Türkei setzt erneut auf Totalisolation Öcalans – Ende des Lösungsprozesses?

ocalan_newrozCivaka Azad – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V., 12.07.2015

Seit dem 05. April 2015 gelangt kein Lebenszeichen des auf der türkischen Gefängnisinsel Imrali inhaftierten PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan an die Öffentlichkeit. An jenem Datum wurde durch das türkische Justizministerium zum letzten Mal im Rahmen des Lösungsprozesses der Besuch einer Delegation der HDP – auch Imrali-Delegation genannt – zu Öcalan gestattet. Seitdem wird der PKK-Vorsitzende, der zugleich der Hauptverhandlungspartner bei den Gesprächen für eine Lösung der kurdischen Frage ist, erneut verschärften Isolationsbedingungen ausgesetzt. Diese Situation kommt de facto einer Beendigung des Lösungsprozesses in der kurdischen Frage gleich.

Wer ist Abdullah Öcalan?

Abdullah Öcalan wird von Kurdinnen und Kurden als ihr politischer Repräsentant angesehen. Als ihr bedeutendster Vertreter im Kampf um Rechte und Demokratie gilt er als Symbol für die Freiheit der KurdInnen. Er ist der Vorsitzende der 1978 gegründeten Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und setzt sich in dieser Funktion seit Anfang der 1990er Jahre für eine politische Lösung der kurdischen Frage ein. Er wendet sich gegen Separatismus und Sezessionismus und präsentiert als Lösungsperspektive einen demokratischen Mittleren Osten mit gleichberechtigten Völkern. Auch nach seiner internationalen Verschleppung und Auslieferung in die Türkei am 15. Februar 1999 setzte sich Öcalan von der Gefängnisinsel Imrali, auf der er eine lebenslängliche Haftstrafe verbüßt, weiterhin für eine friedliche Lösung im türkisch-kurdischen Konflikt ein. Der Anfang 2013 aufgenommene Lösungsprozess zwischen dem türkischen Staat und der PKK sind im Wesentlichen auf diese Bemühungen Öcalans zurückzuführen.

An einer weltweit geführten Unterschriftenkampagne für die Freiheit von Abdullah Öcalan, die im September 2012 mit 1000 namhaften ErstunterzeichnerInnen initiiert worden war, beteiligten sich bis Anfang des Jahres 2015 mehr als 10,3 Millionen Menschen [1]. Das TIME Magazine kürte ihn 2013 zu einer der 100 weltweit einflussreichsten Persönlichkeiten.

Friedensinitiativen Öcalans

Öcalan war die treibende Kraft hinter der Verschiebung des Schwerpunkts der kurdischen Bewegung von einer hauptsächlich militärisch orientierten auf eine primär politisch und friedlich ausgerichtete Strategie. Seit dem ersten einseitigen Waffenstillstand der PKK im Jahr 1993 bemüht er sich kontinuierlich intensiv um eine friedliche Lösung in der kurdischen Frage. Zwischen Öcalan und der AKP-Regierung kam es bereits im Jahr 2009 zu Gesprächen und Verhandlungen über eine friedliche Beilegung des Konflikts. Neben den Konsultationen mit Öcalan auf Imrali führten Vertreter des türkischen Staates bis Mitte 2011 auch direkte Gespräche mit führenden PKK-Mitgliedern in der norwegischen Hauptstadt Oslo, weswegen diese Gespräche später unter dem Namen Oslo-Prozess bekannt werden sollten. Die Gespräche zwischen den Konfliktparteien mündeten schließlich in eine gemeinsame Übereinkunft, die in Form von drei Protokollen festgehalten wurden. Diese Protokolle enthielten einen Stufenplan, auf dessen Grundlage der bewaffnete Konflikt beendet und eine politische Lösung der kurdischen Frage ermöglicht werden sollte. Die türkische Regierung entschied sich jedoch, diesen Plan nicht umzusetzen, sondern weitete die Verhaftungswellen gegen kurdische Politiker und Aktivisten aus und begann im Juni 2011 massive Militäroperation. Es dauerte schließlich bis Anfang des Jahres 2013, bevor eine poltische Lösung in der kurdischen Frage, dieses Mal unter dem Label „Lösungsprozess”, auf die Tagesordnung kommen sollte.

