Rückzug der PKK hat begonnen – Doch wie geht es weiter?

Mako Qocgiri, Mitarbeiter von Civaka Azad – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V., 11.05.2013

Der Start des Rückzugs der kurdischen Guerillakräfte war weltweit in den Schlagzeilen aller Medien. Zu Recht, denn mit diesem Schritt bietet sich eine historische Möglichkeit für die Lösung der kurdischen Frage, einer der bedeutsamsten Fragen der gesamten Region. Doch nach diesem Schritt der PKK sollten nun die Augen auf die türkische Seite gerichtet sein. Wird die Türkei die Chance auf eine friedliche Lösung nutzen und den demokratischen Raum für die politische Teilhabe der Kurdinnen und Kurden eröffnen? Und welche dringenden Schritte müssen nun in Richtung einer nachhaltigen Lösung getan werden?

Seit dem 8.Mai haben die Kräfte der HPG (Hezen Parastina Gel – zu Deutsch „Volksverteidigung-kräfte“) begonnen, sich in kleinen Gruppen aus den Grenzen der Türkei in Richtung der Meder-Verteidigungsgebiete zurückzuziehen. Es wird erwartet, dass in drei bis vier Monaten die letzten HPG-Einheiten die Grenzen des türkischen Staates verlassen haben werden. Es ist kein risikoloses Unternehmen, welches die PKK mit diesem Schritt auf sich nimmt. Als nach der Festnahme Abdullah Öcalans 1999 die PKK ihre Guerillakräfte aus der Türkei zurückzog, sah das der türkische Staat nicht als eine Chance für eine friedliche Lösung an. Stattdessen nutzte das türkische Militär diese Gelegenheit zu einem Frontalangriff gegen die Guerilla und es kamen bis zu 500 Mitglieder der PKK ums Leben.

Die andere Frage, die vor allem innerhalb der kurdischen Gesellschaft gestellt wird, ist, ob mit der aktuellen türkischen Regierung eine friedliche Lösung möglich ist. Denn die AKP-Regierung spricht nicht das erste Mal von einer Lösung der kurdischen Frage, bisher wurden die Hoffnungen der kurdischen Bevölkerung allerdings jedes Mal enttäuscht.

Was ist dieses Mal anders?

Die Vorzeichen bei der aktuellen Friedensinitiative scheinen allerdings besser zu stehen. Denn die kurdische Freiheitsbewegung hat zum einen im letzten Jahr ihre Fähigkeit zum Widerstand beeindruckend unter Beweis gestellt. Auf der politischen Ebene konnten die Arbeiten der Partei für Frieden und Demokratie (BDP) trotz der Festnahme von Tausenden ihrer Mitglieder im Rahmen der KCK-Verfahren nicht gestoppt werden. Dasselbe gilt für die kurdische Zivilgesellschaft. Selbst in den Gefängnissen haben die politischen Gefangenen mit ihrem Hungerstreik im Herbst letzten Jahres, an dem bis zu 10.000 Inhaftierte teilgenommen haben, einen großartigen Widerstand geleistet. Die Hungerstreikenden konnte damals nur der inhaftierte PKK-Vorsitzende Abdullah Öcalan davon überzeugen, ihre Aktion zu beenden, bevor die ersten Menschen ihr Leben verlieren. Und auch beim aktuellen Rückzug der Guerillakräfte ist Abdullah Öcalan die Schlüsselfigur. Denn ihm ist es durch den Briefverkehr mit der PKK-Führung in den Kandil-Bergen gelungen, letztere von der Richtigkeit eines solcchen Schrittes zu überzeugen.

