Untersuchungsbericht zum Massaker von Zergelê

Zergele1Bericht der Untersuchungskommission der Demokratischen Partei der Völker (HDP) zum Massenmord im Dorf Zergelê in Kurdistan, 07.August 2015, Hewlêr (Erbil)

Begründung:

Nachdem die türkischen Streitkräfte am 1.August 2015 das innerhalb der Grenzen der Autonomen Region Kurdistans liegende Kandil Gebirge aus der Luft angegriffen hatten, erreichten uns Nachrichten und Bilder, die darauf hinwiesen, dass im Zuge dieser Luftangriffe ZivilistInnen ihr Leben verloren hatten.Im Gegensatz zu Aussagen regionaler Quellen leugneten Sprecher der AKP-Regierung sowie die offiziellen Behörden, dass  während der Angriffe ZivilistInnen gestorben seien. Unsere Kommission wurde seitens des Verwaltungsrates der Demokratischen Partei der Völker damit bauftragt, die Wahrheit über die Angriffe zu untersuchen und die vorhandenen Widersprüche aufzuklären.

Kommission:

Vom 04. bis 06. August führte unsere Kommission, bestehend aus den Abgeordneten Osman BAYDEMIR (Urfa), Prof. Dr. Kadri YILDIRIM (Siirt), Hüda KAYA (Istanbul), einem Mitarbeiter des Co-Vorsitzenden Nazmi GÜR und dem Mitglied des Zentralausschusses Hatice ALTINIŞIK, Gespräche in Hewlêr (Erbil), Kandil, Sulaimaniyya und mit Vertretern der Autonomen Region Kurdistans. Im Zuge all unserer Arbeiten wurden wir von den Hewlêr-VertreterInnen der HDP(Demokratische Partei der Völker), Şilan EMİNOĞLU  und Abit IKE, begleitet.

Vorgehensweise:

Unsere Kommission besuchte zusammen mit Nevzat Hadi, dem Gouverneur von Erbil, die durch den Luftangriff der türkischen Streitkräfte verletzten ZivilistInnen in den Krankenhäusern. Das von den Bombardements betroffene Dorf Zergelê wurde besucht und die durch die Bombardements entstandenen Verwüstungen vor Ort festgestellt. Es wurden ebenfalls Gespräche mit den überlebenden Dorfbewohnern geführt. Die Untersuchung wurde gemeinsam mit dem Gouverneur, dem Oberbürgermeister und dem Bürgermeister von Revandus durchgeführt. Desweiteren fanden in Sulaimaniyya Treffen mit der Goran-Bewegung, der Partei Yekîtî und mit Tevgera Azad statt.

Unsere Kommission hat in Erbil Gespräche mit dem Präsidenten der Autonomen Region Kurdistans, Mesud Barzanî, und dem Ministerpräsidenten der kurdischen Regionalregierung, Nêçîrvan Barzanî, geführt.

Der nachfolgende Bericht basiert auf all unseren Beobachtungen, den Treffen, welche wir mit den überlebenden ZivilistInnen, den oben genannten regionalen Akteuren und den Zuständigen der Regionalregierung geführt haben.

Krankenhausbesuche:

Die durch die Luftoffensive schwerverletzten ZivilistInnen Muhammed Emin (1971) und Şükriye Ahmed wurden am 4.August 2015 in Krankenhäusern in Erbil besucht. Der schwerverletzte Muhammed Emin, der sich zu diesem Zeitpunkt auf der Intensivstation befand, konnte nicht befragt, nur ein Gespräch mit Şükriye Ahmed konnte geführt werden. Neben den nachfolgenden Namen, welche die Luftoffensive überlebt haben, wurden auch im Dorf Zergelê ZivilistInnen zu den Bombardments befragt.