Staatspräsident Erdoğan stoppt die Friedensgespräche

„Im seit fast zweieinhalb Jahren andauernden Friedensprozess wurde in Hinsicht auf die Schaffung eines nachhaltigen Friedens eine bedeutende Etappe erreicht“, erklärte Idris Baluken, Mitglied der Imrali-Delegation, am 19. Mai auf einer Presseerklärung zu dem Abbruch der Gespräche im Lösungsprozess. Doch dann sei es durch eine Intervention des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan zu einem abrupten Ende der Friedensgespräche gekommen. Tatsächlich erreichte der Lösungsprozess, kurz bevor sich Erdoğan zu Wort meldete, seinen vorläufigen Höhepunkt und weckte die Hoffnungen auf eine baldige Lösung in der kurdischen Frage. In einer gemeinsamen Erklärung der Imrali-Delegation und Vertretern der türkischen Regierungspartei wurde am 28. Februar 2015 im Dolmabahçe-Palast ein 10-Punkte-Plan[2], der den Rahmen für die Friedensverhandlungen zwischen den Konfliktparteien darlegt, mit der Öffentlichkeit geteilt. Doch kurz nach dem Aufkeimen der Friedenshoffnungen kritisierte Erdoğan sowohl die gemeinsame Erklärung im Dolmabahçe-Palast als auch den Inhalt des 10-Punkte-Plans. Es gäbe weder einen Verhandlungstisch, noch eine kurdische Frage, machte Erdoğan klar, was einem Befehl für den Abbruch des Lösungsprozesses gleichkam. Die erneute Totalisolation Abdullah Öcalans seit dem 04. April ist ein Ergebnis dieses Abbruchs.

KCK: Mit der Isolation Öcalans wird die kurdische Bevölkerung erpresst

In einer schriftlichen Erklärung vom 08. Juli 2015 kritisierten die Kovorsitzenden des Exekutivrates der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) die erneute Totalisolation des PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan durch den türkischen Staat mit deutlichen Worten. Die KCK erklärte, dass die Haftbedingungen Öcalans zugleich einen Gradmesser für die Lösungsbereitschaft des türkischen Staates in der kurdischen Frage darstellen. „Sollte er weiterhin unter diesen unfreien Bedingungen gehalten und die Isolation aufrecht erhalten werden, so wird es bedeuten, dass es keine Lösungswillen in der kurdischen Frage gibt“, so die KCK. Weiter heißt es in der Erklärung: „Der Vorsitzende Öcalan wird weiterhin wie eine Geisel behandelt. Mit seiner Gefangenschaft wird das kurdische Volk erpresst. Diese Politik hält seit dem Tag seiner Gefangenschaft an. Auch als Gespräche mit ihm geführt wurden, war die Haltung dieselbe.“ Obwohl Öcalan seit dem Regierungsantritt nun der AKP im Jahr 2002 ununterbrochen versuche, diese zu einer politischen Lösung zu bewegen, habe die Regierungspartei mit Hinhalte- und Täuschungsmanövern diese Bemühungen ins Leere laufen lassen.

„Die Deklaration in Dolmabahçe weckte große Hoffnungen. Aber die AKP und Erdoğan, die für eine Lösung keine Politik und keinen Willen besitzen, traten mit der Äußerung „Es gibt Partei Vereinbarung, keinen Verhandlungstisch und keine kurdische Frage“ von der Schwelle zurück und stellten somit klar, dass sie nicht in den Lösungsprozess einsteigen werden. Daraufhin wurden die Gespräche mit unserem politischen Vertreter und Hauptverhandler Öcalan beendet, alle Besuchsanträge seiner Familie und Anwälte als auch der HDP-Delegation abgelehnt“, erklären die Kovorsitzenden des KCK-Exekutivrates weiter. Öcalan werde durch die AKP-Regierung weiterhin als Geisel behandelt und mit seiner Isolation werde die kurdische Bevölkerung erpresst. Die KCK erklärt, „die Freiheit unseres Vorsitzenden hat unmittelbar mit der Demokratisierung der Türkei und Lösung der kurdischen Frage zu tun“ und ruft aus diesem Grund alle demokratischen und fortschrittlichen Kreise dazu auf, mit den Forderungen nach der Aufhebung der Isolationshaftbedingungen und der Freilassung von Abdullah Öcalans auf die Straßen zu gehen.

