Sie werden uns den Status zugestehen müssen…

kisinak_anliDie Kommunalwahlen und der Aufbau der demokratisch-autonomen Selbstverwaltung
Gültan Kisanak und Firat Anli, die beiden BDP-KandidatInnen für Amed (Diyarbakir), im Gespräch mit Veysi Sarisözen und Oguz Ender Birinci, Özgür Gündem 18.02.2014

(…) So soll beispielsweise in jeder Stadtverwaltung ein Stadtrat geschaffen werden. Das ist sozusagen unser kommunales Parlament, in dem die Menschen aus Dorf und Stadt zusammenkommen und über alle Angelegenheiten ihres Ortes diskutieren sollen. Diese Stadträte sollen zu der Instanz werden, in der die Diskussionen geführt und die wichtigsten Entscheidungen getroffen werden, die die gesamte Stadt angehen. Dann sollen in allen Stadtteilen Stadtteilräte entstehen, in denen auf alle Fälle jedwede Dynamik dieser Stadt ihren Platz findet. So gibt es beispielsweise im Stadtzentrum von Amed 54, in der ganzen Provinz sogar 950 Stadtviertel. Wir wollen also in 950 Stadtvierteln Räte aufbauen. Und die Delegierten aus diesen 950 Räten kommen im Stadtrat zusammen. Außerdem auch die VertreterInnen der Frauenräte, der Jugendräte, der Kinderräte, der Behindertenräte und weiterer Räte, die je nach Bedürfnis und Interesse gegründet werden können. Im Stadtrat treffen also alle sich in Form von Räten organisierten Strukturen zusammen. (…)

Zunächst einmal möchten wir das Gespräch mit einem Dankeschön beginnen. Wir sind nun seit ein paar Tagen in Amed. Selbstverständlich haben die Wahlen für Amed einen besonderen Wert. Der gesamte Mittlere Osten beobachtet die Entwicklungen in der Stadt. Und die BDP als große Wahlfavoritin hier verfolgt nun seit geraumer Zeit unter Schlagwörtern wie »Demokratische Autonomie« und »Selbstverwaltung« eine zu den übrigen Parteien alternative politische Linie. Einer der unserer Meinung nach wichtigsten Punkte aus Ihrem Wahlprogramm ist das Versprechen, eine kommunale Verwaltungsstruktur mit Rede- und Entscheidungsbefugnis für die Bevölkerung zu schaffen. Unsere Frage ist deshalb folgende: Wie soll dieses neue Verwaltungsverständnis, dieser Mechanismus realisiert werden? Sie haben das Wort.

Kisanak: Ich möchte mit einigen Vorbemerkungen beginnen. Zunächst einmal steht das Ziel des Aufbaus einer Selbstverwaltung seit einiger Zeit ganz oben auf der Tagesordnung der KurdInnen. Davor hatten sie zunächst einmal einen Kampf um die Anerkennung ihrer Identität geführt. Diesen Kampf haben sie gewonnen. Denn heute kann im gesamten Mittleren Osten und vor allem in der Türkei niemand mehr die KurdInnen politisch übergehen und ihre Identität verleugnen. Allerdings ist dieser De-facto-Zustand noch nicht in eine rechtliche Form gegossen worden.

Nun verfügen die KurdInnen als ein Volk auch über das Recht, über sich selbst zu entscheiden. Die Schlagworte, die Sie eben nannten, wie »Demokratische Autonomie« oder »Selbstverwaltung« bringen die Forderung nach diesem Recht zum Ausdruck. Wir glauben, dass aus Sicht des kurdischen Volkes die Bedingungen für eine Selbstverwaltung gereift sind. Wir können die Demokratische Autonomie in Nordkurdistan aufbauen, selbst wenn der Staat sie nicht rechtlich anerkennen will. Ein Grund, weshalb wir so überzeugt sind von der Umsetzbarkeit dieses Ziels, ist die Tatsache, dass wir uns gemeinsam mit allen verschiedenen Identitäten aus dieser Region im Sinne des Aufbaus einer demokratischen Nation organisieren. Ein weiterer Umstand, der uns optimistisch stimmt bei der Umsetzung unseres Vorhabens, sind selbstverständlich auch die Entwicklungen in Rojava.

Kann man die Entwicklungen in Rojava auch als Ergebnis der Erfahrungen betrachten, die durch den Widerstand in Nordkurdistan gesammelt worden sind?

