von mehr als 1000 Soldaten. Seit Ende Juli 2011 hat Öcalan mit keinem Anwalt sprechen können. Öcalan hält so den »Europa-Rekord« für Haft ohne Zugang zu Anwälten. Seit April 2015 befindet er sich faktisch in Totalisolation. Diese Zustände machen Imrali zum schlimmsten der ohnehin berüchtigten türkischen Gefängnisse. Die weltweite Kampagne für Öcalans Freiheit hat 10,3 Millionen Unterschriften gesammelt. Das Time-Magazine kürte ihn 2013 zu einer der 100 weltweit einflussreichsten Persönlichkeiten. Er ist Autor zahlreicher Bücher.