Roadmap für die Demokratisierung der Türkei und die Lösung der kurdischen Frage

die-roadmap-fuer-verhandlungenDie Internationale Initiative veröffentlicht eine Kurzfassung der lange erwarteten »Roadmap« Abdullah Öcalans:

Verfasst wurde das Dokument als Teil einer schriftlichen Eingabe Abdullah Öcalans an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in einem seiner dort anhängigen Beschwerdeverfahren. Die türkischen Behörden beschlagnahmten es illegal im August 2009 und leiteten es achtzehn Monate lang nicht an das Gericht weiter. Das Gericht jedoch bestand vehement auf der Aushändigung, da die türkischen Behörden kein Recht haben, dem Gerichtshof derartige Dokumente vorzuenthalten oder sie gar zu lesen.
Gelesen haben sie diese Eingabe zweifellos. Die Gespräche mit Abdullah Öcalan begannen, nachdem die türkische Seite seine Vorschläge eingehend geprüft hatte. Im August 2010 bestätigte die Regierung offiziell, dass Gespräche stattfinden. Es erscheint nicht übertrieben, zu behaupten, dass die »Roadmap« das Dokument war, welches sie in Gang setzte.

Wir veröffentlichen hier eine Leseprobe. Das wichtige Schriftstück für einen gerechten Frieden ist auf der Internetseite: http://www.freedom-for-ocalan.com zu finden.

(…)
1- Der traditionelle Plan von Verleugnung und Vernichtung
In dieser Richtung gibt es immer noch Pläne, die auch umgesetzt werden – wenn auch nicht in der gleichen Zahl und Intensität wie früher. Die dahinter stehenden Kreise stammen aus der bürgerlichen Mittelklasse, die von staatlichen Profiten lebt, und der Bürokratie. Zwar sind sie mittlerweile im In- und Ausland reichlich diskreditiert, doch hindert sie das nicht daran, ihre Vernichtungspläne mit mehr oder weniger raffinierten Methoden umzusetzen. Mit Ausnahme der traditionellen kurdischen Kollaborateure stellen sich alle Kurden der Umsetzung dieser Pläne mit einem in der Geschichte nicht dagewesenen Widerstand entgegen. Die PKK als führende Kraft dieses Widerstandes besitzt die Kapazität, auch in Zukunft diesen Plänen eigene Planungen entgegenzustellen. Sie besitzt ein Spektrum von Möglichkeiten, das von passivem über aktiven bis hin zum totalen Widerstand reicht. Sollte in der Zukunft die Entwicklung einer demokratischen Lösung ernsthaft stagnieren, so ist damit zu rechnen, dass ein Plan des totalen Widerstands zur Anwendung kommt.

