Wahlbeobachtungsbericht – Wahlen in Nordsyrien oder die Entstehung einer neuen Art des Lebens

Bahadır Altan, Sprecher des Blocks für Frieden (Türkei), über seine Erfahrungen als Wahlbeobachter in Nordsyrien, 23.12.2017

Mit großer Aufregung und einem Gefühl der Ehre nahm ich auf Einladung an einer Delegation teil, deren Aufgabe darin bestand, die Wahlen in der Demokratischen Föderation Nordsyrien vor Ort zu beobachten. Unübersehbar und in gewisser Weise vorrangig vor meinen Beobachtungen bezüglich der Wahlen waren meine Eindrücke von der Entstehung einer neuen Art des Lebens in einer Region, die gerade erst den Krieg überwunden und sich erst vor Kurzem vor den brutalen Angriffen des Islamischen Staates (IS) gerettet hatte. Es ist unmöglich angesichts der Bemühungen, der Ausdauer, der Mühen und der Kreativität, mit denen gegen ein erneutes Aufkommen der vergangenen dunklen Tage gekämpft wird, nicht eine gewisse Art der Bewunderung zu empfinden. Ich möchte von meiner Reise berichten, während der ich die gesamte Zeit die Zweifel mit mir trug, wie ich all jenen von meinen Eindrücke erzählen können wurde, die aus der Ferne, ja mit den Augen der türkischen Medien auf die Region blickten. Meine Gedanken an ihre Vorurteile und Irrtümer wogen während der Reise schwer auf meinen Schultern. Auch während ich diese Zeilen schreibe, habe ich diese Zweifel noch nicht ablegen können.

Einige Ähnlichkeiten mit Bildern aus unserer jüngeren Geschichte lassen in uns das Gefühl eines Reisenden aufkommen. Manchmal erschien es uns so, als würden wir Szenen aus dem Anatolien der 50er Jahre oder sogar der 23er sehen. Doch nun fühle ich mich, als sei ich aus Anarres in Ursula Le Guins Buch Die Enteigneten zurückgekehrt…

Unsere Delegation setzte sich aus sechs ParlamenterierInnen, einem Akademiker, einem Dichter, einem Autor und zwei VertreterInnen politischer Parteien zusammen. Insgesamt drei Mitglieder stammten aus der Türkei. In jeder Stadt besuchten wir zuerst die Friedhöfe, auf denen die Gefallenen des Widerstandes in Rojava begraben liegen. Nach einem kurzen Aufenthalt wurden wir meist entweder von den Ko-Vorsitzenden des Volksrats des jeweiligen Kantons oder den Ko-SprecherInnen der Hohen Wahlkommission empfangen. Von den Ko-SprecherInnnen war meist eine Person kurdisch und die andere arabisch oder assyrisch, aber auf jeden Fall handelte es sich um eine Frau und einen Mann. In dem Zentrum von TEV-DEM in Qamislo sahen wir VertreterInnen aller Farben dieser Region, ob arabisch, assyrisch, kurdisch, armenisch, türkisch oder turkmenisch. Bis auf Foza Yûsif, die uns ein Briefing gab, und Salih Müslim, der uns in Kobanê empfing, sprachen nur sehr wenige Menschen Türkisch. Wir verständigten uns vor allem auf Arabisch und Kurdisch. Fast alle, auf die wir trafen, beherrschten diese beiden Sprachen und oft kam auch Assyrisch hinzu. So fühlte ich mich gemeinsam mit der Delegationsteilnehmerin Fatma Gök trotz unserer Englischkenntnisse im Angesicht der Sprachen unserer NachbarInnen in Rojava als fremde Türken doch ein wenig ärmlich.

Das Wahlsystem war gemäß des von TEV-DEM veröffentlichten „Gesellschaftsvertrages der Demokratischen Föderation Nordsyrien“ ((Der Gesellschaftsvertrag der Demokratischen Föderation von Nordsyrien)) so organisiert worden, dass selbst die kleinste Farbe unter allen Umständen im Volksrat vertreten sein würde. Ganz zu schweigen davon, dass es keinerlei Prozenthürde für den Einzug in den Volksrat gab, wurden nach der Wahl von 60% der Volksratsmitglieder die restlichen 40% der Mitglieder aus den Reihen jener Bevölkerungsgruppen bestimmt, die aufgrund ihrer geringen Anzahl ansonsten bei den Wahlen marginal geblieben wären. Somit wurde gesichert, dass auch diese Mitglieder ihre Repräsentanten bestimmen konnten. Die Jugend verfügt in den regionalen Volksräten über eine Mitgliederquote von sechs Prozent. Da die Revolution in Rojava allseits als „Frauenrevolution“ bekannt ist, muss ich wahrscheinlich nicht ausführlich erwähnen, dass die Frauenquote in den Volksräten bei 50% liegt…

