Rojava bereitet sich auf die wirtschaftliche Revolution vor

rojava ekonomiDengir Güneş für Yeni Özgür Politika, 15. April 2016

Seitdem sich die Stadt Kobanê am 19. Juli 2012 vom Baath-Regime befreien konnte, macht die Rojava Revolution weltweit von sich reden. Nun will die Revolution, die seitdem wichtige Fortschritte im militärischen und politischen Bereich machen konnte, auch ihre ökonomischen Fortschritte voran bringen. Trotz des anhaltenden Krieges sind die Aufbauarbeiten für eine kommunale, alternative und gesellschaftlich nachhaltige Wirtschaft im vollen Gange.

Lange Zeit war Rojava aus dem wirtschaftlichen Leben Syriens ausgeschlossen. Deswegen hatten die Menschen der Region in den ersten Jahren der Revolution gerade im ökonomischen Bereich große Schwierigkeiten, etwas Neues aufzubauen. Doch mittlerweile werden selbstbewusste Schritte in Richtung eines Wirtschaftssystems im Sinne der Demokratischen Autonomie getätigt.

Doch der Krieg gegen die Revolution Rojavas wird ganz bewusst auch auf wirtschaftlicher Ebene geführt. Die Menschen Rojavas sind sich dessen bewusst. Aus diesem Grund setzt die Bevölkerung  beim Aufbau der Ökonomie auf ein ähnlich diszipliniertes und vorausdenkendes Handeln wie an der militärischen Front. Denn man ist sich bewusst, dass die politischen Errungenschaften in Zukunft nur gepaart mit funktionierenden ökonomischen Strukturen geschützt werden können.

Der Weg dahin ist allerdings von Schwierigkeiten gekennzeichnet, die sich nicht nur auf den Kriegsbedingungen und das Wirtschaftsembargo gegen Rojava zurückführen lassen. Da gibt es beispielsweise ein Ökonomieverständnis innerhalb der Bevölkerung, das durch die jahrelange Wirtschaftspolitik des Baath-Regimes gekennzeichnet ist. Mit dem Einkommen von einigen Monaten landwirtschaftlicher Arbeit über das Jahr hinweg auszukommen, war das verbreitete Verständnis von Wirtschaft in Rojava, das als Kornkammer Syriens galt. Deswegen ist es eine der größten Herausforderungen für die Ökonomie Rojavas, den Menschen begreifbar zu machen, dass sie auf ihrem eigenen Boden mit ihrer eigenen Arbeit eine Ökonomie aufbauen müssen. Und trotz der Kriegsbedingungen tut sich hier bereits Einiges. Selbst dort, wo Krieg herrscht, wird die Produktion fortgesetzt oder neu organisiert. Von der Industrie bis hin zur Landwirtschaft haben sich bereits unzählige Kooperativen herausgebildet.

Doch auf welchen Grundlagen entsteht das ökonomische System Rojavas? Welche Schritte wurden im Industrie-, Landwirtschafts- und Bausektor bislang getätigt? Wie funktioniert der Transport? Wie sind die Arbeitsbedingungen? Diesen und weiteren ökonomischen Fragen sind wir bei unserer Reise in Rojava nachgegangen und haben uns mit vielen verschiedenen Menschen unterhalten. Leider konzentrieren sich unsere Untersuchungen aufgrund der geographischen Gegebenheiten vor allem auf die Kantone Cizîre und Kobanê. Der Kanton Afrin kommt also etwas zu kurz, was wir zu entschuldigen bitten.

Die Ökonomie Rojavas unter dem Baath-Regime

Eine große Last der ökonomischen Aufbauarbeit stellt die Wiederaneignung der Wirtschaft dar, welche das Regime der Bevölkerung entrissen hatte. Aus diesem Grund lohnt es sich, zunächst einmal einen Blick darauf zu werfen, welche Folgen und Schäden die Wirtschaftspolitik des Baath-Regimes in Rojava hinterlassen hat.

Die Wirtschaftspolitik des Baath-Regimes gegen die kurdische Bevölkerung in Syrien war geprägt durch die Politik des Arabischen Gürtels. Mit der “Arabisierung” der kurdischen Siedlungsgebiete hat das Regime nicht nur demographisch und kulturell die Struktur der Region verändert, sondern auch in den Landbesitz der Bevölkerung eingegriffen. So wurde unzähligen kurdischen “Bürgern” das Recht auf Landbesitz und Landerwerb genommen. Die Region Rojava wurde ökonomisch lediglich als Kornkammer Syriens aufgefasst. Um das konsequent umzusetzen, wurden Monokulturen angelegt und so fruchtbares Land zerstört. Außer Weizen und Gerste durfte nichts angepflanzt werden. Selbst die Baumbepflanzung fiel unter das Verbot des Regimes.

