Was passiert nach Rakka?

Cahit Mervan über den Verlauf der Rakka-Operation und die Rolle der Türkei, 07.08.2017

Die am 5. Juni von den Demokratischen Kräften Syriens (SDF) begonnene Operation zur Befreiung der “Hauptstadt” des Islamischen Staates (IS) Rakka hat in kurzer Zeit große Erfolge erzielen können. Während diese Zeilen geschrieben werden, ist mehr als die Hälfte Rakkas unter Kontrolle der SDF. Die Kräfte des IS sind in Rakka vollständig umzingelt. Die falschen Informationen von AKP-Verantwortlichen, wonach die kurdischen YPG-Einheiten als Teil der SDF dem IS einen Korridor eröffnet hätten, damit diese aus Rakka abziehen können, haben sich in Luft aufgelöst. Der Kampf um die Stadt wird in all seiner Brutalität fortgesetzt.

Wäre es als negativ zu werten, wenn der IS ohne zu kämpfen Rakka verlassen hätte?

Natürlich nicht.

Die Brutalität des Krieges wäre weitaus geringer. Die Zivilisten würden so viel Leid erfahren. Und die historische Stadt wäre nicht zerstört worden. Doch sowohl die Präsenz des, als auch ihre Vertreibung aus einem Ort bringen Zerstörung, Katastrophe und Schmerz mit sich. Der SDF geht es darum, diese Armee von Mördern aus den besetzten Gebieten zu vertreiben und die Orte und die dort lebende Bevölkerung zu befreien. Weil sie diesem Ziel verbunden ist, also keinen blinden Krieg führt, erleiden sie manchmal große Verluste, nur damit die Zivilbevölkerung so wenig wie möglich in Mitleidenschaft gezogen wird. Aus diesem Grund sind nicht nur die Gesellschaften in Rojava, Nordsyrien und Syrien der YPG/YPJ etwas schuldig, sondern die gesamte Menschheit. In seiner Erklärung am 5. August erklärte der US-Sonderbeauftragte für die Anti-IS-Koalition, Brett McGurk, dass in Rakka noch circa 2.000 IS-Kämpfer verblieben seien und “vermutlich alle ums Leben kommen würden”. Die Informationen der örtlichen SDF-Verantwortlichen bestätigen diese Einschätzung. Einer dieser Verantwortlichen erklärte: “Ja, wir haben dem IS eine Rückzugslinie vorgezeigt. Doch sie denken, dass sie durch den Tod in das Paradies kommen werden.”

Es gibt keine Auswege mehr für den IS in Rakka. Es herrscht ein brutaler Krieg. Die SDF sind entschlossen Rakka zu befreien und der IS ist dazu entschlossen bis ans Äußerste zu gehen. Doch es sieht nicht danach aus, dass der IS gegen der von der Internationalen Koalition unterstütze SDF lange Zeit standhalten könnte, auch wenn sich die Befreiungsoffensive derzeit etwas verlangsamt hat.

Die bedeutendste Entwicklung, welche die Offensive auf Rakka verlangsamt hat, ist nicht der Widerstand des IS. Es sind die unaufhörlichen Angriffe des türkischen Staates auf Rojava und Nordsyrien, vor allem auf Afrîn. Zu Recht denken die YPG/YPJ und die SDF, dass sie von der Türkei, die Mitglied der Anti-IS-Koalition ist, von hinten erdolcht werden. Aus diesem Grund müssen sie die Fähigkeit aufbringen, aus militärischer sowie politischer-diplomatischer Sicht die Karten zur richtigen Zeit und am richtigen Ort zu nutzen.

“Die Angriffe des türkischen Staates auf die Gebiete Afrîn und Şehba sind naturgemäß der Grund dafür, dass wir die Rakka-Operation manchmal bremsen müssen”, erklärt ein Vertreter aus Rojava und fügt hinzu: “Bei jedem unserer Schritte müssen wir und nach hinten umsehen.”

Der türkische Staat und ihr Chef Tayyip Erdoğan wissen, dass der Fall von Rakka für sie eine ernsthafte Niederlage darstellen wird. Erdoğan weiß auch, dass mit der Befreiung von Rakka die Karten in der gesamten Region neu gemischt werden. Seine ganzen Bestrebungen richten sich darauf, zu verhindern, dass die Kurden in dieser neuen Situation als wichtiger Akteur hervortreten. Deshalb ist er bereit, alles dagegen zu tun. Und das macht er auch.