In der bereits zuvor abgeschlossenen ersten Wahlphase waren die lokalen Kommunen gegründet worden. Mit den Wahlen am 1. Dezember wurden nun die Volksräte auf Ebene der Landkreise, Regionen und Kantone bestimmt. Zu Beginn des neuen Jahres werden im Rahmen der dritten und letzten Phase die Wahlen für ein Parlament stattfinden, das letztendlich für die gesamte Föderation zuständig sein wird. In Nordsyrien gibt es eine große Anzahl von Parteien, wie auch im Falle unserer linken Parteien und Gruppen. Von ihnen treten 17 Parteien im Rahmen von zwei unterschiedlichen Bündnissen bei den Wahlen an. 12 Parteien treten als „Liste der Demokratischen Nation“ an, während die fünf weiteren sich als „Liste der Nationalen Einheit“ zusammenschließen. Laut der Wahlergebnisse, die uns nach unserer Rückkehr in die Türkei erreichten, lag die Wahlbeteiligung bei 69 Prozent. Angesichts des gerade erst beendeten Krieges und der Tausenden, die noch immer im Süden in Raqqa, im Norden und im Westen gegen die Bedrohung der Türkei im Einsatz sind, ist das eine erstaunlich hohe Beteiligung. Wie von vielen Beobachtern zuvor erwartet, ging die „Liste der Demokratischen Nation“ als stärkste Kraft aus den Wahlen hervor und wird in den Volksräten die Mehrheit stellen. Doch der eigentliche Gewinner dieser Wahlen ist der föderative Ansatz, mit dessen Hilfe gewährleistet wurde, dass die arabische, kurdische, türkmenische, ezidische, assyrische und armenische Bevölkerung und viele weitere Gruppen in einem friedlichen, gleichberechtigten und sicheren Kontext zusammenkommen können. Im Gegensatz zur „Terror-Etikettierung“ durch die türkischen Medien, wird hier selbst dem Feind Respekt entgegen gebracht. Währenddessen ergeben sich weiterhin die verbliebenen Kräfte des IS den Syrischen Demokratischen Kräften (SDF) und auch die aus Raqqa geflohenen Familien von IS-Kämpfern werden in Zeltstädten in Rojava untergebracht. Zweifellos ist das System der demokratischen Föderation die einzige Möglichkeit, ein friedliches Zusammenleben in einer kulturell derart farbenfrohen Region aufzubauen.

Laut offizieller Quellen starben zu Beginn des letzten Jahrhunderts während des Unabhängigkeitskrieges in Anatolien 8.505 Soldaten, 662 davon Offiziere. Es wird stets betont, dass die Zahl der gefallenen Offiziere im Vergleich zu damaligen Kriegen sehr hoch ausfiel (insbesondere in Sakarya mit einem gefallenen Offizier auf acht Gefallene). Die Völker Nordsyriens haben in ihrem andauernden Kampf gegen den IS bereits doppelt so viele Gefallene zu beklagen. Die Zahl der Gefallenen beträgt fast 20.000. Berücksichtigt man die Zahl der Kader, die zuvor Universitätsabsolventen waren, liegt das Verhältnis der gefallenen „Offiziere“ in Nordsyrien noch höher als zu Zeiten des Unabhängigkeitskrieges. Es gibt auch zahlreiche Gefallene, die im Rahmen der internationalen Solidaritätswelle nach Rojava kamen und ihr Leben im Kampf gegen den IS verloren. Und die Bevölkerung Rojavas ist sich durchaus bewusst, wem sie ihr Leben verdankt…

Man erinnert sich an die Unterstützung der Türkei, die den IS von Norden aus mit schweren Waffen nach Kobanê eindringen und ihn brutale Massaker verüben ließ. So erzählt ein älteres Mitglied der YPG aus Kobanê: „Von dort (zeigt Richtung türkische Grenze) beschossen sie uns nachts…“ Mit der Türkei leben wir also in einem Land, das in Rojava nicht nur den IS unterstützte, sondern alle dschihadistischen Gruppen, die für den Sturz Assads kämpften. Die Türkei versuchte somit den Widerstand von hinten zu erdolchen.

Erdoğan erklärte Kobanê, für dessen Verteidigung tausende ihr Leben gaben, während des Widerstandes für gefallen und auch seine rechte Hand Perinçek war sich nicht zu schade zu behaupten: „Der Fall Kobanês ist zu Gunsten der Kurden!“ Doch Kobanê war für die laizistischen Regime der Region, insbesondere für die laizistische Ordnung in der Türkei (wie viel davon auch immer noch übrig ist), tatsächlich von sehr großer Bedeutung. Wären die islamistischen Gruppen damals nicht in Kobanê gestoppt worden, würden heute südlich von uns statt Wahlen Sklavenmärkte für den Verkauf von Frauen stattfinden.