Anwälte protestieren gegen die Isolation Öcalans

In einer Presseerklärung wandte sich am 08. Juli 2015 auch die Zweigstelle Istanbul des Vereins der Freiheitlichen Anwälte, dem auch die Anwälte Abdullah Öcalans angehören, an die Öffentlichkeit und kritisierte darin, dass der türkische Staat mit einer willkürlichen Politik, die noch nicht einmal das türkische Strafrecht respektiere, die Isolation des PKK-Vorsitzenden aufrecht erhalte. „Wir beantragen wöchentlich bei der Oberstaatsanwaltschaft Bursa Konsultationen mit Herrn Öcalan und unseren anderen Mandanten. Aber die Gefängnisverwaltung, das Justizministerium und die eigentlichen Verantwortlichen, also die Regierung, treten das Recht mit Füßen und beantworten unsere Besuchsanträge mit unethischen Ausreden wie „Boot ist kaputt“, „schlechte Wetterlage“, „Boot ist in Reparatur“ etc. Seit Jahren wird so deutlich, wie der Staat nicht einmal das in den eigenen Gesetzen vorgesehene Recht auf Konsultation mit einem Anwalt anerkennt“, heißt es unter anderem in der Erklärung.

Sowohl in Istanbul und Ankara, als auch in verschiedenen kurdischen Städten wie Amed (Diyarbakir), Mêrdîn (Mardin), Êlih (Batman) und Wan (Van) sind in den vergangenen Tagen Anwälte auf die Straßen gegangen, um gegen die Isolationsbedingungen des PKK-Vorsitzenden zu protestieren. Bei einem Sitzstreik vor dem Istanbuler Justizgebäude in Çağlayan erklärte der Co-Vorsitzende des Vereins der Freiheitlichen Anwälte, Ömer Güneş, dass die Ergebnisse der Parlamentswahlen vom 07. Juni zwar eine Manifestation des Friedenswillens der Bevölkerung darstellt, die türkische Regierung sich derzeit aber entgegen diesem Willen für einen Krieg vorbereite. „Herr Öcalan konnte zum letzten Mal mit der Imrali Delegation am 05. April 2015, mit seinen Familienangehörigen am 06. Oktober 2014 und mit seinen Anwälten am 27. Juli 2011 sprechen“, so Güneş, der eine sofortige Beendigung der Isolation und eine Wiederaufnahme der Friedensgespräche forderte.

Annäherung an Öcalan Gradmesser für Aussicht auf eine Lösung im türkisch-kurdischen Konflikt

Die Person Abdullah Öcalans ist weiterhin von zentraler Bedeutung für den Lösungsprozess und die Aussicht auf eine friedliche Beilegung des Konflikts. Der PKK-Vorsitzende ist nicht nur trotz seiner widrigen Haftbedingungen vehementer Verfechter einer politischen Lösung in der kurdischen Frage, er gilt auch weiterhin als einflussreiche Führungspersönlichkeit unter der kurdischen Bevölkerung und könnte somit den größten Teil der Kurden von einer friedlichen Beilegung des Konflikts überzeugen. Doch hierfür muss zunächst auch die türkische Regierung ihren Friedenswillen unter Beweis stellen. Mit welcher Ernsthaftigkeit die AKP-Regierung hinter dem Lösungsprozess in der kurdischen Frage steht, lässt sich an ihrem Umgang mit dem inhaftierten PKK-Vorsitzenden – dem Hauptverhandlungspartner im Lösungsprozess – deutlich erkennen. Die erneute Totalisolation Öcalans kommt einer einseitigen Beendigung des Lösungsprozesses durch die türkische Regierung gleich. Wirkliche Verhandlungen über eine Lösung der kurdischen Frage hingegen können nur mit der Freilassung des PKK-Vorsitzenden aus dem Isolationsgefängnis von Imrali einhergehen.

[1] https://www.nadir.org/nadir/initiativ/isku/erklaerungen/2015/02/04.htm

[2] http://civaka-azad.org/offizielle-erklaerung-zum-verhandlungsbeginn-zwischen-der-tuerkei-und-der-pkk/

 

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Das aktuelle Flugblatt der Internationalen Initiative “Freiheit für Öcalan – Frieden in Kurdistan” zu der Situation Öcalans finden Sie HIER