Unsere Untersuchungen ergaben, dass die Überlebenden der türkischen Luftangriffe, Şükriye Ahmed Mirmuhammed, Gurbet Ahmed Mirmuhammed, Hatice Muhammed Süleyman, Muhammed Emin Hıdır Muhammed Emin, Abdullah İbrahim Resul, İsmail Abdullah Kadir, Cegır Cabar Hıdır, Muhammed Hasan Resul, Hasan Ebubekir Ali, Davut Hüseyin Ali, Hıdır Muhammed Emin Hıdır, Çilan Reşit Ahmed, Abdullah İbrahim Mahmut, Ayşe Muhammed Emin, Senur Melan, Siyabend Abdurrahman, Helat Cahit, Rahman Sofi Mina, Şina Hüseyin Ali, Selim Hıdır Hamed Emin, Hıdır Hamed Emin Resul Muhammed Emin, Ana Hamed Salih, Pavel Dılşad Hıdır Hamed Emin (8), Muhammed Dılşad, Muhammed Emin (5), Mehri Aziz Veli, Fettah Osman Hamed Emin allesamt ZivilistInnen sind, die sich mit Landwirtschaft, Viehzucht und Wirtschaft in Zergelê beschäftigen.

Besuch im Dorf Zergelê und Feststellungen:

Das Dorf Zergelê; welches wir am Vormittag des 5.August 2015 erreichten, ist ein Siedlungsort, der sich im Tal des Kandilgebietes befindet und von dem dortigen Bach und der Hauptstraße geteilt wird. Sowohl während unseren Besprechungen im Dorf Zergelê als auch bei unseren Treffen mit den regionalen Akteuren wurde das Unbehagen darüber zum Ausdruck gebracht, dass das Dorf als Camp dargestellt wird. Auch wir können bestätigen, dass das Dorf Zergelê ein Siedlungsort mit mindestens 37 Häusern, einer Moschee, einem Rathaus, einer Schule und mehreren Ställen ist. Diese Tatsache wurde auch während unseres Besuches im Dorf durch nationale und internationale Medien aufgezeichnet.

Während unseres Besuches konnten wir feststellen, dass

  1. das Haus und das Auto von Selim Hidir Hamen
  2. das Haus von Cegir Cabar Hidir
  3. das Haus von Dılşad Hıdır Hamed Emin
  4. das Haus von Hıdır Hamed Emin
  5. das Haus und das Auto von Karox Hamed Emin
  6. das Haus von Necip Rojhelat
  7. und das Haus und der Stall von Zagros Rojhelat stark beschädigt worden waren.

Die Phasen des Bombardements und die Zeugen:

Laut den überlebenden Dorfbewohnern wurde die Gegend ein bis zwei Tage vor den Luftangriffen von unbemannten Luftfahrzeugen umfassend untersucht; uns wurde mitgeteilt, dass der erste Luftangriff am 01.August 2015 ungefähr um 4 Uhr morgens begann und das Dorf mindestens drei Mal bombardiert wurde.

Der erste Angriff:

Etwa gegen 4 Uhr waren Flugzeuge zu hören, es folgten Explosion. Das vom Bombardement betroffene Haus wurde dem Erdboden gleichgemacht und die 70-jährige Ayşe  Ahmed Mustafa wurde bei diesem Angriff getötet.

Der zweite Angriff:

Während die Dorfbewohner versuchten, die unter den Trümmern ihres Hauses begrabene Ayşe Ahmed Mustafa zu retten, kam es um etwa 04:50 Uhr zum zweiten Angriff. Laut den Augenzeugen kam es im Zuge dieses Angriffes  in kurzen Abständen zu vier verschiedenen Explosionen, die alle von Raketenabwürfe aus den Flugzeugen herrühren. Durch diesen zweiten Angriff sind die Zivilisten Hybet Resul Muhammed Emin (60), Karox Muhammed Emin Hidir, Abdulkadir Ebubekir Ali und Necip Abdullah, die zum Angriffszeitpunkt versuchten, Ayşe Ahmed Mustafa aus den Trümmern zu retten, ums Leben gekommen.