Während der Widerstand gegen den IS hier einen Erfolg feierte, schlossen sich auch die Völker der Araber, Assyrer oder Eziden dem Befreiungskampf in Nordsyrien an und erlangten gemeinsame Erfolge. Nun legen sie gemeinsam die Grundlagen für eine neue Art des Lebens. Hat man erst einmal verstanden, dass kein Unterschied zu dem anatolischen Unabhängigkeitskrieg der 1920er Jahre besteht, hört man zwangsläufig auf, ihn klein zu reden und im Widerspruch zu unserer eigenen Geschichte zu betrachten. Es ist Zeit, mit der pauschalen Diffamierung aller als „Terroristen“ aufzuhören und den Tatsachen ins Auge zu blicken.

Der Friedhof der Gefallenen in Kobanê erinnert einen an den Gefallenenfriedhof in Settülbahir. Allein die Zahl Gefallenen aus dem Norden (gemeint ist Nordkurdistan bzw. die Südosttürkei; Anmerkung der Übersetzung), die ihr Leben im Kampf gegen die Islamisten verloren, beläuft sich auf 8.500. Die Zahl der gefallenen jungen Menschen aus der Türkei ist also genauso hoch, wie die Gesamtzahl der Gefallenen während unseres Unabhängigkeitskrieges in den 1920er Jahren. Fast alle von ihnen sind zweifellos kurdisch, doch ein kleiner Teil von ihnen setzt sich auch aus sozialistischen Studenten aus der Westtürkei zusammen, wie das Beispiel von Suphi Nejat Ağırnaslı zeigt. Wir brachten kleine Steine mit zu diesen jungen Gräbern, die dafür sorgen, dass wir unsere Köpfe wieder aufrichten können…

Nun hat die Revolution in Rojava den Weg geöffnet für die Völker und insbesondere die Frauen, die zuvor von der Scharia oder dem syrischen Regime unterdrückt wurden. Offener Beweis dafür ist, dass sich die Familien von besiegten IS’lern nicht an arabische oder KDP-Vertreter, sondern an die Kräfte der SDF wenden. Wenn eine Revolution selbst bei ihren Feinden Respekt hervorruft, kann nicht mehr an ihrem Erfolg und ihrer Unterstützung durch die Bevölkerung gezweifelt werden.

Es gibt zweifellos noch sehr viel zu tun. Der Anblick der Region von Afrin, über das am stärksten zerstörte Kobanê bis nach Qamislo, das zwar nie besetzt war, aber den Zusammenbruch der Infrastruktur des Regimes zu verkraften hat, erinnert an das Anatolien der 1950er Jahre. Doch die Ärmel sind hoch gekrempelt. Als erster und wichtigster Schritt wird die Revolution von einem föderativen Verständnis geleitet, das sich Gleichberechtigung und Demokratie zum Ziel gesetzt hat. Sogar die Bildungsoffensive, auf die man in Anatolien so lange warten musste, hat bereits begonnen. In den Volksakademien wird Erwachsenen Unterricht u.a. zum Thema Philosophie gegeben. In den Schulen arbeiten idealistische Lehrerinnen und Lehrer, die ihren Teil zum Erfolg der Wahlen beitrugen. Niemand blickt auf sein Gegenüber herab oder verhält sich abfällig gegenüber dem Glauben, der Sprache, der Nation oder Tradition seiner Mitmenschen. Schulen im Stile unserer Dorfschulen befinden sich in der Planung. Auch wenn auf den Straßen die Bilder der Gefallenen an den hohen Preis erinnern, überwiegt die Demut über das Heldentum. Immer wieder trifft man auf bewaffnete Kräfte der Asayiş oder militärische Einheiten, doch keiner von ihnen verhält sich der Bevölkerung gegenüber mit derselben Anmaßung wie unsere Soldaten.

Zurzeit existiert neben einem Gerichtssystem der Föderation auch das des syrischen Regimes. Die Menschen entscheiden selber, an welches der beiden sie sich richten möchten. Ich wurde durch Zufall Zeuge, wie ein Grundstücksstreit zwischen Verwandten von einem Gericht des Volksrates geschlichtet wurde. Eine Delegation aufmerksam zuhörender Älterer fand schnell eine Einigung, die alle überzeugte. Als ein weiteres Beispiel sei der Fall genannt, in dem ein Gericht auf Antrag des Besitzers eines Gebäudes, das von der YPG benutzt wurde, entschied, dass diese eine Jahresmiete zu zahlen und das Gebäude zudem zu verlassen habe. Das Gericht fällte also ein Urteil, dass sich gegen ihre „eigenen Genossen“ richtete. Daher vertraut die Bevölkerung der föderativen Struktur und ihrem Gerechtigkeitsverständnis.