Als die Offensive auf Rakka ihren Anfang nahm, begannen sich in Syrien neue Parameter herauszubilden, die dem türkische Staat und Erdoğan den Schlaf raubten. Wichtigster Indikator dafür war, dass die Koalitionskräfte die SDF für die Rakka-Operation gegenüber der Türkei bevorzugten. Die SDF bestehen nicht – wie gern behauptet – vornehmlich aus kurdischen Kämpfern. Ein großer Teil, der an der Rakka-Operation beteiligten Kräfte, besteht aus arabischen Kämpfern.

Zudem gibt es da noch, trotz der ganzen Einwände des türkischen Staates, die militärische Unterstützung der SDF durch die USA. Über das Ausmaß dieser Unterstützung gibt es viele Spekulationen. Behauptungen wie die Sendung von hunderten Lastwägen mit Waffenladungen, dutzenden Panzern und sogar der Aufbau einer Luftabwehrsystems schwirren umher…

Doch das eigentlich Wichtige ist nicht das Ausmaß der militärischen Unterstützung, sondern die Offenheit und Transparenz der vorher hinter verschlossenen Türen laufenden “militärischen Zusammenarbeit”. Ebenso bedeutend ist, dass die USA und die Internationalen Koalition die SDF, und somit auch die YPG/YPJ-Kräfte, die einzig legitime Kraft bei der Befreiung von Rakka betrachten.

Die USA soll die Unterstützung der syrischen Opposition, für die sie zwei Milliarden Dollar aufgebracht hatte, eingestellt haben. Sie hat sie im gewissen Sinne für illegitim erklärt worden. Dass war eigentlich eine Backpfeife gegen die Türkei und Erdoğan.

Doch wir können klar feststellen, dass die YPG/YPJ und SDF nicht einen Cent Unterstützung von den USA erhalten haben. Sie haben auch keine Forderung danach gestellt. Ein hoher Vertreter der PYD erklärt, dass das die Amerikaner am meisten erstaune. Die USA ist in dem Gebiet wohl zum ersten Mal mit einer Kraft konfrontiert, die kein Geld, sondern Legitimität und gleichberechtigte Partnerschaft fordert. Und das erhöht die Ernsthaftigkeit der Angelegenheit.

Es sieht danach aus, dass diese Ernsthaftigkeit gemeinsam zu handeln sich nach der Befreiung von Rakka bis zur Offensive zur Befreiung Deir ez-Zor fortsetzen wird. Vielleicht werden beide Operationen auch zusammen laufen.

Der IS büßt mit den laufenden Befreiungsoperationen langsam aber sicher seine Rolle als wichtigster Unruheherd in der syrischen Krise ein. Diese Rolle scheint wohl auf die Türkei überzugehen, die in der Provinz Idlib mit verschiedenen dschihadistischen Gruppierungen kooperiert und neue Besatzungspläne schmiedet.

In Idlib, in das Erdoğan viel Hoffnung hineinprojiziert, herrscht allerdings ein ziemliches Durcheinander vor. Dort ereignet sich ein kleiner Bürgerkrieg. Die Al-Nusra Front steiget ihren Einfluss. Gleichzeitig greift die türkische Armee die Region Şehba an und versucht sie vom Kanton Afrîn abzutrennen. Die Medien der AKP veröffentlichen sogar Schlagzeilen auf ihren Titelseiten, in denen erklärt wird, dass der Besatzungsplan für Afrîn bereit sei und man lediglich auf “den Befehl” zum Losschlagen warte.

Auf den ersten Blick wirkt Afrîn vom Rest von Rojava und Nordsyrien isoliert. Doch es ist klar, dass eine mögliche Intervention in Afrîn nicht nur dort begrenzt bleiben wird. Zudem zeigen lokale Quellen und Berichte, dass Afrîn nicht nur ideologisch und politisch, sondern auch militärisch nicht leicht zu besiegen sein wird. Der türkische Staat und ihr Chef Erdoğan müssen wissen, dass Afrîn für eine sehr lange und intensive Verteidigung bereit ist.

Wer weiß; so wie Kobanê das Ende des IS eingeläutet hat, könnte Afrîn das Ende des AKP-Terrors mit sich bringen.

 

Im Original ist die Analyse am 05.08.2017 unter dem Titel “Reqa’dan sonra ne olacak?” bei der Nachrichtenagentur Firatnews erschienen.