Über die Notwendigkeit einer neuen Verfassung für die Türkei

ayla akat ataDie Arbeit der Verfassungskommission
Ayla Akat Ata, Juristin und BDP-Abgeordnete für Êlih (Batman)

Die Partei für Frieden und Demokratie (BDP), die in der Tradition früherer verbotener kurdischer Parteien steht, hat sich wie diese stets für eine zivilgesellschaftliche Teilhabe am Prozess der Ausarbeitung einer neuen demokratischen Verfassung eingesetzt. Denn diese ist für einen gesellschaftlichen Frieden unabdingbar und nötiger denn je.

Der gesellschaftliche Ruf in der Türkei nach einer neuen Verfassung kann mittlerweile weder von der Regierung noch von der Opposition ignoriert werden, sodass dieses Thema gleich nach der Kommunalwahl von 2011 auf die Agenda rückte.

Letztendlich wurde dann die »Kommission für einen Verfassungskompromiss« aus vier politischen Parteien [(Regierungs-)Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP), Republikanische Volkspartei (CHP), Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) und BDP] mit jeweils drei VertreterInnen unter der Leitung des Parlamentspräsidenten Cemil Çiçek gebildet. Ihre erste Sitzung fand im Oktober 2011 statt. 

Da diese Kommission regelmäßig zusammentreten sollte, wurden auf ihrer ersten Sitzung Richtlinien verabschiedet, die Arbeitsweise und Ziele festlegten. Des Weiteren wurde publik gemacht, dass der Prozess der Teilhabe und Formulierung innerhalb eines Jahres abgeschlossen sein werde. Die BDP sprach sich aufgrund der kurzen für die Ausarbeitung zur Verfügung stehenden Zeitspanne und der damit verbundenen defizitären Teilhabe am Entstehungsprozess gegen diesen Vorschlag aus und schlug einen längeren Zeitraum vor. Kritik und Vorschlag wurden von der Kommission jedoch nicht berücksichtigt.

Uns war es auch ein dringendes Anliegen, im Zuge eines Demokratisierungsprozesses die Normen, die z. B. die Meinungsfreiheit oder das Organisationsrecht einschränken, zu überarbeiten. Der von uns »Säuberungsprozess« genannte Ansatz wurde jedoch von der Kommission zurückgewiesen, sodass über diese Normen kein Kompromiss erzielt werden konnte.

Aus dem Wesen der Kommission war zu ersehen, dass sie ihre Arbeit nicht binnen eines Jahres abschließen können würde, so brachte die Regierung ihren Unmut darüber öffentlich zum Ausdruck und fügte somit der Kommissionsarbeit weiteren Schaden zu. Da die Kommission seit Ende 2012 ihre Arbeit unter Zeitdruck fortführt, ist diese nicht gerade effizient verlaufen und das Arbeitsklima hat gelitten. Die Zivilgesellschaft in der Türkei verspürt ein enormes Verlangen nach einer neuen Verfassung, sodass diese Kommission eine historische Mission hat. Von der Regierung wird, da sie eine neue Verfassung während des Wahlkampfs versprochen hat, erwartet, dass sie sich dieser Pflicht bewusst ist und sie erfüllt.

Die Kommission ist mit dem ersten Entwurf so gut wie fertig. Bei der Vorgehensweise wurde sich darauf geeinigt, dass er der Öffentlichkeit präsentiert und anschließend noch einmal überarbeitet werden und seine letzte Form erhalten soll. Die Kommission hat bis zur Sommerpause des Parlaments 175 Verfassungsartikel thematisiert; bei 59 Artikeln hat sie sich geeinigt, bei 68 besteht teilweise Übereinkunft und bei 48 kam es zu gar keinen Kompromissen.

Statistische Erhebungen in der Türkei haben ergeben, dass die Gesellschaft sich durch eine neue Verfassung eine Lösung verspricht für: eine Demokratisierung der Türkei, die kurdische Frage und somit den gesellschaftlichen Frieden. Wir haben als BDP stets betont, dass zur Lösung eben dieser Probleme die neue Verfassung die Begriffe »StaatsbürgerInnenschaft«, »Religions- und Gewissensfreiheit«, »Beziehung zwischen zentraler und regionaler Autorität« und »Muttersprache« neu definieren muss. Dabei haben wir bis auf einen partiellen Kompromiss zwischen zwei Parteien keinen Fortschritt erzielen können. Daher können wir nicht behaupten, dass der nun zu präsentierende Entwurf zur Entspannung der Lage beitragen wird, geschweige denn eine Demokratisierung bedeutet.

