Was wollen die Menschen im Iran, warum der Protest?

Karwan Hewram, Redakteur von ANF-Farsi, zur aktuellen Lage im Iran, 01.01.2018

Die Gründe für die Aufstände der letzten vier Tage gegen Armut, Arbeitslosigkeit, die täglichen Kosten des Lebens und der repressiven Politik der islamischen Republik Iran wird von den verschiedenen Seiten unterschiedlich diskutiert. Im Folgenden ein Interview mit Karwan Hewram, dem Redakteur der Nachrichtenagentur ANF-Farsi.

Lange Zeit war es still im Iran. Aber in den letzten vier Tagen haben in der Stadt Meşhed Aktionen begonnen, die sich auf ganz Rojhilat ausweiteten. Wir wollen mit einer sehr allgemeinen Frage beginnen: Was passiert im Iran?

Das despotische Regime im Iran unterdrückt seit langen Jahren die Bevölkerung. Dieses Regime bemühte sich in den letzten Jahren massiv darum, dass die Völker im Iran die aktuelle Veränderungsphase im Mittleren Osten nicht wahrnehmen. Abgesehen vom kurdischen Volk, das durch die Revolutionsphasen in den anderen Teilen stark motiviert wurde, konnten alle politischen Forderungen der Völker des Irans unterdrückt werden. Es gibt im Iran nichts mehr, was als Opposition bezeichnet werden kann. Von den Grünen bis zu den Sozialist*innen über die Demokrat*innen zu den echten Reformer*innen, sie wurden entweder exiliert oder ins Gefängnis geworfen.

In Tunesien, Ägypten, Libyen und Syrien standen die despotischen Regimes einer Phase des Wandels gegenüber. Aber der Iran konnte das bisher verhindern, indem er den Krieg außen führte. Aber sowohl das internationale Embargo, die Unterdrückungspolitik des Regimes gegenüber den Völkern, als auch die aktuelle ökonomische Krise sind an einen Punkt geraten, an dem sie nicht weiter ertragen werden können.

Ist die auf den Demonstrationen gerufene Parole „Lass Syrien, lass den Libanon, schau auf den Iran!“ ein Ausdruck davon?

Seit der Revolution von 1979 nutzte das iranische Regime die finanziellen Möglichkeiten des Landes dafür, seine Ideologie in Nachbarstaaten zu verbreiten, anstatt das Niveau des Wohlstands im Iran zu steigern. Das ist das eine. Ein anderer Punkt ist, dass das Regime, wenn es zu den Forderungen nach Freiheit, der Anhebung der demokratischen Standards und legitimen Rechte kam, diese immer als „Spiel äußerer Mächte“ und als „Abweichlertum“ darzustellen vermochte und dementsprechend zu unterdrücken versuchte. Zum Beispiel haben sie den Verteidigungshaushalt für dieses Jahr verdoppelt, während der Haushalt für Bildung, Gesundheit und andere Bedürfnisse halbiert wurde. Die Öffentlichkeit erkennt und erlebt das.

Sie haben gesagt, das iranische Regime bezeichnet die Aktionen als „Abweichlertum“ und „von außen organisiert“. Aber andere Kräfte versuchen, die Aktionen als Abrechnung zwischen zwei Machtblöcken im Iran darzustellen. Was davon ist richtig?

Es ist richtig, es gibt eine Krise im System des Iran. Bisher haben die Machhabenden das geleugnet. Aber jetzt ist es sehr schwer, das heute noch zu verneinen. Im Iran hat es Wahlen gegeben, und die Bevölkerung hat den Reformisten noch mal eine Chance gegeben. Diese Chance wurde in der Hoffnung auf einen Wandel gegeben und Ruhani wurde an die Macht gebracht. Aber es wurde klar, dass auch Ruhani Teil dieses Systems ist. So sind beispielsweise 55 Prozent der iranischen Gesellschaft weiblich, aber in Ruhanis Kabinett gab es keine einzige Ministerin. Die iranische Gesellschaft besteht zu 50 Prozent aus nichtpersischen Völkern, aus Kurd*innen, Azeri, Bellutsch*innen und Araber*innen, aber nicht einer der Minister im Kabinett stammt aus diesen Gruppen.

Der Prozess der Kabinettsbildung allein war schon schmerzhaft. Ruhani stellte sein Parlament zuerst der religiösen Autorität Chamenei vor, damit wurden die Schwierigkeiten mit den Pasdaran überwunden. Irans Regierungssystem ist für Außenstehende etwas verwirrend. Wer ist im iranischen Regierungssystem wer?

