Salih Muslim: Den Kurden geht es nicht bloß um Autonomie

Gamze Kafar im Interview mit Salih Müslüm, dem ehemaligen Co-Vorsitzenden der PYD, über das Referendum im kurdischen Autonomiegebiet im Irak, über die Offensive auf Deir ez-Zor und die Erklärung aus Damaskus zu einer möglichen Autonomie in Nordsyrien; 05.10.2017

Viele Länder kommentierten das Unabhängigkeitsreferendum im irakischen Kurdistan. Die Türkei hat bekanntgegeben, dass sie das Referendum nicht akzeptiert. Was denken Sie über das Referendum?

Von Anfang an haben wir dazu eine klare Position eingenommen. Das Referendum ist ein demokratisches Grundrecht und durch die Meinungsfreiheit gedeckt. Das Ganze hätte deshalb eigentlich nicht für so viel Aufruhr sorgen dürfen. Jeder Ort, jede Stadt und jedes Dorf kann ein Referendum abhalten. Wichtig ist, welche Pläne sich hinter diesem Referendum verbergen und was nach diesem Referendum passiert. Das Abhalten eines Referendums ist aber ein Grundrecht und niemand sollte das Recht haben, sich da einzumischen.

Die Türkei erklärte als Antwort auf das Referendum, dass sie den Grenzübergang Habur (zwischen Türkei und Südkurdistan) schließen wolle. Später kam es zu einer Übereinkunft mit dem irakischen Ministerpräsidenten Abadi. Was möchten sie zu diesem Thema sagen?

Es herrscht eine Situation vor, in welcher die Kurden nicht anerkannt werden. Man gesteht ihnen keinen Rechts- und Lebensraum ein. Abadi ist ein Repräsentant des Iraks und sowohl er als auch die Türkei hätten von solch einer Erklärung absehen müssen. Niemand hat das Recht, die Bevölkerung mit Hunger zu bestrafen. Es ist eine Grausamkeit, Menschen unter Druck zu setzen, nur weil sie von dem Recht Gebrauch machen, ihre Meinung auszudrücken.

Die Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) haben eine Offensive auf  die Stadt Deir ez-Zor gestartet. Auch das Baath-Regime, der Iran und die Hisbollah sind in der Region. Russland hat bereits auch Stellungen der SDF angegriffen. Was können Sie dazu sagen? In den letzten Tagen gab es auch ein Gespräch zwischen Erdogan und Putin. Welche Politik verfolgt Russland?

Deir ez-Zor verfügt über seinen eigenen Militär- und Zivilrat. Das ist die Forderung der Menschen dort. Die Demokratischen Kräfte Syriens unterstützen die Menschen dabei, sich zu verteidigen. Dieses Vorgehen ist gemeinsam mit der Lokalbevölkerung geplant worden, um den IS aus der Region zu vertreiben.

Allerdings denke ich, dass Russland, Syrien und der Iran andere Ziele verfolgen. Sie haben vor allem wirtschaftliche Interessen. Assads Berater, Buseyna Saban, sprach über das Erdöl und Erdgasvorkommen. Das zeigt uns, dass sie hinter anderen Dingen her sind. Anders als sie bezwecken die Demokratischen Kräfte Syriens, das Volk zu befreien. Die Bevölkerung ist sich dem bewusst und sie haben nun eigene Kräfte aufgestellt, um den IS zu bekämpfen. Wie wir in den letzten Tagen sehen, haben die anderen Kräfte nicht die Fähigkeit, den IS zu bekämpfen. Obwohl sie Deir ez-Zor nicht befreit haben, ziehen sie schon auf die andere Seite vom Euphrat. Sie tun es sich schwer mit dem Kampf.

Auf der einen Seite vom Euphrat steht nun die von der USA unterstützten Kräfte der SDF. Auf der gegenüberliegenden Seite steht Russland mit dem Baath-Regime, die Hisbollah und der Iran. Könnte es in Zukunft eine Konfrontation geben?

Es gibt dazu eine Erklärung der Demokratischen Kräfte Syriens. Darin erklären sie, dass sie gegen keine anderen Kräfte außer dem IS kämpfen möchte, aber sich bei einem Angriff verteidigen werde. Es ist unberechtigt und unnötig, dass man sich trotzdem die Demokratischen Kräfte Syriens zum Ziel setzt. Denn es gibt gegenwärtig noch immer das Problem mit dem IS.