Wir als BDP haben uns durch eine neue Verfassung erhofft, auch die Persönlichkeitsrechte und das Verhältnis von BürgerIn und Staat im Rahmen der »Menschlichkeit« neu definieren zu können. Dagegen mussten wir feststellen, dass gar bei einem so fundamentalen Recht wie dem »Recht auf muttersprachlichen Unterricht« die Regierungspartei die Aufhebung des Verbots für ausreichend erachtet und die anderen beiden Parteien MHP und CHP es weiterhin verbieten wollen. Wir sind der Überzeugung, dass so fundamentale Rechte nicht den untergeordneten Normen überlassen werden dürfen, so wie es sich die AKP wünscht, sie müssen Eingang finden in die Verfassung eines sich als demokratisch bezeichnenden Staates.

Die Regierungspartei hatte eigentlich verlautbart, die Verfassungskommission könne ihre Arbeit bis zum 1. Juli 2013 fortsetzen. Nach diesem Zeitpunkt sollte der Entwurf dem Parlamentspräsidenten übergeben und im Anschluss der Öffentlichkeit präsentiert werden. Da allerdings noch keine abschließende Einigung über den Verfassungsentwurf erreicht werden konnte, wird die Arbeit der Kommission nach der Sommerpause des Parlaments im Oktober fortgesetzt. Insbesondere bei den Diskussionen über die ersten fünf Artikel der neuen Verfassung werden schwierige Verhandlungen erwartet. Die 59 Artikel, bei denen die Kommission zu einer Einigung gelangt ist, wurden hingegen bereits dem Parlamentspräsidenten Cemil Çiçek vorgelegt.

Es gilt hervorzuheben, dass diese Kommission eine Wende darstellt, da sich hier alle im Parlament vertretenen Parteien gleichberechtigt eingefunden und alle Themenbereiche vom AKP-Vorschlag des Präsidialsystems bis hin zum BDP-Modell der »Demokratischen Autonomie« thematisiert haben. Auch wenn sie keinen zufriedenstellenden Kompromiss zustande gebracht hat, so ist doch von großer Bedeutung, dass alle verfassungsrelevanten Aspekte im Zuge des Prozesses thematisiert werden konnten.

Wir können aufgrund der Aussagen der Regierungspartei nach der Präsentation des Verfassungsentwurfs zwei alternative Entwicklungen erwarten. Da wäre zum ersten, dass die AKP die Artikel mit erfolgreichem Beratungskompromiss übernimmt und die weiteren durch ihre Vorschläge ergänzt. Alternativ könnten die Bemühungen um eine neue Verfassung gestoppt und Reformen im Rahmen eines Referendums angesetzt werden. In diesem Falle können wir lediglich minimale Verbesserungen in der »staatsbürgerlichen« und der »muttersprachlichen« Frage erwarten.

Wir, die BDP, betrachten dies auch als eine Gelegenheit zur Behebung des offensichtlichen Charakters des Militärputsches von 1980, da die Verfassung von 1982 dessen Produkt ist und ihr somit dessen Geist innewohnt. Gleich zu Beginn des Verfassungstextes wird ein klarer Bezug zur »türkischen Nation« hergestellt und somit zur Negation anderer Nationen in der Türkei, sodass hier die staatliche Einseitigkeit auf ein rechtliches Fundament gestellt wird. Selbstverständlich kann die Verfassung allein nicht alle Probleme lösen, also muss hier auch ein Justizapparat mit einem freiheitlich-demokratischen Verständnis aufgebaut werden. Die Verfassung von 1982 ist durch diejenige von 1924 geprägt, sodass sie aufgrund ihres Bezugs allein auf die türkische Ethnie auch einen einseitigen und ausgrenzenden Charakter trägt. Viele Gesetze und Normen wurden eben entsprechend diesem Charakter verfasst, so bilden sie das Hindernis für die Ausübung fundamentaler Rechte.