Nun, eine Person oder Institution, die im Iran Politik machen will, muss die Bedingungen des religiösen Expertenrats akzeptieren, der direkt mit Chamenei verbunden ist und dessen Mitglieder von ihm ernannt werden. In den 40 Jahren seit der Revolution im Iran wird alles, was getan werden soll, im Einklang mit den Interessen der Revolution gemacht. Im Zentrum sind die konservativen Hardliner, die sich auf Chamenei und die Pasdaran (Iranische Revolutionsgarde) stützen und die Reformer, die behaupten, ein wenig toleranter zu sein. Die Reformisten versuchen, die Hoffnungen des Volkes in das System zu bewahren. Zur Täuschung der Bevölkerung wird Demokratie gespielt. So war Chatami zum Beispiel Reformer. Er war acht Jahre an der Macht, und das war die Zeit, mit der größten Repression. Zum Beispiel stand er eines Morgens auf und ließ 79 Zeitungen schließen, so wie Erdoğan das heute in der Türkei macht … Sie haben Dutzende Journalist*innen ermordet. Danach wurde Mahmud Ahmadinedschad von den Konservativen als Republikspräsident an die Macht gebracht. Sie hatten ihn Chameneis Bruder im Geiste genannt. Aber er ist der Hauptverantwortliche dafür, dass Tausende im Irak und in Rojhilat ermordet wurden. Er zerstörte alle Beziehungen des Iran zu Welt. Aber in Richtung der Wünsche des Systems. Neben ihn haben sie, für diejenigen die Ahmadinedschad nicht mögen, Ruhani gestellt, der angeblich gemäßigter sei.

Was die heutigen Aktionen angeht … Die Aktionen begannen in Meşhed der Heimatstadt Chameneis. Als es im Jahr 2009 nach den Wahlen Proteste von Reformern gab, hat sich diese Stadt an der Seite Chameneis positioniert in der es Gegenproteste gab. Auch in Kum, einer symbolisch für Schiiten wichtigen Stadt, finden Aktionen statt und auch in Isfahan. Wie ist dies zu verstehen, auch in Hinsicht auf die Ausbreitung der Aktionen?

Dies ist das erste Mal in der Geschichte von Meşhed seit der islamischen Revolution vor 40 Jahren, dass in dieser als Festung des persischen Nationalismus bekannten Stadt Proteste auf diesem Niveau stattfinden. Ja, das sind alles symbolisch wichtige Städte. Kum ist sicherlich einer der symbolisch bedeutendsten Orte. In Isfahan wird protestiert und Isfahan ist als inoffizielle Hauptstadt des Irans bekannt. Das weist darauf hin, dass die Gesellschaft nicht mehr in der Lage ist, das gegenwärtige System und die gegenwärtige Regierung zu ertragen. Schon nach der Revolution gab man ihr nur etwa 30–40 Jahre in diesem Zustand. Die Gesellschaft erträgt es einfach nicht mehr.

Ich möchte ein Beispiel geben: Das Budget für die Pausen innerhalb des iranischen Justizsystems ist drei Mal höher als das Budget aller anderen juristischen Institutionen. Nach einer Studie sind, um eine vierköpfige Familie im Iran mit trockenem Brot und Wasser für einen Monat zu ernähren, umgerechnet 125 Dollar notwendig. Aber im Iran haben Millionen von Menschen nicht einmal einen Job, um diese 125 Dollar zu verdienen. Darüber hinaus werden jeden Monat Millionen Dollar für den Krieg nach Syrien, den Libanon und in den Jemen geschickt. Sie verursachen den Tod von Tausenden von Menschen in diesen Ländern, aber die Menschen im eigenen Land haben Hunger. Es gab ein Erdbeben in Kirmaşan, der Staat half nicht, und er konfiszierte die Hilfe, die aus anderen Ländern kam. Nach dem Beben in Kirmaşan begingen etwa 20 Menschen Selbstmord. Warum? Verzweiflung, Armut, Obdachlosigkeit, Hunger … Was hat ein solches Volk noch zu verlieren? Deswegen rufen sie bei ihren Demonstrationen Parolen wie „Tod dem Regime”, „Tod der Diktatur”.

Es wird auch eine Debatte darüber geführt, ob diese Aktionen wirtschaftliche oder politische Ursachen haben. Was denken Sie?

Zu Beginn der Aktionen wurden vor allem Parolen mit wirtschaftlichen Forderungen gerufen. Aber es ist bereits Teil der iranischen Regimepolitik, die Bevölkerung durch Hunger zu disziplinieren. Wir können Ökonomie und Politik nicht voneinander trennen. Neben dem Hunger hat das Regime im Iran keine einzige Luftröhre zurückgelassen, durch welche die Gesellschaft ruhig atmen kann. Es gibt keine politischen Parteien, keine Intellektuellen, keine gesellschaftlichen Rechte, keine Frauenrechte, keine Zukunft für die Jugend, kein Recht für die Völker. Das ist alles Politik.

Als Journalist, der seit vielen Jahren das iranische System genau beobachtet, was ist Ihrer Meinung nach der Hauptunterschied, der diese von früheren Aktionen trennt?

Solche Aktionen fanden auch 2009 statt und auch gegen die Chatami-Regierung zwischen 1997 und 2005. Damals waren die Avantgarde der Aktionen die Jugend und vor allem Studierende. Die Proteste waren vor allem auf Teheran begrenzt. Aber jetzt beginnen die Aktionen in Städten wie Meşhed, Kum und Isfahan und breiten sich zunehmend in alle Städte des Irans aus. Die Menschen die leiden, sind arm, arbeitslos und jung. Frauen kommen auch auf die Straße. Hausfrauen sind auf der Straße und sagen, wir gehen nicht nach Hause. Deswegen wird der Aufstand häufig als „Înkilabî Gorisnegan“ (die Revolution des Hungers) bezeichnet.