Menschen, die sich hiergegen zu wehren versuchten, mussten mit drakonischen Strafen rechnen, zu denen auch die Vertreibung ins Exil gehörte. Es wurde eine Wirtschaftspolitik verfolgt, welche die Bevölkerung völlig vom Regime abhängig machen sollte. Von den Erlösen aus dem Weizen- oder Erdölverkauf, das aus Rojava abgepumpt wurde, bekam die Bevölkerung selbst nichts zu sehen.

Es verwundert nicht weiter, dass vor diesem Hintergrund das Regime auch keine Fabriken und Industrie in Rojava aufgebaut hat. Die Produktion fand stets in den syrischen Städten und nicht in Rojava statt. Die Bevölkerung wurde so bewusst in die Armut getrieben.

Eine kommunale und alternative Ökonomie

Doch quasi als Antwort auf die Wirtschaftspolitik des Baath-Regimes entwickelt sich in Rojava dieser Tage eine vielseitige alternative Ökonomie. Die Partizipation der Frau in dieser im Entstehen befindlichen Ökonomie ist ein ebenso kennzeichnendes Merkmal wie ihr kommunaler und solidarischer Charakter. Das Ökonomiemodell entwickelt sich zeitgleich mit dem Modell der Demokratischen Autonomie in Rojava. Als Antwort auf den ausbeuterischen Charakter des Wirtschaftsmodells des Baath-Regimes wird hier versucht ein Modell zu etablieren, das alle gesellschaftlichen Teile der Bevölkerung einbezieht und sich an den Bedürfnissen der Gesellschaft orientiert. Dieses Ökonomiemodell, dessen organisatorisches Kernelement die Kooperativen sind, soll von der Landwirtschaft bis in die Industrie alle Wirtschaftsbereiche umfassen. Den aktuellen Bedürfnissen entsprechend wurden bislang die meisten Kooperativen im Bereich der Landwirtschaft aufgebaut. Doch auch im Bauwesen, im Handel und anderen Wirtschaftszweigen nimmt die Zahl der Kooperativen immer weiter zu.

Arbeitskreise, Kommunen und Räte bilden Grundstein der wirtschaftlichen Selbstorganisation

Angebunden an die Exekutivräte der Kantone Rojavas wurden Wirtschaftsräte etabliert. Diese Wirtschaftsräte verfügen über einen Co-Vorsitz und beziehen ihre Kraft aus der lokalen Organisation von Räten, Kommunen und Arbeitskreisen/Komitees.

Um die wirtschaftliche Kooperation unter den Kantonen zu gewährleisten, wurde zudem auch die Allgemeine Wirtschaftskoordination ins Leben gerufen. Doch die wichtige Arbeit spielt sich in den Kantonen selbst ab. Die Wirtschaftsräte der Kantone tagen wöchentlich, um über die allgemeinen wirtschaftlichen Herausforderungen zu sprechen und Lösungen für wirtschaftliche Probleme zu finden, die beispielsweise aus dem Wirtschaftsembargo resultieren. Die sich abwechselnden Delegierten des Wirtschaftsrates kommen zudem einmal wöchentlich mit Vertretern des Kantonsvorsitzes, und Delegierten des Energierates sowie des Ausschusses für die Kontrolle der Landwirtschaft zusammen, um sich auszutauschen und abzustimmen.  Wie in jedem gesellschaftlichen Bereich, organisieren sich die Frauen auch im Wirtschaftsbereich parallel zu den gemischten Strukturen autonom und bilden ihre eigenen Strukturen.

Wirtschaftsakademien

Ein wichtiger Grundpfeiler für den Aufbau einer alternativen Ökonomie ist die Bildungsarbeit. Das vom Regime geformte Bewusstsein darüber, was Wirtschaft ist, soll aufgebrochen werden. Und hierzu ist die Bildungsarbeit der passende Schlüssel. Die Wirtschaftsakademie ist die Bildungsstätte hierfür. In der Akademie wird praktische Bildung gepaart mit ideologischen Komponenten. Den Akteuren des neuen Wirtschaftssystems wird in den Akademien erklärt, was eine gesellschaftsorientierte und alternative Wirtschaftsweise ausmacht. In der ersten Etappe findet die Bildungsarbeit branchenübergreifend statt, während in späteren Etappen der Bildung die Akteure unterschiedlicher Wirtschaftssektoren auf ihren Bereich zugeschnittene Bildung erhalten. Durch diese Bildungsarbeit soll der theoretische und praktische Grundstein für eine kommunale Ökonomie gelegt werden.