Selbstverständlich. Der Widerstand in den verschiedenen Teilen Kurdistans bestärkt sich auch gegenseitig. Die Perspektiven von Herrn Öcalan haben ebenfalls großen Einfluss auf die Organisierung der Bevölkerung in Rojava. Und in Rojava sind große Errungenschaften verzeichnet worden, was wiederum den Widerstandsgeist der Bevölkerung in Nordkurdistan stärkt.

Aus der Sicht des Staates betrachtet, führt er gegenwärtig Gespräche mit Herrn Öcalan. Und eben Herr Öcalan repräsentiert die kurdische Bevölkerung. Diese wiederum fordert ihre Anerkennung als Volk, also einen Status. Wenn also diese Gespräche und gewisse Verhandlungen geführt werden, so denken wir, dass der Staat schlussendlich auch diese Bevölkerung wird anerkennen müssen. Natürlich stellt es ein Problem dar, dass er diesen Prozess in die Länge zieht und nicht die gewünschten Schritte zum notwendigen Zeitpunkt unternimmt. Aber letztendlich wird kein Weg daran vorbeiführen, dass sie der Bevölkerung ihren Status zugestehen müssen.

Aus all den genannten Gründen haben wir diese Wahlen auch zum Startpunkt für den Aufbau der Selbstverwaltung erklärt. Es beginnt die Phase, in der wir den Status für das kurdische Volk über die Stärkung der kommunalen Autonomie erlangen werden. Das ist zugleich eine wichtige Etappe für die Demokratieentwicklung und sie wird überaus wichtige Ergebnisse mit sich bringen.

Wir möchten dieselbe Frage auch an Herrn Anli stellen.

Anli: Für die KurdInnen ist unser Projekt eigentlich nichts Fremdes. Denn auch vor rund 150 Jahren war Kurdistan ein autonomes Gebiet. Nun gibt es in Südkurdistan eine Föderation, die fast schon einen vom Zentralstaat unabhängigen Charakter hat. In Rojava hat die Bevölkerung sogar entgegen dem Willen der internationalen Mächte und der Anrainerstaaten ihre Autonomie errichtet. Die objektiven Bedingungen sind also gut. Und aus subjektiver Sicht sind wir gut vorbereitet.

Ein anderer Punkt ist, dass nicht nur die KurdInnen darüber diskutieren, dass das zentralistische und monistische Staatsverständnis eigentlich seit Langem selbst zur Problemquelle geworden ist. Dass der Nationalstaat nicht weiter laufen wird, ist vielen klar geworden. Die Suche nach Alternativen bekommt Rückenwind. Und die KurdInnen haben bei dieser Suche die Vorreiterrolle übernommen. Das Modell, das wir vorschlagen, setzen wir bereits heute teilweise um. Einige Stadtteilräte arbeiten bereits, auch andere Rätestrukturen wurden geschaffen. Die sogenannten KCK-Operationen hatten genau das zum Ziel, diese geschaffenen Strukturen zu zerschlagen.

Heute wird in Amed, aber auch in Städten wie Êlih (Batman), Riha (Urfa) oder Wan (Van) wieder verstärkt darüber diskutiert, wie wir diese Strukturen stärken können. So soll beispielsweise in jeder Stadtverwaltung ein Stadtrat geschaffen werden. Das ist sozusagen unser kommunales Parlament, in dem die Menschen aus Dorf und Stadt zusammenkommen und über alle Angelegenheiten ihres Ortes diskutieren sollen. Diese Stadträte sollen zu der Instanz werden, in der die Diskussionen geführt und die wichtigsten Entscheidungen getroffen werden, die die gesamte Stadt angehen. Dann sollen in allen Stadtteilen Stadtteilräte entstehen, in denen auf alle Fälle jedwede Dynamik dieser Stadt ihren Platz findet. So gibt es beispielsweise im Stadtzentrum von Amed 54, in der ganzen Provinz sogar 950 Stadtviertel. Wir wollen also in 950 Stadtvierteln Räte aufbauen. Und die Delegierten aus diesen 950 Räten kommen im Stadtrat zusammen. Außerdem auch die VertreterInnen der Frauenräte, der Jugendräte, der Kinderräte, der Behindertenräte und weiterer Räte, die je nach Bedürfnis und Interesse gegründet werden können. Im Stadtrat treffen also alle sich in Form von Räten organisierten Strukturen zusammen.

Ist das nicht auch zugleich eine konföderale Struktur?

Genau das ist es. Wir haben nun auch das Glück, dass Amed gesetzlich den Status einer Großstadt hat und deshalb der Stadtrat auch die gesamte Provinz umfasst. Es gibt also auch keine rechtlichen Probleme.