Der dritte Angriff:

Während die Dorfbewohner nach den ersten beiden Angriffen versuchten, die verletzten Menschen aus den Trümmern zu retten, kam es um etwa 05:10 Uhr zum dritten Angriff, bei dem vier verschiedene Raketen abgeschossen worden sind.

Wir sind zu der Erkenntnis gekommen, dass im Zuge dieses zweistündigen Bombardements acht unbewaffnete und unschuldige Menschen ermordet worden sind.

Die menschliche Tragödie nach den Angriffen:

Durch den Luftangriff vom 01.August 2015 wurden sechs Häuser dem Erdboden gleichgemacht, die Moschee im Dorf, die Schule und alle weiteren Dorfhäuser wurden beschädigt. Aus Sorge und Furcht haben alle Dorfbewohner das Dorf verlassen. Auch die Dorfbewohner der Dörfer Bukrisan, Livjan, Enzi und Pırdesali, welche sich alle in der Nähe des Dorfes Zergelê befinden, haben aus Angst und Sorge, da das türkische Militär weiterhin die Gegend erkundet und weitere Angriffe nicht auszuschließen sind, ihre Dörfer  verlassen. Mehr als 1000 Menschen, darunter Frauen, Kinder und Alte, befürchten nach wie vor, dass weitere Angriffe möglich sind.

Der Bürgermeister des Dorfes Bukriskan, Salih Resum Muhammed Emin, war auf dem Weg zu seiner Schwester in Zergelê, als er sein Leben verlor.

Ein weiteres Todesopfer, Necip Abdullah, hinterläßt seine Frau Mehri Aziz Veli und drei Kinder im Alter von sechszehn, zwölf und vier Jahren. Mehri Aziz Veli betonte, dass ihr Haus wegen Angriffen des iranischen Regimes und der türkischen Luftwaffe zum dritten Mal zerstört worden sei und sie bei diesem jüngsten Angriff sowohl ihr Haus als auch ihren Mann verloren habe.

Der im Zuge der Angriffe getötete Karox Muhammed Emin (26) hinterläßt seine Frau und seine drei Töchter Sina (7), Sibel (5) und die erst drei Monate alte Senem.

Der Kandil wird der türkischen Öffentlichkeit als ein Camp der PKK vorgestellt, aber er ist ein sehr großes geografisches Gebiet, welches bis zu hundert verschiedene Siedlungen und Dörfer umfasst. Im Sommer vervielfacht sich wegen Landwirtschaft und Viehzucht die Bevölkerungszahl.

Die von den Bombardements betroffenen Dorfbewohner, die wir persönlich getroffen haben, sind der Meinung, dass diese Angriffe ein bewusster Massenmord an den ZivilistInnen sind und eines der Hauptziele die Zwangsdeportation der Dorfbewohner im Kandilgebiet sei.

Viele Quellen, mit denen wir Gespräche geführt haben, können bestätigen, dass sich im Kandilgebiet Guerillaeinheiten der PKK befinden. Aber gleichzeitig wird auch betont, dass die Guerillaeinheiten sich nicht in den Dörfern aufhalten und die Camps der Guerilla sich nicht in der Nähe der Dörfer befinden. Außerdem sagen manche Quellen, dass es gemäß ihrer eigenen internen Gesetzen verboten sei, dass sich PKK-KämpferInnen in den Siedlungsgebieten von ZivilistInnen aufhalten und engen Kontakt mit diesen haben. Alle, die gegen diese Regel verstoßen, würden disziplinarisch belangt. Aus diesem Grund bezeichnen sie die Luftangriffe auf das Dorf Zergelê als eine Drohung an alle ZivilistInnen, die in diesem Gebiet leben, damit sie ihre Wohnorte verlassen.

