Wahlfach fürs Kurdische – Erdogan im Wunderland

Erdogan Devris Çimen

In der Türkei findet in Nordkurdistan, dem Hauptsiedlungsgebiet der KurdInnen, seit vielen Jahren ein Krieg statt. Niemand redet über diesen Krieg, schreibt darüber, erzählt davon, und dies obwohl die Gründe für den Krieg, wie auch die Ausbeutungspolitik gegenüber den KurdInnen, die Assimilationspolitik, der Rassismus und die Diskriminierung fortbestehen. Die Kultur, die Gesellschaft und die Sprache der KurdInnen werden einer Zwangsassimilation unterzogen. Die Menschen zu so unterdrücken, ist ein Verbrechen. So geht der Krieg in der Türkei, in Kurdistan weiter.

Jedoch wird dieser Krieg – warum auch immer – nicht wahrgenommen.

Sehen wir uns an, was der türkische Ministerpräsident Erdogan am 12. Juni gesagt hat, entsteht doch auf den ersten Blick der Eindruck, als ob sich nun doch etwas verändern würde.
Was hatte Erdogan gesagt?

Erdogan hatte im Rahmen der Diskussionen über den neuen Lehrplan betont, dass die SchülerInnen die Möglichkeit bekommen werden, ihre regionalen Sprachen und Mundarten erlernen zu können, „zum Beispiel kann, wenn sich genügend SchülerInnen zusammenfinden, Kurdischunterricht gegeben werden. Dies ist ein historischer Schritt.“
Das klingt doch gut, oder?
Die KurdInnen dürfen nun ihre Muttersprache in der Schule als Wahlfach lernen. Viele europäische PolitikerInnen und JournalistInnen reden und schreiben drüber. „Ein wahrlich historischer Schritt in der Türkei.“
Wir wollen uns jedoch an die Rede von Erdogan bei seinem Besuch im Februar 2008 in der BRD erinnern, in der er erklärte: „Assimilation ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.“ Dort hatte er auch gesagt: „Assimilation ist die Missionierung der Werte eines Menschen. Dies ist eine zwangsweise Änderung der Religion und Kultur. Einen Menschen dazu zu zwingen ist ohne Zweifel ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.”
Wie Recht er doch hatte. Doch ist dies nicht Praxis in der Türkei? Seit Entstehung der Republik wird diese Assimilation in erster Linie gegen KurdInnen, LasInnen, ArmenierInnen, AssyrerInnen und andere Völker durchgesetzt. Er selbst steht zu dieser Praxis? Aber auch egal … Recep Tayyip Erdogan ist ein Phänomen. Er ist ein übergangener Showman.
Warum?
Während die Muttersprache des über 20 Millionen zählenden kurdischen Volkes verboten ist, wird die 10. internationale Türkisch-Olympiade der Fetullah Gülen Gemeinde, die weltweit Arbeiten in diesem Bereich ausführt, medienwirksam auf die Beine gestellt. Für die Befriedigung der nationalistischen Gefühle des Hoca Efendi, so wird Fetullah Gülen von seinen Anhängern genannt, werden Kinder überall aus der Welt benutzt. Es wird von einer Welt geträumt, in der alle türkisch sprechen. Wenn es eine andere Erklärung hierfür gibt, so sollte uns das erklärt werden …
Seht euch die Rede von Erdogan auf der Abschlussfeier der internationalen Türkisch-Olympiade am 15. Juni 2012 an …
Erdogan betont, dass sie niemanden wegen ihrer/seiner Hautfarbe, Sprache, Religion diskriminieren, dass sie sich niemals damit einverstanden erklären würden, dass eine Ethnie, Religion, Kultur eine andere unterdrückt. Erdogan führt weiter aus: „Wir werden niemals zu jemandem stehen, der andere ausgrenzt, die nicht zu ihm gehören, der andere ausschließt, die nicht so denken wie er, der andere beschimpft, weil sie nicht an das glauben, woran er glaubt. So wie wir hier in der Türkei die 75 Millionen Menschen als Geschwister ansehen, unter den 75 Millionen keine Unterschiede machen, können wir es auch nicht akzeptieren, dass unter den 7 Milliarden Menschen weltweit Unterschiede gemacht werden. Für uns sind grundlegend die Freiheit, der Frieden, die Solidarität, der Rechtsstaat und Gerechtigkeit. Die Wünsche und die Forderungen der Nationen und Völker, ihre Selbstbestimmung und Entscheidungen sind für uns das Höchste. Es geht ums Leben und Leben ist uns heilig. Türkisch ist die Sprache einer solchen Zivilisation.”
Lasst uns das auch mal für bare Münze nehmen …
Warum sind dann die 8 000 kurdischen PolitikerInnen und AktivistInnen, die in den letzten drei Jahren festgenommen wurden, im Gefängnis? Wir und alle anderen wissen, dass diese Menschen nichts gestohlen haben, dass diese Menschen keine Gewalt gegen irgendjemanden angewendet haben, dass diese Menschen nicht versucht haben, irgendjemanden zu assimilieren. Aber wir wissen andererseits auch, dass diese Menschen versucht haben, die Sprache, die Kultur und die freie Organisation der KurdInnen in der Türkei mit ihrem Kampf zu erreichen.
Und dass es eine Dreistigkeit ist, Kurdisch als Wahlfach einführen zu wollen, während diesen Menschen bei türkischen Gerichten, nach türkischem Recht der Prozess gemacht wird, in denen sie sich nicht auf Kurdisch verteidigen dürfen und bei denen die kurdische Sprache als eine unbekannte Sprache definiert wird.
Folglich hat das Erdogan-Phänomen wieder eine Show abgezogen, um die assimilierende, rassistische, diskriminierende, gewalttätige Seite seines Landes als Demokratie darzustellen. Erdogan ein Bewohner des Wunderlands …
Es ist nun klar und deutlich, Erdogan und sein Lehrer Fetullah Gülen wollen Deutschland über die Folgen von Assimilation aufklären und mit ihren Olympiaden der Welt türkisch beibringen – das Duo auf einer neuen Betrugstour.
Es ist also die AKP und die Gülen-Gemeinde, die der ganzen Welt mit ihrer türkisch Olympiade ihre Denkweise aufdrücken will, aber den KurdInnen lediglich anbietet, „wenn ihr in genügender Anzahl zusammenkommt, könnt ihr eure Sprache als Wahlfach erlernen.“ Dies ist eine Beleidigung und purer Rassismus.

