Türkei: Der neue „Tiefe Staat“ ÖTÜKEN

Ferda ÇetinFerda Çetin, Journalist

Wie verschiedene Dokumente belegen, die der Nachrichtenagentur Firat (ANF) vorliegen, hat sich in der Türkei eine neue Organisierung des „Tiefen Staates“ unter dem Namen Ötüken gebildet. Diese Organisation scheint für die jüngsten Lynchversuche gegen die Politiker der Partei für Frieden und Demokratie (BDP) in der Schwarzmeerregion der Türkei und in Hatay verantwortlich zu sein. Zudem wird aus den Dokumenten ersichtlich, dass sie eine große Aktion zum kurdischen Neujahrsfest Newroz planen. 

Während also ein „Friedens- und Lösungsprozess“, der noch in den Kinderschuhen steckt, in der Öffentlichkeit mittlerweile breit diskutiert wird, tauchen auch wieder Elemente innerhalb des Staates auf, die diesen Prozess sabotieren wollen. Auch wenn die AKP-Regierung immer wieder behauptet, sie hätte mit den Ergenekon- und Balyoz-Operationen den „Tiefen Staat“ in der Türkei ausgelöscht, deuten doch die aktuellen Entwicklungen eher darauf, dass an ihre Stelle eine neue Organisierung errichtet wurde, bei der sich lediglich die Organisatoren und der Name geändert haben. Jetzt wird dieser neue Name erstmals bekannt: Ötüken.

Nun stellt sich die Frage, ob in einem vermeintlichen Friedensprozess die Akteure die kurdische Freiheitsbewegung und die türkische Regierung sind, oder ob es noch andere gibt, die in diesem Prozess mitspielen wollen? Und wenn ja, zu wem gehören sie, wer hat sie gebildet?

Fakt ist, dass dieser neue Gesprächsprozess zwischen dem türkischen Staat und dem inhaftierten Vorsitzenden der Kurdischen Freiheitsbewegung Abdullah Öcalan, trotz einiger Bedenken aufgrund enttäuschender Erfahrungen aus der Vergangenheit, insgesamt dennoch einen positiven Anklang in der Öffentlichkeit erzeugt hat. Bei der türkischen und kurdischen Öffentlichkeit wurde eine optimistische Erwartungshaltung geweckt.

Doch genau in solch einer Phase haben sich die Lynchangriffe gegen eine Delegation des HDK (Demokratischer Kongress der Völker) in Sinop und Samsun ereignet. Obwohl die Anzahl der Angreifer nicht besonders groß war, haben die Gouverneure und die Verantwortlichen der Polizei der beiden Städte nichts unternommen, um diese Angriffe zu unterbinden; sie haben sogar Hilfestellungen geleistet, damit die Angriffe ihre Wirkung zeigen. Anschließend ist es beim BDP-Hatay-Kongress zu einer ähnlichen Situation gekommen.

Diese Angriffe haben sich in einer äußerst kritischen und sensiblen Phase ereignet. Die Frage ist, ob sich diese Angriffe gegen den Willen der Regierung oder mit ihrer Bewilligung ereignet haben? Die Antwort auf diese Frage müssen der türkische Innenminister und der Ministerpräsident geben. Bisher haben sie es jedenfalls noch nichts gemacht.

ANF verfügt über gewisse Dokumente. Es handelt sich um Aufzeichnungen von Gesprächen, die über einen Onlinemessenger geführt wurden. Sie sind datiert auf den 18. Februar dieses Jahres.

Uhrzeit: 22.11Uhr; Nicknames: : Sancakbey, Yarbay, Tegmen…

Diese drei Namen diskutieren einige wichtige Themen. Sancakbey erscheint im Gespräch wie der Vorgesetzte der anderen beiden. Die anderen beiden sprechen ihn auch mit „mein Kommandant“ an. Dieser Sancakbey spricht die anderen beiden auf den Lynchangriff in Sinop an: „In Sinop ist es so gekommen, wie wir es gesagt haben. Auch wenn unser Widerstand nicht als super gewertet kann, war er dennoch gut.“ Er bekommt die Bestätigung von der Person mit dem Nicknamen Yarbay: „Dank ihnen, mein Kommandant. Die Moral unserer Freunde ist sehr gut. Wir warten auf Nachrichten von ihnen.“ Dann noch drei Sätze von der Person mit dem Namen Tegmen: „Ich habe die Pakete heute losgeschickt. Sie werden sich Mittwoch in ihren Händen befinden. Da gibt es keine Probleme.“

Es scheint bei den Gesprächen um einen geplanten Bombenanschlag zu gehen. Im Folgenden diskutieren die drei Männer einen möglichen Ort. Sancakbey spricht von zwei Alternativen, die auf „ihr Zentrum“ ausgerichtet seien. Man werde sich demnächst für eine der beiden Alternativen entscheiden. Anschließend heißt es, dass sie sich am Sonntag zur gleichen Zeit und am gleichen Ort treffen werden.