Feststellungen:

Im Zuge der Gespräche, die mit den Verletzten in den Krankenhäusern in Erbil, den Dorfbewohnern von Zergelê, den politischen Parteien und den Behörden geführt worden sind, ist unsere Kommission zu folgenden Feststellungen gekommen:

Es wurde festgestellt, dass das Dorf Zergelê, welches von den Luftangriffen getroffen wurde, entgegen allen offiziellen Aussagen der Regierung in Ankara kein Camp der PKK, sondern ein Siedlungsgebiet von ZivilistInnen ist.

Kandil ist ein weitreichendes Gebiet, welches bis zu hundert Dörfer umfasst. Alle regionalen Quellen betonen, dass die PKK weder in diesen Siedlungsgebieten noch in der Nähe dieser Gebiete je ein Camp hatte noch hat.

Die Aussagen der offiziellen türkischen Behörden, dass sie die Regierung der Autonomen Region Kurdistans über die Luftangriffe im Vorhinein informiert hätten, entsprechen nicht der Wahrheit. Denn die Regierung der Autonomen Region Kurdistans wurde nach den Luftangriffen benachrichtigt.

Die Aussagen der Regierung in Ankara, auch die Behörden der Autonomen Region Kurdistans hätten diese Angriffe unterstützt, entsprechen nicht der Wahrheit. Im Gegenteil betonten alle offiziellen Behörden, mit denen wir verschiedene Gespräche geführt haben, ihre Unzufriedenheit über die Luftangriffe und deren Konsequenzen.

Die Luftangriffe und ihre Konsequenzen stellen eine Verletzung der Menschenrechte dar. Denn die Staatsgrenzen eines anderen Landes wurden 150 km überschritten, ein Dorf bombardiert und im Zuge dieser Angriffe ein Massenmord an ZivilistInnen begangen.

An diesem Verstoß gegen die internationalen Rechte ist nicht nur die türkische Regierung beteiligt, sondern zugleich auch alle Länder, welche diese Waffen an die Türkische Republik verkaufen oder ihr zur Verfügung stellen.

Diese Luftangriffe verursachten nicht nur einen Massenmord, sondern sind auch für die Waldbrände von hunderten von Hektar verantwortlich, die alle Lebewesen dort töten und die Natur zerstören.

Das Resultat:

Die politische Verantwortung für die Luftangriffe der türkischen Streitkräfte, welche die Ermordung von ZivilistInnen zur Folge hatte, liegt bei der türkischen Regierung.
Wir erstatten Anzeige gegen alle, die in der Verantwortungskette für diese Luftangriffe stehen, die die Anordnung zu diesen Bombardements erteilt haben, diesen Befehl ausgeführt haben und die Öffentlichkeit mit falschen Informationen getäuscht haben.

Für den schweren Grad der Zerstörungen dieses grenzüberschreitenden Angriffes sind auch all jene Länder verantwortlich, die den türkischen Streitkräften Flugzeuge und Waffen zur Verfügung stellten.

Wir fordern jene Länder, die der türkischen Regierung diese Waffen zur Verfügung stellen, dazu auf zu gewährleisten, dass diese Waffen nicht gegen ZivilistInnen eingesetzt werden.

Desweiteren fordern wir die AKP-Regierung in Anbetracht der massiven jüngsten Zerstörungen dazu auf, einzusehen, dass diese militärischen Operationen kein Schlüssel zur Lösung sind. Durch die Erfahrung des zurückliegenden dreißig Jahre währenden Krieges ist es offensichtlich, dass der Krieg zu nichts anderem führen wird als zu weiteren Kämpfen, Tränen, Zerstörungen, Armut und zu einer Intensivierung des bestehenden Konfliktes.

Wir möchten noch einmal darauf hinweisen, dass man mit der Kriegsrhetorik und der Praxis der 1990er Jahre den Frieden nicht aufbauen kann. Erneut möchten wir betonen, dass der Schlüssel zur Lösung im Dialog und Verhandlungen liegt. Wir fordern beide Seiten dazu auf, einen sofortigen Waffenstillstand auszurufen, um weitere Kriegsverbrechen und weiteres Leiden zu verhindern.

 

Videobericht von Amnesty International zum Massaker von Zergelê