Türkei: Noch mehr Öl ins Feuer

Der Journalist Fehim Taştekin über die Hintergründe der jüngsten Angriffe der türkischen Armee auf Rojava, 05.11.2018

Die Türkei ist weiterhin bestrebt die Gebiete östlich des Euphrat anzugreifen – auch nach der Besatzung Afrins. Mit dem seit einigen Tagen andauernden Beschuss der Städte Kobanê und Girê Spî (Tall Abyad) in Nordsyrien testet das türkische Regime, wie die internationalen Mächte auf die erneuten Angriffe reagieren. Damit möchte die türkische Seit zum einen die eigene Entschlossenheit gegenüber den internationalen Akteuren im Syrien-Konflikt unterstreichen und zum anderen einen Vorstoß unternehmen, um Gründe für eine türkische Intervention in Nordsyrien zu schaffen, indem man die kurdische Seite zu Reaktionen auf die Angriffe zwingt. Darüber hinaus versucht die Türkei Idlib von der Agenda zu nehmen, da sie ihre Verpflichtungen bezüglich der Einrichtung einer Pufferzone nicht vollständig erfüllen konnte.

Innenpolitisch betrachtet kann all dies aus türkischer Perspektive auch mit den im März 2019 anstehenden Kommunalwahlen zusammenhängen. Die Regierung muss nach so viel angerichteter Zerstörung erkannt haben, dass sie die Kurden mit einfachen Worten nicht wiedergewinnen wird und hat daher wohl das Bedürfnis den nationalistische Stimmungsmache zu betreiben.

Die jüngsten Angriffe können als das Vorspiel einer umfassenderen Operation verstanden werden. Sie stellen zudem eine Verlagerung der Politik innerhalb der Türkei auf Gebiete außerhalb der türkischen Staatsgrenzen dar. Diese Politik zielt darauf ab die kurdische Frage durch Vernichtung, Verleugnung und Zerschlagung zu lösen. Dabei wird der eigenen Gesellschaft und der internationalen Gemeinschaft als Begründung für das eigene Vorgehen eine angebliche Terror- und Sicherheitsgefahr vorgegaukelt.

Die türkische Regierung spricht offen davon, die aus der ‚Operation Olivenzweig‘ in Afrin hervorgegangene Ordnung oder das Modell der Pufferzone in Idlib auf die Gebiete östlich des Euphrat zu übertragen. Dies wird von der Türkei in ihren derzeitigen Gesprächen mit Mächten wie der USA und Russland durchgehend zum Thema gemacht. Um in Syrien Entwicklungen im Sinne Ankaras herbeizuführen oder die Aufmerksamkeit von anderen drängenden Problemen abzulenken, werden immer wieder Diskussionen angestoßen, die sich gegen die Selbstverteidigungseinheiten (YPG) und die Partei der demokratischen Einheit (PYD) richten. Innenpolitisch scheint diese Strategie wohl zu wirken: Die grenzüberschreitenden Interventionen lenken von den schwerwiegenden wirtschaftlichen, politischen und rechtlichen Missständen in der Türkei ab. Die Regierung deckelt auf diese Weise die Opposition und bringt alle kritischen Stimmen zum Schweigen. Keiner wagt es die Geschehnisse in Afrin zum Thema zu machen.