Wenn also laut Erdogan Assimilation ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist, und wir bezweifeln diese Aussage nicht, dann ist Erdogan für dieses Verbrechen verantwortlich.
Eigentlich ist Erdogan doch ziemlich unterhaltend. Er denkt nämlich, mit dem Intellekt der Menschen, der PolitikerInnen und der JournalistInnen spielen zu können, wie er will. Und weil es so unterhaltsam ist, schauen wir uns doch nochmal Erdogans Show an: „Zum Beispiel kann Kurdischunterricht stattfinden, wenn sich genügend SchülerInnen zusammenfinden. Dies ist ein historischer Schritt.”
Die beste Antwort zu dieser Show gab die Vorsitzende der BDP Gültan Kisanak: „Wahlfächer können nur im Rahmen von Fremdsprachenunterricht erteilt werden. Einem Menschen seine Muttersprache als Fremdsprache beibringen zu wollen, ist reine Despotie. Der Ministerpräsident selbst kann Kurdisch als Wahlfach erlernen. Lass uns Kurdisch als Wahlfach anbieten, damit die Minister dort Kurdisch als Fremdsprache erlernen können. Aber wie könnt ihr diese Qual den KurdInnen antun. Überdies soll es erst nach der 4. Klasse angeboten werden. Damit sie in der Schule zunächst türkisch lernen, assimiliert werden – ihre eigene Sprache können sie später lernen, wenn sie es unbedingt wollen. Das ist die Logik dahinter. Assimilation ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit und wird heute durch die Hand der AKP durchgeführt.”
Kurdisch als Wahlfach zu diskutieren kommt also der Fortsetzung der Assimilationspolitik mit neuen Mitteln gleich. Hinzu kommt, dass es die größte Dreistigkeit darstellt, den Menschen zunächst ihre angeborenen Rechte zu verweigern, um es dann als gütige Geste darzustellen, wenn man diese in Scheibchenform Stück für Stück zurückgibt. Wer gibt wem wessen Rechte? Gibt es jemanden, der das versteht und/oder moralisch richtig findet?
Zum Abschluss: Eine Sprache als Wahlfach anzubieten ist eine Methode, um eine neue Sprache erlernen zu können, um die Menschen, deren Muttersprache man lernt, besser zu verstehen. Demzufolge sollte Erdogan, um die Parolen der KurdInnen “Em azadiya gelê Kurd dixwazin. Em Tirkiyeyek demokratîk û Kurdistanek Xweser û demokratik dixwazin”(zu deutsch: Wir wollen die Freiheit des kurdischen Volkes. Wir wollen eine demokratische Türkei und ein demokratisch-autonomes Kurdistan) verstehen zu können, selbst mit gutem Vorbild vorangehen und gemeinsam mit seinen Ministern in einem Wahlfach Kurdisch lernen … Die KurdInnen werden sich auf alle Fälle nicht mit einem “Wahlfach Kurdisch” zufrieden geben.

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