Neben dem Widerstand der kurdischen Freiheitsbewegung in Nordkurdistan (Ost-Türkei) ist es vor allen Dingen die Revolution in Westkurdistan(Nord-Syrien), die die Türkei zu einem Kurswechsel in Sachen Kurdenpolitik gezwungen hat. Denn den Kurden ist es dort gelungen, zum richtigen Zeitpunkt das vorübergehende machtpolitische Vakuum in ihren Gebieten zu nutzen, um die Städte unter ihre Kontrolle zu bringen und sie anschließend auch erfolgreich zu verteidigen. Trotz aller Bemühungen der Türkei, den Aufbau der Selbstverwaltungsstrukturen in Westkurdistan zu unterbinden, hat die Bevölkerung ihre Organisierung im Sinne der Demokratischen Autonomie in bedeutendem Maße vorangebracht. Neben Südkurdistan (Nord-Irak) scheint sich an der direkten Grenze zur Türkei eine zweite kurdische Autonomie herauszukristallisieren.

Aus dem oben Beschriebenen wird deutlich, dass für die Türkei ein Paradigmenwechsel in der kurdischen Frage dringend notwendig war und ist. Die Frage ist nun, ob die Türkei bereit ist, sich einer solchen Herausforderung zu stellen.

Was wurde getan?

Hierzu gibt es erste Zeichen, die Anlass zur Hoffnung geben. So hat sich beispielsweise im türkischen Parlament eigens eine Kommission für den Lösungsprozess gebildet. Auch wenn die Abgeordneten der CHP und der MHP erwartungsgemäß die Teilnahme an dieser Kommission verweigert haben (sie besteht aus 10 AKP- und einem BDP-Abgeordneten), ist allein die Gründung dieser Kommission von Bedeutung. Denn es war eine der Forderungen der  kurdischen Seite, dass nicht allein die Regierung, sondern das türkische Parlament in einem möglichen Lösungsprozess die Initiative ergreift.

Auch der Arbeit der „Kommission der Weisen“ kommt im Rahmen eines möglichen Lösungsprozesses eine wichtige Bedeutung zu. Diese Kommission setzt sich aus Intellektuellen und Künstlern mit unterschiedlichem Backround zusammen. Ihre Aufgabe besteht darin, mit den Menschen vor Ort über den Lösungsprozess zu diskutieren und ihnen ihre Ängste und Sorgen zu nehmen. Für die Mitglieder der Kommission gestalteten sich allerdings die Gespräche mit der türkischen Öffentlichkeit deutlich schwieriger als die mit der kurdischen Community. So wurden in mehreren Städten faschistische Mobs vermutlich durch MHP-nahe Kreise organisiert, die die Mitglieder der Kommission mit Schmährufen und Drohungen empfingen. Aber auch bei dem einen oder anderen türkischen Bürger, der nicht unbedingt dem Umfeld der rechten MHP zugeordnet werden kann, löst der Ausblick auf die Lösung der kurdischen Frage die Phobie vor der „Spaltung des Vaterlandes“ aus. Professor Doğu Ergil, ein Mitglied der „Kommission der Weisen“, beschrieb seine Arbeit in der Kommission mit folgenden Worten: „Während wir uns auf die Suche nach der Lösung der kurdischen Frage machten, wurden wir mit dem ‚türkischen Problem‘ konfrontiert.“

Während also die „Separationsängste“ die Gemütslage der türkischen Gesellschaft bestimmen, ist die kurdische Öffentlichkeit eher mit dem reibungslosen Rückzug der Guerillakräfte beschäftigt. Gegen mögliche Operationen des türkischen Militärs hat der BDP-Co-Vorsitzende Selahattin Demirtas von der kurdischen Gesellschaft den zivilen Ungehorsam gefordert. „Wenn das Militär Operationen durchführen will, muss die Dorfbevölkerung die Straßen sperren und das Militär aufhalten“, so  Demirtas. Die kurdische Zivilgesellschaft hat in Hinblick auf mögliche Angriffe des türkischen Militärs bereits ihre Vorkehrungen getroffen. So wurden in den kurdischen Städten Kommissionen aufgestellt, die den Rückzug der Guerillakräfte und mögliche Bewegungen des türkischen Militärs kontrollieren sollen.

