Was wurde im Élysée besprochen? Was erwarten die Kurden nach Afrin?

Fehim Taştekin, Journalist und Syrienexperte, 10.04.2018

Als die Franzosen als Kolonialmacht in Syrien waren, beabsichtigten sie als Drohung gegen den arabischen Nationalismus Minderheiten zu unterstützen. In diesem Rahmen hatten sie phasenweise auch den Kurden den Weg geöffnet. Es waren die Franzosen, die die Bevölkerung der Region dazu anregten, sich anzusiedeln und Landwirtschaft zu betreiben, um die Grenzen mit der Türkei kontrollieren zu können. Die Städte haben in dieser Phase Form angenommen. Als die Kurden jedoch an den Punkt gelangten, an dem sie Autonomie verlangten, waren es die Franzosen, die dieses Begehren ablehnten und dafür sorgten, dass Aufständische unterdrückt wurden. Es war eine zaghafte Politik. Als die Franzosen 1920 im „Großen Syrien“ den „Libanesischen Staat“, „Damaskus-Staat“, „Aleppo-Staat“, „Alevitischen Staat“, „Drusen-Staat“ ausriefen, sahen sie für die kurdischen Regionen im Norden weder einen Staat noch eine Autonomie vor.

In seinen Beziehungen mit der Türkei waren die Kurden eine Karte [ein Trumpf, Anm. d. Übers.]. Er [der französische Staat, Anm. d. Übers.] duldete zwar die politischen und kulturellen Aktivitäten kurdischer Führungspersonen, die vom Norden in den Süden geflüchtet waren, doch wenn die Verbindung Ankara-Paris aufgrund der Kurden angespannt wurde, wurde sich für die Türkei entschieden. Diese Zeitperiode verblieb als ein schwarzes Kapitel im Gedächtnis der Kurden.

Nach Jahrzehnten beginnt sich Frankreich stärker für die Kurden zu interessieren. Als die Kurden sich 2015 im Kampf gegen den IS hervortaten, empfing der damalige Staatspräsident, François Hollande, die YPJ-Kommandantin Nesrin Abdullah und die frühere PYD-Kovorsitzende Asya Abdullah im Élysée-Palast. Dass PYD und YPG/YPJ in einer europäischen Hauptstadt empfangen worden sind, war im Sinne einer „politischen Anerkennung“ wichtig. Es war eine Phase, in der Ankara den Krieg gegen die PYD über Stellvertreter-Organisationen führte, noch keine offene Feindschaft deklarierte und sogar, wie in der Verlegung des Grabs des Süleyman Şah ersichtlich wurde, die Kanäle für Dialog und Zusammenarbeit offenhielt. So wurde in dieser Begegnung, auch wenn sie unbehaglich war, nicht weiter gewühlt.

Der amtierende Staatspräsident Emmanuel Macron brach die langanhaltende Stille: Am 29. März hat er im Élysée diesmal eine Delegation, bestehend aus der nun mit dem TEV-DEM-Kovorsitz betrauten Asya Abdullah, der YPJ-Sprecherin Nesrin Abdullah, dem Verantwortlichen für auswärtige Angelegenheiten der Syrisch Demokratischen Kräfte (SDF), Redur Halil, der Kovorsitzenden des Exekutivrats des Kantons Afrin, Hevin Raşid, dem Kovorsitzenden für auswärtige Angelegenheiten des Cezire Kantons, Siham Kiryo, einem Mitglied des des Exekutivrats für die Region Cezire, Faner Gaet und dem Frankreich-Vertreter der Autonomen Verwaltung Nordsyrien, Halid İsa, persönlich empfangen und eine Stunde lang beraten. [Dies geschieht] gerade in einer Periode, in der Macron trotz der Afrin-Operation einen Neuanfang mit Erdoğan versucht. Diese Öffnung kann an vielerlei Gründe gebunden sein. Zunächst kann gesagt werden, dass der US-Präsident, der von einem Abzug aus Syrien spricht, Frankreich, das dem Mittleren Osten nicht sehr fernbleiben kann, vor die Türkei drängt. Die Initiative über eine Verbindung mit den Kurden aufzunehmen, verbessert auch die Lage für Paris. Es wird berichtet, Trump habe zuvor in einer Begegnung mit Macron mitgeteilt: „Aufgrund der gemeinsamen, strategischen Nöte in Syrien ist es notwendig, die Beziehungen mit der Türkei zu intensivieren.“

