Um den Status quo zu verändern, bedarf es der Ernsthaftigkeit…

Nihat Kaya zur regionalen Bedeutung der Forderung Barzanis nach einem Referendum über die Loslösung der Autonomen Region Kurdistan vom Irak, 29.06.2017

Es sind nur noch wenige Tage bis zur endgültigen Befreiung von Mosul vom IS. In nächster Zeit wird die vollständige Befreiung von Mosul verkündet werden. Daraufhin wird Tal Afar und Hewice folgen. Verglichen mit Mosul sind dies nicht sehr große Siedlungsgebiete. Die Befreiungsoperationen sollten nicht sehr lange andauern. Die wichtigste Frage jedoch ist: Was wird danach geschehen? Wird es eine politische Stabilität im Irak und im Mittleren Osten nach der Vernichtung des IS geben, oder nicht?

Noch bevor die Gefahr des IS vollständig getilgt ist, hat sich mit der Ankündigung eines Unabhängigkeitsreferendums der Autonomen Region Kurdistan nochmals gezeigt, wie schwer und umständlich die Gewährleistung politischer Stabilität im Irak und Mittleren Osten ist. Das Ende des IS ist besiegelt, aber ob danach eine politische Stabilität gewährleistet werden kann?

Die heutige Krise im Mittleren Osten und vor allem im Irak ist eine Fortsetzung der Irak-Invasion der USA im Jahr 2003, wenn nicht sogar des Golfkrieges 1991. Mit der Intervention der USA in die Region wurden die im Ersten Weltkrieg aufgebauten Gleichgewichte und der Status quo gebrochen, ein kurdisches Gebilde ist hervorgetreten. Auf der anderen Seite wurde im Irak eine schiitische Vorherrschaft begründet. Denn wenn man die Gründungsjahre der Abbasiden nicht mitzählt ist in der Geographie des Irak zum ersten Mal die Macht von den Sunniten in die Hände der Schiiten übergegangen. Die tausend Jahre währenden Denkschablonen der Region sind zusammengebrochen. Diese Situation war für die regionale Politik und das regionale Gleichgewicht, als auch für die Menschen aus der Region nicht sehr leicht zu verdauen. Dies waren sowieso die Hauptfaktoren für die Herausbildung des IS.

Dass der IS zu einer regionalen, vielleicht sogar globalen Bedrohung wurde und der Kampf dagegen auf gleicher Ebene geführt wird, zeigt uns, dass die Veränderungen in der Region von niemandem als ihn nicht beeinflussende interne Probleme betrachten werden können. Jede mögliche Statusveränderung hat regionale, wenn nicht sogar globale Auswirkungen.

In diesem Rahmen sind auch die Realitäten, die die Kurden betreffen, zu verorten. So wie der Sturz der sunnitischen Herrschaft im Irak und der Aufbau einer schiitischen Macht, sowie der Versuch einer IS-ähnlichen Kraft einen sunnitisch-islamischen Staat aufzubauen, regionale und globale Auswirkungen hat, hat ein autonomer Status eines der vier Teile Kurdistans eine ebenso große Wirkungskraft.

Folgende Worte des Chefs des KDP-Geheimdienstes Mesrur Barzani, der gleichzeitig auch der Sohn von Massud Barzani ist, sind ein Beweis dafür, dass er die oben genannte Realität überhaupt nicht begriffen hat: „Das Unabhängigkeitsreferendum Kurdistans ist nicht dafür gedacht, die Grenzen zwischen Südkurdistan und seinen Nachbarn anzutasten, sie sind nur dafür da, die Grenze zwischen der Region Kurdistan und dem Irak festzulegen.“

Das Problem betrifft nicht die Veränderung der Grenzen Südkurdistans mit der Türkei oder dem Iran. Allein die Veränderung des Status der Kurden im Irak wird einen regionalen Effekt haben. Die Worte des Sohns von Massud Barzani können entweder als ein mangelhaftes Verständnis für den Ernst der Lage bewertet werden oder den Versuch darstellen, sein gegenüber für dumm zu verkaufen. Doch Barzani ist sich wohl nicht bewusst, dass er mit der Türkei und dem Iran, Staaten mit tausend Jahre alter Staats- und Diplomatietradition vor sich hat. Dennoch bringt er es so weit, der Türkei und Iran zu sagen, dass es sich nur um ein Problem mit der Regierung in Bagdad handelt.

Die Wahrheit ist im Grunde, dass dies die wahren Gedanken der KDP und von Mesrur Barzani sind. Sie denken, dass die Gründung eines kleinen Staates in Südkurdistan keine Auswirkungen auf die Nachbarländer haben wird. Vielmehr machen sie Versprechungen, dass sie die Kurden unter der Herrschaft des Iran, der Türkei und Syrien nicht unterstützen werden, sogar gegen diese Kurden mit den Ländern zusammenarbeiten werden. In Wahrheit ist das Problem nicht so einfach, wie sie selbst es glauben. Denn ein Staat in Südkurdistan, egal in welcher Form, bedeutet den Zusammenbruch des Status quo in der regionalen Politik. Ein Staat im Süden bedeutet, dass auch West-, Nord- und Ostkurdistan einen Staat fordern werden. Das Problem ist nicht auf die Kurden begrenzt. Jede Veränderung des Status der Kurden wird einen Dominoeffekt auf die Region haben. Die Trennung der Kurden vom Irak bedeutet, dass die sunnitischen Araber nicht mehr unter der Macht der schiitischen Araber leben werden und sich trennen wollen. Ein Zerfall des Irak nach Konfession und Ethnie wird die Region im Allgemeinen, allen voran die Türkei, den Iran, Syrien und Jemen beeinflussen.

Die Türkei und der Iran als Kräfte des Status quo sind gegen jede noch so kleine Veränderung was den Status der Kurden betrifft. Das Ganze geht so weit, dass diese beiden Staaten, trotz größter Widerspruche und Konflikte bei anderen Angelegenheiten beim Thema Kurden und dem Status quo in der Region Freund und Verbündeter sind.

Aus diesen Gründen ist ein Referendum in Südkurdistan weder so leicht wie die KDP erwartet hat, noch ist es leicht, die regionalen Staaten so leicht zu täuschen.

Die Veränderung des Status quo ist deshalb durch die Täuschung der äußeren und inneren Kräfte nicht möglich, sondern allein durch die Stärkung der nationalen Einheit unter den Kurden und der Entwicklung der eigenen Stärke.

Im Original ist die Kolumne am 28.06.2017 unter dem Titel “Statü değişikliğinin ciddiyeti” in der Tageszeitung Yeni Özgür Politika erschienen.