Ein anderer Unterschied ist auch, dass es früher Aktionen der Reformisten gegen die Konservativen oder das Militär waren. Aber die Aktionen jetzt richten sich direkt gegen die Reformisten. Denn die Reformisten haben die Gesellschaft betrogen. Das machen die Reformisten seit 20 Jahren. Jedes Mal sammeln sie Stimmen und verkaufen die Hoffnungen des Volkes an Chamenei und das Militär.

Ist es also der Hauptunterschied, dass sich die Proteste sowohl gegen die Reformer als auch gegen die Konservativen richten?

Genau. Die Gesellschaft weiß mittlerweile sehr gut, dass die Reformisten und die Konservativen zwei Spieler im gleichen Siel sind. In dieser Hinsicht lohnt sich ein Blick auf die Parolen: „Tod dem Diktator“; „Tod Ruhani“, „Tod der islamischen Republik“, „Tod der Hisbollah“ wird gerufen. Die Gesellschaft ist sich nun bewusst, dass Reformen das System nicht verändern werden.

Aber wie geht es Ihrer Meinung nach weiter?

Wenn das Regime das Volk angreift, dann wird es keinen Schritt zurückgehen. Sie haben bisher versucht vorsichtig vorzugehen. Sie sehen auch, dass sich diese Wut 40 Jahre lang aufgestaut hat. Ja, die Revolution war richtig, aber die Ergebnisse nicht. Die Revolution ist gestohlen worden. Die Menschen wollen nun die Revolution von den Mullahs zurück und die Fehler korrigieren. Mit ihrer Aneignung wollen die Menschen die Verantwortung und Führung übernehmen.

Wer kann die Führung der Revolution übernehmen?

Das ist die Aufgabe, die den Revolutionär*innen im Ausland, den Intellektuellen, der Bevölkerung, den Jugendlichen, den Frauen und allen Komponenten der Gesellschaft zufällt. Aber wenn man etwas macht, dann muss man Lehren aus den Fehlern der Vergangenheit ziehen und diese Aufgabe ohne Erwartung einer Intervention von außen übernehmen.

Wenn von organisiertem Kampf im Iran gesprochen wird, sind die Kurd*innen die ersten, die einem in den Sinn kommen. Wie sehen Sie die Möglichkeit die kurdische Opposition mit der persischen, arabischen, belutschischen, aserbaidschanischen und andere sozialen Dynamiken zusammenzubringen. Können Sie zusammenfinden, oder wird es sein wie nach 1979?

Nach der Revolution von 1979 war das Zentrum aller linken, sozialistischen und kommunistischen Parteien in Sinê [in Rojhilat]. Abgesehen von den kurdischen Parteien sahen diese Parteien Sinê als ihr Zentrum. Das ist ein tiefes Vermächtnis. Es ist also nichts Neues. Dieses Erbe kann die revolutionären und demokratischen Kräfte zusammenbringen. Es ist ein gemeinsames Vermächtnis. Auf der anderen Seite ist das kurdische Volk eine politisierte Gesellschaft. So ist es auch in Rojhilat. Es ist das politisierteste Volk im Mittleren Osten. Es beeinflusst auch die anderen Völker. Der einzige Grund, warum sich das iranische Regime so sehr gegen das kurdische Volk in Rojhilat richtet, ist, dass sie keine Politisierung zu lassen wollen, sie versuchen zu entpolitisieren. Aber für das kurdische Volk ist Politik bedeutsamer als Brot und Wasser. So wurde zum Beispiel bei den Aktionen von Meşhed die Parole „Tod der Teuerung“ gerufen, während in Kirmaşan „Freiheit für alle politischen Gefangenen” gerufen wurde.

Können die beiden Parolen zusammenkommen?

Natürlich können sie das. Denn die Menschen im Iran haben Tausende Jahre Erfahrung im Zusammenleben. Sie haben ein großes Erbe. Sie haben Schulter an Schulter Dutzende von Diktaturen gestürzt. Es gab Dutzende von erfolgreichen Revolutionen. Wenn die revolutionären Kräfte und ihre Anführer*innen mit einem demokratischen Programm zusammenkommen können, dann gibt es keinen Grund, warum sie nicht erfolgreich sein sollten. Wenn sie sich dem Volk gegenüber aufrichtig verhalten, gibt es keinen Grund für ein Scheitern. Die Bevölkerung will es. Zum Beispiel war eine Parolen die heute gerufen wurde: „Habt keine Angst, habt keine Angst, wir sind alle zusammen“. Das ist eine Botschaft. Alle Kräfte, die eine Volksrevolution wollen, sollen zusammenkommen und gemeinsam weiter vorangehen – das ist die Botschaft.


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