Der verfassungsrechtliche Bezug auf die »türkische Nation« verhindert eine pluralistische und egalitäre Verfassung, obwohl die heutige Türkei Erbin des Osmanischen Reiches und eine pluralistische Gesellschaft somit mehr als offensichtlich ist. Wenn die jetzige Regierung sich der aktuellen Phase bewusst ist und ernsthaft einen Frieden anstrebt, so muss sie primär alle verfassungsrechtlichen Bezüge auf Rasse, Religion und Sprache aus der Verfassung tilgen. Außer der BDP hat keine der anderen drei Parteien einen Vorschlag eingebracht, der die vorherrschende Auffassung infrage stellt. Der AKP-Vorschlag besagt, »die offizielle Staatssprache ist Türkisch«, und versucht somit, eine Besserung zu erreichen. Dabei weist derselbe Vorschlag an zwei Stellen klar auf die türkische Nation hin. Die CHP hat ganz im Sinne der offiziellen Ideologie einen klaren Bezug zur türkischen Ethnie hergestellt und die Staatssprache auf Türkisch festgelegt.

Ein Bezug auf eine Ethnie in einer Verfassung bedeutet die Verleumdung und Unterdrückung anderer Ethnien. Daher ist in einem solchen Fall unmöglich von einer demokratischen Verfassung zu sprechen. Deshalb muss die neue Verfassung der Türkei alle Ethnien, Religionen und Sprachen in einem egalitären Verhältnis erfassen und somit gewährleisten, dass die Einheit im Staate auf freiwilliger Basis beruht. Selbstverständlich müsste eben eine solche Verfassung auch durch die Demokratisierung der untergeordneten Normen gestützt werden. Daher muss das Antiterrorgesetz, welches das Rechtsgefühl zerstört hat, getilgt werden. Daneben ist es unabdingbar, dass Straf-, Parteien-, Wahl-, Organisations-, Polizei- und Strafvollstreckungsrecht sowie das Allgemeine Zuständigkeitsgesetz im Sinne demokratischer Werte reformiert werden. Diese Gesetze wirken äußerst einschränkend auf die elementarsten Grundrechte wie Meinungsfreiheit und Organisationsrecht, sodass ihre Reform in demokratischem Sinne erheblich zu einer Demokratisierung der Türkei beitragen wird.

Die Partei für Frieden und Demokratie setzt sich für die ungehinderte Gewährung der Freiheitsrechte ein und fordert deren Manifestation in der neuen Verfassung. Daher haben wir auch der Verfassungskommission Vorschläge unterbreitet zu den schutzbedürftigen Rechten wie Frauenrechte, Recht auf kulturelle Identität, Recht auf Frieden und Wahrheit, Recht auf Muttersprache, Rechte für Minderjährige. Es gilt hervorzuheben, dass einzig und allein die BDP vorgeschlagen hat, die Frauenrechte als eigenständig in den Grundrechtebereich aufzunehmen. Unsere Bemühungen haben in diesem Falle als erwähnenswertes Ergebnis folgenden Kompromiss hervorgebracht: »Der Gesetzgeber hat dafür Sorge zu tragen, dass Frauen bei ihren Aufgaben in Positionen, in die sie demokratisch gewählt wurden, bei ihren beruflichen Chancen und der Übernahme sozialer Verantwortung dem Manne gleichberechtigt sind.«

Es ist von erheblicher Bedeutung, dass alle gesellschaftlichen Gruppen am Prozess zur Formulierung der neuen Verfassung beteiligt werden. Die Ergebnisse der Verfassungskommission nach anderthalbjähriger Tätigkeit sorgen in der Öffentlichkeit nicht gerade für Vertrauen in ihre Arbeit. Um gesellschaftlichen Frieden schaffen zu können, darf die Verfassung nicht dem Monopol einer politischen Partei unterliegen, sodass hier dringend politische Interessen hintangestellt werden müssen. Um von der Formulierung einer demokratischen Verfassung sprechen zu können, brauchen wir unbedingt einen Kompromiss. Es ist von großer Bedeutung, auf welche Art und Weise diese Verfassung zustande kommt, denn nicht nur ihr Inhalt ist wichtig, sondern auch ihre Entstehung. Wir können nur dann von einer demokratischen Verfassung sprechen, wenn sie einer Philosophie gemäß dem Völkermosaik der Türkei entspricht und alle ethnischen, religiösen und sprachlichen Rechte unter Schutz stellt. Nur so können wir eine auf Freiwilligkeit beruhende Einheit und Freiheit der Gesellschaft erreichen.

Quelle: Kurdistan Report Nr. 169 September/Oktober 2013

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