„Provokative Handlungen“

Auch wenn sich in Hinblick auf einen möglichen Lösungsprozess gerade viel bewegt, brachte die HPG in Bezug auf den Rückzug auch ihre Bedenken zum Ausdruck gebracht. So haben bereits mit der Ankündigung des Rückzugs am 8. Mai die Bauarbeiten an neuen Militärkasernen und den sog. Sicherheitsstaudämmen in den kurdischen Gebieten deutlich an Fahrt aufgenommen. Die HPG bewertet dies als „provokative Handlungen, die den Rückzug erschweren“. Hinzu kommt, dass auch die Drohneneinsätze der türkischen Luftwaffe sowohl innerhalb der Türkei als auch über den Meder-Verteidigungsgebieten in Südkurdistan nicht gestoppt worden sind. Welchen Zweck das türkische Militär mit den gegenwärtigen Truppenverlegungen in die kurdischen Gebiete verfolgt, ist ebenfalls fraglich. Deshalb scheint es nicht weit hergeholt, wenn die HPG erklärt, dass ein Ende dieser militärischen Aktivitäten von lebenswichtiger Bedeutung für den Rückzug und den Lösungsprozess als Ganzes darstellt.

Was muss noch getan werden?

Im Rahmen eines Lösungsprozesses wird von kurdischer Seite ein Aktionsplan von drei Schritten vorgeschlagen. Der erste Schritt sieht den Rückzug der Guerillakräfte und ein Ende aller militärischen Auseinandersetzungen vor. In den darauffolgenden zwei Schritten sollen zunächst die Ausarbeitung einer demokratischen Verfassung in Angriff genommen und dann ein allgemeiner Normalisierungs- und Aufarbeitungsprozess eingeleitet werden.

Wir befinden uns also inmitten der Umsetzung dieser ersten Etappe. Allerdings gefährden die oben genannten Aktivitäten des türkischen Militärs die erfolgreiche Umsetzung dieser Etappe massiv. Neue Militärkasernen und Militärkontrollpunkte, wie sie gegenwärtig umgesetzt werden, entsprechen nicht dem Geist einer friedlichen Lösung. Auch stellt sich die Frage, mit welcher Absicht das Militär Drohneneinsätze, vor allem über den von der PKK kontrollierten Gebieten in Südkurdistan, fliegt. Auch die Frage der sogenannten Dorfschützer muss in dieser Etappe auf die Tagesordnung gebracht werden. Insgesamt hat der Staat im Kampf gegen die Guerillakräfte der PKK bis zu 65.000 Dorfschützer bewaffnet, die mit dieser Tätigkeit auch ihren Lebensunterhalt verdienen.  In Rahmen des Lösungsprozesses muss nicht nur die Institution des Dorfschützers abgeschafft werden, es müssen auch Projekte zur Re-Integration dieser Dorfschützer in die Gesellschaft in Angriff genommen werden.

Damit die historische Möglichkeit auf die friedliche Lösung der kurdischen Frage nicht erneut mit einer bitteren Enttäuschung endet, muss in dieser Etappe also vor allem der Blick auf die militärischen Aktivitäten der Türkei gelegt werden. Die kurdische Seite hat mit der Entscheidung zum Rückzug einen wichtigen und für sie nicht ungefährlichen Schritt in Richtung einer Lösung gemacht. Hier kommt sicherlich Abdullah Öcalan ein großer Verdienst zu. Sollten die Provokationen in dieser Etappe ausbleiben und der Rückzug ohne Zwischenfälle glücken, wäre es im nächsten Schritt Aufgabe der  türkischen Parlaments, eine demokratische Verfassung auszuarbeiten, welche die Lösung der kurdischen Frage ermöglicht. Solch eine Verfassung wäre eine Errungenschaft für alle Menschen und Gruppen in der Türkei. Öcalan hatte bereits in seiner ersten Verteidigungseingabe vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte im Jahr 2001 vorausgesagt, dass die Lösung der kurdischen Frage als eine Art „demokratischer Katalysator“ für die gesamte Region wirken könnte. Heute scheint die Hoffnung darauf, dass diese Aussage Öcalans sich bewahrheiten könnte, größer denn je.

Schreibe einen Kommentar