2 – Der föderalistisch-nationalistische Lösungsplan
Auch dieser Plan wird in verschiedenen Dimensionen und Bereichen umgesetzt. Hinter diesem Plan, den die kurdische Regionalregierung im Irak umsetzt, stehen die traditionellen kolonialistischen Nationalstaaten der Region und die globalen Hegemonialmächte. Sie operieren in einem allgemeinen Konsens, wenngleich sie unterschiedliche Interessen vertreten. Die Unterstützung für diesen Plan bezweckt, das revolutionär-demokratische Potential der Kurden zu verzerren und zu kanalisieren. Die USA sind diejenige Hegemonialmacht, welche die kurdische Regionalregierung am offensten unterstützt. Die Regionalregierung spielt eine strategische Rolle bei der Kontrolle des Irak, Syriens, des Iran und der Türkei. Die Regierungen der Türkei, des Iran und Syriens unterstützen seit dem Zweiten Weltkrieg mit verschiedenen Methoden den Plan eines »Klein-Kurdistan« in einer Ecke des Irak, um den Widerstand der eigenen Kurden zu brechen und ihre Kurdistans auszuschließen. Wo immer die Kurden aus dieser ihnen zugewiesenen Rolle auszubrechen versuchen, stellen sich diese Mächte mit vereinten Kräften dagegen.
Die Politik des »Teile und herrsche« wird vor allem über das »Klein-Kurdistan«-Projekt umgesetzt. Insbesondere die revolutionären, radikaldemokratischen und sozialistischen Kräfte sollen auf diesem Wege unschädlich gemacht werden. Eines der Hauptziele dieses Plans besteht in der Isolation der PKK. Es gibt ein umfangreiches Projekt von GLADIO, welches ein »Klein-Kurdistan « als Gegenleistung gegen die Isolation und Liqudierung der PKK vorsieht. Dieser Plan findet auch breite Unterstützung auf dem internationalen diplomatischen Parkett. Ein Trio aus US-, türkischer und irakischer Regierung plus der kurdischen Regionalregierung versucht im Rahmen dieses Plans momentan, die PKK zum Verzicht auf den bewaffneten Kampf zu bewegen. Wegen der Interessenkonflikte der Beteiligten funktioniert dieser Plan allerdings nicht gut genug und wird nur begrenzt umgesetzt. Da er von weiten Teilen der kurdischen Gesellschaft nicht unterstützt wird, birgt er wenig Hoffnung. Weil er den Interessen einer kleinen Elite dient, wird er zunehmend diskreditiert und seine Akteure isoliert.
Die Reaktion der PKK auf diesen Plan bestand darin, nicht zu kapitulieren, sondern den Widerstand fortzusetzen. Eine Reihe von langjährigen Mitgliedern, die voll von Zweifeln und moralischen und ideologischen Schwächen waren, verließen die Organisation und stellten sich hinter diesen Plan. Der Versuch, daraus eine neue kollaborierende Bewegung zu schaffen, wurde jedoch sofort aufgedeckt und misslang. Da es dem kurdischen Nationalismus wegen seiner traditionellen Schwäche nicht gelingt, einen konsistenten nationalstaatlichen Plan zu entwickeln, sind ihm Korruption und Scheitern geradezu schicksalhaft vorherbestimmt. Diese Kreise hatten ihre ganze Hoffnung auf ein Brechen des Widerstandes der PKK gesetzt. Lange Zeit hatten auch die türkischen Regierungen auf dieselbe Karte gesetzt und auf den kurdischen »Klein-Kurdistan«-Nationalismus gehofft. Ähnlich wie zuvor für Griechen und Armenier sollte für die Kurden ein »Klein-Kurdistan« geschaffen werden. Da die Bedingungen heute jedoch andere sind und durch die Positionierung der PKK der Plan nach hinten losging, wurde die Linie der PKK letztlich gestärkt.

3 – Der demokratische Lösungsplan
Da die beiden genannten Pläne sich als nicht sehr vielversprechend erwiesen und in jeder Hinsicht teuer zu stehen kamen, wandte sich die Republik Türkei Demokratisierungsprojekten zu. Faktoren dafür, dass ein demokratischer Lösungsplan erstmals eine realistische Chance auf Umsetzung besitzt, waren allgemeine demokratische Tendenzen der Gegenwart, Anreize von USA und EU im Rahmen der Harmonisierungsgesetzgebung und die Tatsache, dass Medien, Zivilgesellschaft und Öffentlichkeit größtenteils sowie die Kurden vollständig in diese Richtung tendieren. Trotz des erbitterten Widerstandes der nationalistisch-faschistischen Front, die mittlerweile sehr in die Ecke gedrängt ist, stellen sich die wichtigsten Institutionen des Staates nicht gegen Projekte für eine demokratische Lösung. Sie sind sogar maßgeblich daran beteiligt, dass strukturelle Vorbereitungen dafür getroffen werden, und erhöhen so die Chance auf eine Verwirklichung demokratischer Pläne. Diese neue historische Situation macht es erforderlich, dass beide Seiten mehrere Phasen durchschreiten, damit ein Aktionsplan realisierbar wird. Wenn wir uns nun im Rahmen des demokratischen Lösungsplans einem Aktionsplan zuwenden, so könnten nach einer Übereinkunft der Regierung mit den zentralen Institutionen des Staates über Grundzüge eines demokratischen Lösungsplans und bei Unterstützung der kurdischen Seite und demokratischer Kreise realistische Stufen einer Umsetzung folgendermaßen aussehen:

a – Erste Phase | Die PKK erklärt eine dauerhafte Waffenruhe. In dieser Phase müssen beide Seiten vermeiden, auf Provokationen zu reagieren, die Kontrolle über die eigenen Kräfte verstärken und damit fortfahren, die Öffentlichkeit vorzubereiten.