Wie es scheint, hat Macron aus dieser Eingebung eine Vermittlungsaufgabe zwischen der Türkei und der YPG impliziert, doch kamen Äußerungen zutage, die den Kurden das Gefühl gaben, dass Frankreich den Kurden in Manbij und im Osten des Euphrat ein Schild werden könnte. Trumps Ultimatum eines Abzugs und die Machtdemonstration Macrons konnten von den Kurden nicht vollständig eingeordnet werden.

Frankreich ist “besonders”, wenn es um Syrien geht. Als alte Kolonialmacht hielt sie die Grundsteine des Landes in den Händen. Selbst als das Ausbeutungskapitel beendet war, hat es sein Interesse fortgesetzt.

So wie Frankreich 2011 in Libyen die Hand im Spiel hatte, so hat es sich auch in Syrien in destruktiver ins Gedächtnis gerufen. Als die in Syrien eingesetzte „neue Generation der dschihadistischen Waffe“ [FT spricht hier bildlich von Stellvertretern Frankreichs zur Destabilisierung Syriens, Anm. d. Übers.] sie selbst als Bumerang traf, taten sie einen Schritt zurück. Und nun eine neue Rolle, das wirft natürlich tausende Fragen auf. Angelehnt an die Geschichte erscheint es notwendig, zu fragen: Sind die Kurden für die Franzosen, so wie sie es früher schon waren, ein Mittel zur Herstellung der Gleichgewichte in Damaskus sowie in Ankara oder wertvolle Partner?

Ich habe mich mit den Mitgliedern der Delegation zusammengefunden, die in Paris mit Macron Gespräche geführt haben. Meine Fragen hat Redur Halil beantwortet. Kommentare spare ich mir für meine noch folgenden Artikel, im Folgenden übermittle ich ein Resümee des langen Gesprächs:

Was wurde im Élysée-Palast besprochen? Was haben die Kurden verlangt, was hat Emmanuel Macron in Aussicht gestellt?

Redur Halil: Wir sind da nicht mit einer Liste von Forderungen hingegangen. Wir haben die Lage geschildert. Frankreich verfolgt die Ereignisse mit großem Interesse und ist über die Aktivitäten der Türkei besorgt. Wie Sie wissen, ist Frankreich im Krieg gegen den IS ohnehin Teil der internationalen Koalition. Macron hat nicht den Ausdruck „Wir werden in Manbij Soldaten stationieren“ gebraucht, doch hat er gesagt, dass sie eine größere Verantwortung innerhalb der internationalen Koalition übernehmen werden. Nicht nur in Manbij, sondern in allen Operationsgebieten der internationalen Koalition werde Frankreich noch aktiver sein, bekräftigte er.

Wie deuten Sie den Vorstoß Frankreichs, während Trump erklärt: „Wir ziehen uns zeitnah aus Syrien zurück.“

Redur Halil: Es laufen da Dinge, die wir auch nicht zu genüge wissen. Während Trump von einem Abzug spricht, erhöht die Amerikaner ihre militärischen Kapazitäten auf dem Feld. Soweit wir das einordnen können, möchte Trump seine Koalitionspartner stärker in die Pflicht nehmen; wegen der Spannungen mit der Türkei soll nun Europa eine etwas stärkere Rolle spielen. Die Absicht könnte sein, dass damit die Spannungen nicht mehr als türkisch-amerikanische Spannungen gedeutet werden. Zudem geht Frankreich die Region besser als alle anderen. Dass es in den Vordergrund gerückt wird, ist daher normal.