Uhrzeit: 23.15; Nicknames: : Sancakbey, Alireis

Am gleichen Abend führt Sancakbey über den Messenger noch ein Zweiergespräch mit jemand, der den Nick Alireis trägt. Alireis beginnt den Dialog: „Wenn es nicht wichtig wäre, hätte ich Sie um diese Uhrzeit nicht gestört. Die Pakete sind unterwegs. Aber sie werden erst in zwei Tagen ihr Ziel erreichen. Die Freunde schlagen vor, den Plan zu verändern. Es gibt noch keine Klarheit, aber wenn es soweit ist, werden wir es Ihnen mitteilen.“

Die Antwort Sancakbeys lautet: „Je größer die Menge ist, in der es passiert, desto mehr Wiederhall werden wir erzeugen. Ich erwarte eine Rückmeldung vom Anwalt. Sobald es dazu kommt, gebe ich euch Bescheid. Es wird vermutlich am Gesprächstag sein.“

Während Alireis noch die Bestätigung einholen will, dass auch keine Probleme bei der Aktion auftauchen sollten, versichert ihm Sancakbey: „Wenn es bei euch keine Probleme gibt, wird es sie bei uns auch nicht geben.“

Aus den Gesprächen wird ersichtlich, dass die Organisation aus zwei Einheiten besteht, die sich gegenseitig ergänzen. Wenn Sancakbey von „ihr Zentrum“ spricht, dann ist damit sicherlich Amed (Diyarbakir) gemeint. Die Organisation könnte demnach eine große Aktion zu Newroz in Amed planen. Im Zweiergespräch zwischen Sancakbey und Alireis heißt es weiter, dass eine Person mit dem Namen Turan, sich ohnehin in Amed befindet. Sancakbey beschreibt diesen als „einen guten Jungen, der sicher und voller Glaube“ ist. Anscheinend verfügt dieser Turan auch über die finanziellen Mittel für die Aktion. Bei Turan könnte es sich den Gesprächen zufolge auch um einen Staatsbediensteten oder Militärverantwortlichen handeln.

Alireis sagt im Gespräch weiter: „Ich habe die Entwürfe und die Eingangs- und Ausgangswege erhalten. Ich werde sie dir per Mail zukommen lassen.“ Anschließend fragt er, ob die Stimmaufnahmen von G. K. bei Sancakbey angekommen sind. G. K. steht mit großer Wahrscheinlichkeit für die BDP Co-Vorsitzende Gültan Kisanak

Sancakbey erklärt, dass Gültan Kisanak und ihre Freunde von der Einheit verfolgt werden. „Ich habe die Info erhalten, dass sie nach Ankara gehen wird“, so Sancakbey.

Im Gespräch wird deutlich, wie sehr sich Sancakbey vom gegenwärtigen Prozess gestört fühlt. „Sie profitieren vom jetzigen Prozess. Aber wir werden nicht zulassen, dass sie unser Vaterland auffressen. Ihnen geht es nicht um ihren Kampf, sondern sie schnappen sich, was sie gerade kriegen“, so die Worte von Sancakbey.

Es ist offensichtlich, dass diese Organisation die Lynchaktionen in Sinop durchgeführt hat. Vermutlich stecken sie auch hinter den Angriffen in Samsun und Hatay. Aller Wahrscheinlichkeit nach handelt es sich um eine illegale Organisierung, in der auch Staatsbedienstete involviert sind. Diese Organisation plant Aktionen, die für ein großes öffentliches Aufsehen sorgen sollen. Hierfür bilden sie ihre Einheiten, hören Leute ab und verfolgen diese.

Der alte „Tiefe Staat“ hatte seine Mission erfüllt und wurde aufgelöst. Die Ergenekon, wie die Gladio-Organisierung in der Türkei hieß, ist Geschichte. Aber seit langer Zeit wird vor der Organisierung einer neuen, „Grünen Gladio“ gewarnt. Nun scheint diese Organisierung ihre Form angenommen zu haben. Sie kann deshalb auch als die Zwillingsschwester der Ergenekon bezeichnet werden. Und den passenden Namen hat sie auch: Ötüken (Ötüken war laut Wikipedia die Bezeichnung einer Landschaft in Zentralasien, die von den frühen türkischen Stämmen als heilig verehrt wurde und mythische Bedeutung besaß; Anm. des Übersetzers).

Es bleibt überflüssig zu sagen, dass die türkische Regierung und ihr Ministerpräsident, der seit Monaten mit seinen Äußerungen die Politiker der BDP zur Zielscheibe macht, jeglichen Vorfall höchstpersönlich zu verantworten haben.

Quelle: ANF, 27.03.2013, ISKU

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