In Bezug auf Syrien wird uns seit Anfang an eine riesige, historische Lüge erzählt. Ich fragte Salih Müslim nach den Aussagen des ehemalige Außenministers Yaşar Yakış, der aus der AKP ausgeschlossen wurde, nachdem er sich gegen die Syrienpolitik der AKP gerichtet hatte. Yakış hatte  Müslim während eines Treffens in Ankara die Umstände für den Sturz Assads erläutert. Als Reaktion auf dessen Weigerung, sich an diesen Plänen zu beteiligen, kündigte erklärte Yakış die beiderseitigen Beziehungen für beendet. Zudem ließ er die Frage Müslims unbeantwortet, ob die Türkei die Kurden gegen Assad verteidigen würde. Müslim fügte dem noch zahlreiche Geschichten hinzu, die seinen Bericht bestätigen…

Während unseres viertägigen Aufenthaltes sahen wir weder amerikanische Flaggen noch hörten wir Lobreden auf Israel. Weder war die Stimme der Muezine verstummt, noch die Jugend unterdrückt. Stattdessen fühlten wir uns angesichts der alten Tanten und Onkel, die mit einer Kalaschnikov auf ihren Schultern Nachtwache hielten, an Karayılan in Antep und Çakırcalı in der Ägäis erinnert…

Entgegen der Lügen dieser Diebe ist der gemeinsame Gewinn der Bevölkerung so deutlich, dass es wohl ausreicht, wenn ich kurz erwähne, dass der Liter Benzin 35 Cent kostet; in einer Föderation, die 70% der syrischen Ölvorkommen kontrolliert. Diese Wahrheit würde die Ordnung durcheinanderbringen, weshalb sie versucht wird zu verdecken. Die Völker Syriens werden weniger Geschosse in Richtung Türkei abschießen, als Öl an die Türkei verkaufen wollen. Und sie haben Wichtigeres zu tun, als gegen uns in den Krieg zu ziehen. So z.B. sich gegen Angriffe zu verteidigen. Wir sollten nicht unerwähnt lassen, dass die Türkei in Idlib heute das gleiche ist, wie 1919 die Engländer in Istanbul oder die Franzosen in Antep. Es besteht kein Unterschied zwischen der heroischen ausgesprochenen Drohung, man könne eines Nachts überraschend losschlagen und die Janitscharenmusik in Afrin spielen und dem Weg nach Izmir am 15. Mai 1919. Abgesehen von dieser schlechten Tat, die man seinen Nachbarn damit noch hinzufügen würde, würde ein Einmarsch in Afrin sicher zu einer noch größeren Niederlage werden, als das anatolische Abenteuer der damaligen Besatzermächte. Es ist vorhersehbar, dass sich im Falle eines Einmarsches Millionen Hasan Tahsins der türkischen Armee entgegen stellen würden. Und ohne Zweifel werden sich tausende Menschen befreundeter Völker in Solidarität diesem Widerstand anschließen, so wie die griechisch-kommunistischen Soldaten, die sich weigerten gegen ein anderes anatolisches Volk in den Krieg zu ziehen und dafür hingerichtet wurden. Auch diese Geschichte enthält uns die offizielle Geschichtsschreibung vor. Denn dieser Krieg wird uns nur angepriesen, weil die Mächtigen in der Türkei ihn wollen und glauben, damit ihre Macht sichern zu können.

Die Völker Nordsyriens haben sich erst vor kurzem vor den Angriffen und Massakern gerettet und bauen nun ihre Zukunft auf. Die dort im Aufbau befindliche Föderation ist schon jetzt realer, als diese Lüge, die uns in unserem eigenen Land als „Demokratie“ verkauft wird. In nicht allzu langer Zeit, vielleicht in zehn Jahren, werden die Völker der Demokratischen Föderation Nordsyrien ihr Land neu aufgebaut und damit ihre gemeinsam ihre Wunden geheilt haben. Noch bedeutender ist, dass sie eine bunte und glückliche „demokratische Nation“ aufgebaut haben werden, die auf einem festen Fundament fußen und allen ein Leben in Demokratie, Gleichheit und Frieden ermöglichen wird. Auch wenn sie von äußeren Kräften erneut zu einem Krieg gezwungen werden sollten, werden sie in Zukunft noch stärker sein. Nur ein wenig Zeit würden sie durch einen erneuten Krieg verlieren.

Unsere arrogante Türkei, die ihre eigene Geschichte, insbesondere die Umstände der Republiksgründung, vergessen hat, könnte von Rojava noch so Einiges lernen.

Im Original ist die Kolumne am 17.12.2017 unter dem Titel “Kuzey Suriye seçimleri ve filizlenen yeni hayat” im Nachrichtenportal Gazete Karınca erschienen.


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