b – Zweite Phase | Auf Initiative der Regierung und mit Zustimmung des Parlaments wird eine »Wahrheits- und Versöh­ungskommission« gebildet, welche Vorschläge erarbeitet, juris­tische Hindernisse auszuräumen. Beim Aufbau der Kommission wird ein maximaler Konsens aller Seiten angestrebt. Entsprechend den vor dieser Kommission gemachten Geständnissen und Aussagen wird dem Parlament ein Vorschlag für einen Amnestieausschuss unterbreitet. Wenn die gesetzlichen Hindernisse auf diese Weise beseitigt sind, kann die PKK ihre illegalen Strukturen unter der Kontrolle einer Institution, die aus Vertretern der USA, der EU, der UN, der irakisch-kurdischen Regionalregierung und der türkischen Republik gebildet wird, vom Territorium der Türkei zurückziehen. Später können diese Kräfte kontrolliert in verschiedenen Gebieten und Ländern angesiedelt werden. Der kritische Punkt in dieser Phase ist, die Freilassung der politischen Gefangenen aus der PKK und den Rückzug der bewaffneten Kräfte der PKK nach jenseits der Grenze gemeinsam zu planen. Es gilt das Prinzip »das Eine nicht ohne das Andere«.

c – Dritte Phase | Wenn die gesetzlichen und verfassungsmäßigen Grundlagen für eine Demokratisierung gelegt sind, wird kein Raum mehr für einen Griff zu den Waffen bleiben. Diejenigen, die seit vielen Jahren im Exil leben, ausgebürgert wurden oder Flüchtlinge sind, darunter Funktionsträger der PKK, werden anfangen, Schritt für Schritt in die Heimat zurückzukehren. Sobald die Aktivitäten der KCK legalisiert sind, wird es nicht mehr nötig sein, dass die PKK auf dem Territorium der Türkei aktiv ist. Dann wird in jeder Hinsicht auf legale demokratisch-politische, soziale, ökonomische und kulturelle Aktivitäten gesetzt werden.

Meine Situation besitzt für die Realisierung dieses Stufenplans strategische Bedeutung. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Plan ohne mich funktioniert, ist äußerst gering. Daher muss für meine Situation eine vernünftige Lösung gefunden werden.
Diese Überlegungen und Vorschläge hinsichtlich einer demokratischen Lösung und Planung, die in der türkischen Öffentlichkeit und bei der ganz überwiegenden Mehrheit der Kurden intensiv diskutiert und von mir erwartet werden, möchte ich so in Skizzenform vorlegen. Natürlich werde ich auf hier eintreffende Überlegungen und Vorschläge der Parteien hin meine Überlegungen und Vorschläge überdenken, modifizieren und weiterentwickeln.
Nachdem ich diese Skizze einer Roadmap angefertigt habe, liegt nun zweifellos der Großteil der Verantwortung beim Parlament der Türkei, den Repräsentanten der wichtigsten Staatsorgane und vor allem der AKP-Regierung. Sofern ein allgemeiner Konsens entsteht, sollte unverzüglich mit der ersten Stufe begonnen werden. Im gegenteiligen Fall werden die Kurden gezwungen sein, auf die Stufe des »totalen Widerstands für die eigene Existenz und die Freiheit« zu wechseln. Dies ist keine Drohung, ich wünsche mir dies keineswegs. Um dies um jeden Preis zu vermeiden, müssen wir daher alle gemeinsam kurzfris­tige politische Kalkulationen und karrieristische Interessen zurückdrängen und unser Modell und unseren Plan für eine demokratische Öffnung und die Lösung der kurdischen Frage umsetzen.
Wenn das »Modell der demokratischen Öffnung und Lösung der kurdischen Frage«, das den geschichtlichen und aktuellen Gegebenheiten der Türkei entspricht, umgesetzt wird, so bedeutet dies nicht nur einen freieren Fortgang der Geschichte für sie. Es wird auch den Weg freimachen für eine demokratischere, egalitärere und freiere Entwicklung der Völker des Mittleren Ostens. Eine Entwicklung von Elementen der demokratischen Moderne gegen die Besatzung und Kolonisierung der regionalen Kultur durch Elemente der kapitalistischen Moderne wird die Möglichkeit und die notwendige Dynamik mit sich bringen, sie in ein System zu transformieren, das den eigenen historischen Gegebenheiten gerecht wird. Vielleicht wird erstmals die Geschichte nicht mehr als eine Geschichte der Eroberung, Besatzung und Kolonisierung geschrieben werden, sondern als Geschichte einer demokratischen Gesellschaft aus freien und gleichen Individuen.

15. August 2009
Abdullah Öcalan

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