Die Plünderungen, Erpressungen, Entführungen, die Folter, die Zerstörung von Wäldern und Olivenbäumenhainen und die Hinrichtungen, die von den islamistischen Gruppen seit Monaten in Afrin durchgeführt werden, kennen keine Grenzen. Diese Verbrechen werden nicht einmalig, sondern tagtäglich verübt. Über diese Dinge zu sprechen wird in der Türkei als Verrat am Vaterland gebrandmarkt. Früher thematisierten die türkischen Medien zumindest die Dinge, die sie nicht selbst zum Ausdruck bringen konnten, indem sie Berichte internationaler Menschenrechtsorganisationen aufgriffen. Die AKP-Regierung, die versucht die salafistischen und dschihadistischen Gruppen – allesamt in der UN-Terrorliste gelistet – mithilfe politischer Verhandlungen an der Macht in Damaskus zu beteiligen, betrachtet das Versprechen der Kurden nach einem friedlichen Zusammenleben der Völker und ihren begonnen Dialog mit Damaskus als eine große Gefahr. Die türkische Politik macht damit den Frieden in der Region unmöglich und trägt den Krieg in die Nachbarländer der Türkei. So wie die Türkei die Rechte der Kurden im eigenen Land nicht akzeptiert, versucht sie die Anerkennung ihrer Rechte auch außerhalb des eigenen Staatsgebietes zu verhindern. Die türkische Politik ist ein wesentlicher Faktor, der die kurdische politische Identität im Norden Syriens seit den 1920er Jahren formte. Hinter der Wut Ankaras stehen Kontinuität und Kausalität. Die Türkei beansprucht objektive Gründe für ihr Handeln. Es ist dasselbe Verständnis, mit dem Anfang des 20. Jahrhunderts angesichts des politischen Widerstands kurdischer Intellektueller, Aghas und Scheichs von der französischen Mandatsregierung gefordert wurde die „Aktivitäten der Kurden zum Erliegen zu bringen“. Heute fordert man von Damaskus „keine Verhandlungen mit den Kurden“ und droht: „Wir erlauben keine Autonomie und werden eingreifen“. Genau diese Haltung machte den Friedensprozess zwischen 2013 und 2015 in der Türkei zu Nichte. Sie führte im Jahr 2012 Dschihadisten verkleidet als angebliche Soldaten der ‚Freien Syrischen Armee‘ zum Angriff auf Rojava und ebnete nach 2014 auch dem Islamischen Staat (IS) den Weg. All diese Angriffe drängten die Kurden in Richtung USA!

Wir müssen die kurz- und langfristigen Folgen dieses Eingreifens klar benennen. Mit dem Vorstoß der Türkei hat der IS, der in Hajin, Şaafa und Susa entlang der syrisch-irakischen Grenze zuletzt in Bedrängnis geraten war, noch einmal Zeit zum Luft holen bekommen. Das Rückrat der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD), die YPG, haben die Operation gestoppt und eigene Einheiten in den Norden entlang der türkischen Grenze verlegt. Die Kurden versuchen derzeit der USA zu Folgendes klar zu machen: „Wenn du den Krieg gegen den IS fortsetzen möchtest, stoppe die Türkei“. Die USA wollte während der ‚Operation Olivenzweig‘ in Afrin nicht in Konfrontation mit der Türkei geraten. Bezüglich potentieller türkischer Angriffe auf die vom IS befreiten Gebiete hat die USA die Türkei entweder abgeschreckt oder beschwichtigt. Das sofortige Handeln des Pentagon und das Telefongespräch zwischen Trump und Erdogan nach den letzten Angriffen der Türkei zeigen, dass die USA noch nicht an dem Punkt sind die Kurden fallen zu lassen. Natürlich kann sich diese Situation im Falle neuer Entwicklungen schnell verändern. Auch die Kurden sehen die USA nicht als einen absoluten Garanten für sich an. In jedem Fall wird die USA ihre Partnerschaft mit der QSD solange fortsetzten, bis die eigene Agenda in Syrien für vollbracht erklärt wird. So lange werden die Spannungen in den türkisch-amerikanischen Beziehungen andauern.

Die Interventionsdrohung kann die Kurden noch mehr zu Verhandlungen mit Damaskus bewegen, doch auch das wäre kein Ergebnis im Sinne Ankaras. Russland hingegen unterstützt diese Option. Im Sinne Erdogans hingegen ist die endgültige und absolute Zerschlagung der Gebiete östlich des Euphrats.

Die Folgen der türkischen Syrien-Träume nehmen somit konkrete Formen an: Auf der einen Seite verspricht die Türkei der Opposition ein ‚demokratisches Syrien‘ und unterstützt dabei insgeheim dschihadistische Kräfte. Auf der anderen Seite macht sich die Türkei gegenüber den Kurden für eine Kontinuität des Baath-Systems in Syrien stark. Haben denn das Verbrennen von tausenden kurdischen Dörfern in der Südosttürkei in den 1990ern Jahren und zuletzt die Zerstörung der Städte Cizre, Nusaybin und Sur die Probleme mit den Kurden gelöst, sodass nun dieselbe Zerstörungspolitik zu Ergebnissen in Syrien führen könnte? Als ob die Sabotage einer gemeinsamen Zukunft von Türken und Kurden in der Türkei nicht reicht, wird mit den grenzüberschreitenden Abenteuern der Türkei nun auch eine demokratische Lösung in Syrien untergraben. Kurz gefasst: Man kippt Öl ins Höllenfeuer.

Im Original erschien der Artikel am 02.11.2018 unter dem Titel “Bu cehenneme ateş lazım!” auf der Homepage des Nachrichtenportals Gazete Duvar.