Die Wirtschaftsentwicklungszentren

Die zweite Institution die neben den Wirtschaftsakademien in diesem Bereich sind die Wirtschaftsentwicklungszentren (kurd. Navenda Geşkirina Abori). Es gibt in Rojava in insgesamt in zehn Städten diese Zentren, die als Anlaufstellen für die Bevölkerung bei allgemeinen und alltäglichen Fragen zum Thema Ökonomie dienen. Gleichzeitig haben die Wirtschaftsentwicklungszentren den Auftrag, neue Kooperativen mitaufzubauen und zu unterstützen, und so das Ökonomiemodell auf neue Bereiche auszuweiten. Zu den ersten Herausforderungen der Wirtschaftszentren gehörte es, auf dem Bausektor und im Bereich der Erdölförderung und Benzinverteilung funktionierende Strukturen aufzubauen, die Probleme bei der Stromversorgung zu lösen und den Bauern im Bereich der Landwirtschaft Unterstützung zu leisten. Zur Förderung von landwirtschaftlichen Kooperativen haben die Wirtschaftsentwicklungszentren eigene Strukturen geschaffen, die sich allein diesem Aufgabenbereich widmen.

Die Aufbauarbeiten im Bereich der Ökonomie haben insbesondere nach der 1. Rojava Wirtschaftskonferenz vom 16. und 17. Oktober 2015 an Geschwindigkeit gewonnen. An dieser Konferenz nahmen Delegierte aus allen drei Kantonen teil und fassten u.a. Beschlüsse zum Aufbau von autonomer Frauenwirtschaftsstrukturen und Wirtschaftsakademien, sowie zur Ausweitung der Kooperativen.

Die gemeinsame Kraft der Bevölkerung: Hevgirtin

Hevgirtin – zu Deutsch “Zusammenkommen” – so heißt die derzeit größte Kooperative in Rojava.

Es handelt bei Hevgirtin in erster Linie um eine Verkaufskooperative. Sie verfügt bereits über mehr als 10.000 Mitglieder und diese Zahl steigt immer weiter an. Im Bereich des Handels spielt Hevgirtin deshalb eine zentrale Rolle. Durch ihre Stärke ist sie nicht nur in der Lage, die Monopolbildung von privaten Unternehmen auf dem Markt zu unterbinden, sie unterbindet auch Schwarzmärkte und Wucherei.

Die Erfolgsgeschichte der Kooperative zeichnet aus, dass sie große Teile der Bevölkerung zum Teilhaber von Boden, Handel und erwirtschafteten Gewinnen macht.

Mit der Eröffnung von Volksmärkten zielt Hevgirtin darauf ab, günstige und qualitative Produkte an die Bevölkerung zu bringen. Die Volksmärkte werden ebenfalls in Form von Kooperativen organisiert und von der lokalen Bevölkerung betrieben. In Til Temir, Serêkaniyê, Dirbêsiyê, Tirbêspiyê und Dêrik gibt es bereits solche Volksmärkte. In weiteren Städten sollen sie folgen.

In den nächsten Tagen wird in der Stadt Hesekê ebenfalls ein Volksmarkt gegründet. Das Komitee des Volksmarktes sollen dort drei Frauen und zwei Männer leiten. Weitere 23 Personen sind ebenfalls Mitglied der Kooperative in Hesekê.  Xelil Enter, eines der Komiteemitglieder des Volksmarktes, ist überzeugt von dem Aufbau der Volksmärkte in Rojava. Die Kooperativen würden nicht nur unzählige neue Arbeitsmöglichkeiten für die Bevölkerung eröffnen, auch könne durch die Größe der Hevgirtin Kooperative Einfluss auf die Preisentwicklungen von Lebensmitteln genommen werden. So sei der Preis für Zucker zwischenzeitlich auf bis zu 1000 Syrische Lira gestiegen, bevor Hevgirtin eingriff und den Zucker für 300 Syrische Lira auf den Markt gab. “Durch diese Praxis werden wir verhindern, dass bestimmte Personenkreise auf dem Rücken der Bevölkerung in Kriegszeiten auf Wucher setzen”, so Enter.

Hevgirtin plant als nächsten Schritt den Aufbau von verschiedenen Fabriken und kleineren Produktionsstätten, die dann ebenfalls in Form von Kooperativen an die Bevölkerung übergeben werden sollen. In Planung sind unter anderem Tankstellen, Kleidungsgeschäfte, Restaurants und Baufirmen, die als Kooperativen unter dem Dach von Hevgirtin aufgebaut werden sollen.

Bereits jetzt gehören hunderte landwirtschaftliche Kooperativen zu Hevgirtin. Hinzu kommen kooperative Werkstätten und Schneidereien, sowie Milch-Kooperativen und Viehzucht-Kooperativen. Mitglied in einer dieser Kooperativen kann man durch einen kleinen Beitrag werden, während alle Gewinne fair unter allen Mitgliedern aufgeteilt werden.