Ein weiterer Pfeiler unseres Modells sind die zivilgesellschaftlichen Organisationen. Dazu gehören beispielsweise Berufsverbände wie die RechtsanwältInnenkammern, ÄrztInnenkammern oder die Industrie- und Handelskammer, aber auch andere demokratische Massenorganisationen. Diese Vereinigungen sind einerseits Teil des Stadtrats, andererseits unterstützen sie die Arbeit der Stadtverwaltung, die zu ihrem spezifischen Fachgebiet gehört.

Eines der am wenigsten diskutierten Themen und deshalb derzeit auch größter Schwachpunkt unseres Modells ist die Ökonomie. Kurdistan verfügt über keine eigenen wirtschaftlichen Strukturen, über die es selbst entscheiden kann. Mit dem neuen Gesetz über den Status der Großstädte hat sich das nun ein wenig verändert. Die Stadtverwaltung kann nun gewisse Entwicklungsprojekte durchführen, sie kann landwirtschaftliche Projekte oder Projekte im Kampf gegen die Armut unterstützen. Die Stadtverwaltungen verfügen nun über ein größeres Budget und dadurch auch über einen größeren Handlungsspielraum in diesem Bereich. Wir wollen das nutzen, um die Arbeitslosigkeit in der Region zu bekämpfen. Zugleich wollen wir die monopolistischen Wirtschaftsstrukturen, die die Region brutal ausbeuten, angreifen. Es soll keine billigen Arbeitskräfte mehr geben. Wir wollen Tausende Hektar ungenutzter landwirtschaftlicher Flächen wieder nutzen lassen, die fast ausgestorbene Tierzucht wiederbeleben, eine gesellschaftliche und solidarische Wirtschaft ins Leben rufen.

In allen Umfragen, aber auch nach unseren Beobachtungen, wird die BDP deutlich Stimmen hinzugewinnen. Können Sie uns die Gründe dafür erklären?

Kisanak: Das stimmt. Die Stimmenzahl der BDP wird in Kurdistan in die Höhe schnellen. Ich denke, dass wir vielerorts für Überraschungen sorgen werden. Was die Gründe dafür angeht, denke ich, dass der Hauptgrund eben die Frage des Status ist. Die KurdInnen haben nun die politische Bühne betreten und sind nicht länger bloß ein Objekt, über das andere entscheiden, sondern zu einem politischen Subjekt geworden, das über sein eigenes Schicksal bestimmen will. Deswegen hat ihr Anspruch, sich selbst verwalten zu wollen, auch an Stärke gewonnen. Und mit diesen Wahlen wird diese Forderung, sich als Volksgruppe selbst zu verwalten und die eigene Autonomie zu errichten, beginnen, sich zu erfüllen.

Selbstverständlich hat der von Herrn Öcalan begonnene Prozess einen wichtigen Beitrag hierzu geleistet. Das lässt sich so denken: Dieser Prozess hat begonnen, weil das kurdische Volk gut organisiert ist. Ansonsten hätte der Staat nicht den Dialog gesucht. Mit dem Dialog wurde Abdullah Öcalan als Ansprechpartner in dieser Frage anerkannt. Das und die Lösungsperspektive Öcalans wiederum haben die politische Position dieses Volkes gestärkt. Mit der historischen Erklärung letztes Jahr zum Newroz-Fest hat sich der politische Aktionsraum der kurdischen politischen Bewegung enorm vergrößert. Öcalans Aufruf war an die Völker dieser Region gerichtet. Er forderte sie auf, miteinander und alle mit ihrer eigenen Identität eine gemeinsame demokratische Zukunft zu errichten. Und die KurdInnen sind dafür die VorreiterInnen.

Anli: Die nächste Stufe unseres Projekts stellt die Zusammenarbeit von Nachbarstädten und -provinzen dar. So wird beispielsweise die Bevölkerung von Êlih sagen: »Wir möchten mit Amed zusammenarbeiten und Projekte entwickeln.« Ich bin davon überzeugt, dass bald auch die Diskussionen über die Gesetzesgrundlage für eine solche Zusammenarbeit von Provinzen beginnen werden. So werden erst zwei, dann mehrere Provinzen gemeinsam arbeiten, und in Zukunft werden Regionalräte entstehen, in denen die Delegierten der verschiedenen Provinzen zusammenkommen. So wird unser Projekt der Selbstverwaltung sich weiterentwickeln und über Grenzen hinweggehen.

entnommen aus dem Kurdistan Report Nr.172, März/April 2014

Link zur Quelle: http://www.kurdistan-report.de/index.php/archiv/2014/172/99-sie-werden-uns-den-status-zugestehen-muessen