Nördlich vom Euphrat sind es lediglich die SDF und die Lokalbevölkerung, die gegen den IS in Deir ez-Zor kämpfen. Die USA leistet bei der Offensive nur Luftunterstützung. Und das Abkommen ist nur darauf beschränkt, den IS zu vernichten. Russland verfolgt jedoch andere Ziele als nur den IS zu vernichten. Südlich des Euphrat scheint es so, als gäbe es kein Baath-Regime mehr in Deir ez-Zor. Die dortigen Landstreitkräfte sind nur der Iran und die Hisbollah. Auch es ist quasi unmöglich, von lokalen Kräften in ihren Reihen zu sprechen. Das letzte Wort haben die Einheimischen. Entscheidend ist, was der Militärrat und der Zivilrat von Deir ez-Zor bestimmen.

Aus Damaskus kam die Erklärung, sie könnten den Kurden eine Autonomie gewähren. Was bedeutet das für Sie?

So eine Aussage kommt zum ersten Mal. Sie sprechen von Autonomie. Ich befürchte, sie wollen damit für Verwirrung sorgen. Denn die Kurden wollen keine Autonomie mehr. Sie sind ein Teil eines demokratischen Syriens. Es ist unmöglich, von einem föderalen Syrien abzusehen. Ich denke, sie spielen mit dem Wort Autonomie und wollen uns damit nur hinhalten. Dies sind Manöver mit denen sie die kämpfenden Kräfte und die arabischen Einheiten zu spalten versuchen.

Ist das also ein Argument, welches entwickelt wurde, um gegen das Föderalsystem zu vorzugehen?

Das ist eine Aussage, die allein zur Provokation dient. Auch andere Strukturen wie das Syrische Parlament hat diese Aussage getätigt. Wir sind offen für einen Dialog und wir können über alles reden. Es ist positiv, dass man über die Rechte der Kurden spricht, jedoch kann man nur per Dialog bestimmen, was in der Praxis geschehen wird. Wir sind offen, um zusammen an einem Tisch zu sitzen.

Zuletzt wurden Kommunalwahlen abgehalten. Es stehen noch zwei weitere Etappen an. Was erwartet das Land Syrien danach?

Unser Modell basiert auf einem demokratischen System, das von unten nach oben funktioniert. Also eine Demokratie die nicht von oben, sondern von der Lokalbevölkerung gestaltet wird. Genau dies ist das Fundament des demokratischen Konföderalismus. Zuerst wurden die Vorsitzenden der Kommune gewählt. Die Teilnahme daran war größer als was wir erwartet hatten. Das war ein sehr großer Schritt für uns. So haben wir gesehen, dass die Bevölkerung das System angenommen hat. Die Menschen wollen an der Politik teilnehmen und diese selbst gestalten. Nun stehen Ratswahlen an, danach die Volkskongresswahlen. Diese Kommunalwahlen haben uns viel gelehrt. Während wir von einer Beteiligung von 500.000 Menschen ausgingen, nahmen 700.400 Menschen an der Wahl teil.  Das war der erste Schritt zur Verwirklichung des demokratischen Konföderalismus und die nächsten Schritte werden folgen. Was uns überrascht hat, ist die Tatsache, dass andere Bevölkerungsgruppen stärker  an diesen Wahlen teilgenommen haben als die Kurden selbst. Die Menschen machen von dem Selbstbestimmungsrecht Gebrauch und bringen sich beim Aufbau der Kommunen ein. Das ist der Erfolg unseres Systems. Für uns ist es nun wichtig, dies zu vervollständigen und die Hoffnungen des Volkes nicht in die Leere laufen zu lassen.

Gibt es noch etwas, was sie abschließend sagen möchten?

Was ich sagen möchte ist, dass wir im 21. Jahrhundert leben. In einer Demokratie, spielen die Erwartungen und die Meinung der Menschen die bedeutende Rolle. Jeder will in einer Demokratie und in Freiheit leben. Das Thema, dem wir uns am intensivsten widmen, ist der freie Mensch. Der Mensch kann mit seinem Geist und Willen vieles verändern. Der Sklave kann weder Demokratie oder Freiheit eschaffen, noch ein Gesellschaftsmodell mitgestalten. Die Schritte, die wir machen, stellen die Basis für eine freie Gesellschaft dar. Wir erschaffen ein System, welches der Selbstbestimmung der Gesellschaft dient. Dieses System muss im Mittleren Osten verstanden werden, damit die Menschen ein friedliches Zusammenleben führen können. Deshalb erwarten wir viel Unterstützung, damit das System überall verstanden wird.

Im Original ist das Interview am 30.09.2017 unter dem Titel “Müslüm: Kürtler artık özerkliği istemiyor” auf der Nachrichtenseite Artı Gerçek erschienen.