Was ändert diese [neue] Haltung Frankreichs?

Redur Halil: Frankreich ist ein wichtiges Land innerhalb der EU. Die Position Paris‘ beeinflusst auch die anderen Länder. Auf diese Weise kann ein breiterer Block gegen die Türkei entstehen. Ich denke, dass die von Paris gesendete Botschaft in Ankara angekommen ist.

Nach dem unerwarteten Rückzug aus Rajo und Dschindires wurde erklärt, dass die YPG sich auf den Städtekampf vorbereitet. Doch mit dem plötzlichen Rückzug aus Afrin wurde die Kontrolle über die Stadt dem türkischen Militär und bewaffneten Gruppen überlassen. Dabei hieß aus kurdischen Kreisen, mit denen ich bis vor einem Tag davor sprach: „Wir leisten Widerstand bis zum Schluss“. Es ist klar, dass dort eine Sache lief. Momentan beschränkt man sich auf drei Szenarien. Erstens könnten der türkische Staat und Abdullah Öcalan eine Übereinkunft gefunden haben. Aus Imrali könnte die Nachricht zum Rückzug übermittelt worden sein. Hat die YPG eine Nachricht Öcalans empfangen?

Redur Halil: Nein. Gewiss ist keine Nachricht von Öcalan erhalten worden. Weder in Richtung eines „Leistet Widerstand!“ noch in Form eines „Zieht euch zurück!“, nie hat uns eine Nachricht erreicht.

Das zweite Szenario; die USA, zur Beruhigung der Türkei und zur Wahrung des Status quo östlich des Euphrat, könnte den Kurden einen Abzug aus Afrin nahegelegt haben. Spielten die USA hierbei eine Rolle?

Redur Halil: Nein. In unserer Entscheidung bezüglich Afrin kann nicht von einer [beeinflussenden] Rolle oder Einmischung der USA gesprochen werden. Die USA haben nicht versucht, die Türkei zur Abkehr von der Olivenzweig-Operation zu bewegen. Sie hat für die Kurden keinen Druck auf Ankara aufgebaut.

Redur Halil: Sie wissen, die USA haben von Anfang an keinerlei Verpflichtung in Bezug auf Afrin gezeigt. Sie deuteten an, dass sie sich hier nicht einmischen. Sie sagten das offen. Sie bedrängten uns bezüglich Afrin nicht in dieser oder jener Weise.

Das dritte Szenario, Kandil wollte einen Widerstand bis zum Schluss, doch die lokale Kommandantur war für einen Rückzug. Gab es solch eine Differenz zwischen KCK und YPG?

Redur Halil: Nein, es nicht wie dargestellt, von einem Entgegensetzen oder Konflikt kann nicht die Rede sein. Selbstverständlich wollte Kandil, dass ein starker Widerstand gezeigt wird. Doch waren die lokalen Umstände andere. Das kann niemand außer Acht lassen. Wir sahen, dass die Türkei entschlossen war, die Stadt zu zerstören und die Menschen zu massakrieren, um Afrin einzunehmen. Wir haben uns als Syrisch Demokratische Kräfte, um die Zerstörung der Städte und zivile Massaker zu vermeiden, dazu entschieden, uns aus der Stadt zurückzuziehen und uns einer anderen Kriegsstrategie zu widmen. Dies war nicht nur Entscheidung der Kommandantur in Afrin, sondern eine Entscheidung des gesamten SDF. Doch haben wir in Afrin nicht die weiße Fahne gehisst, an vielen Stellen geht unser Widerstand weiter. Der wird auch weitergehen bis Afrin befreit ist.

Kommen wir zu Manbij. Schätzen Sie die Zusage der USA als verlässlich ein? Sie könnten erneut eine Übereinkunft mit der Türkei suchen, um ihre Pläne für das Syrien östlich des Euphrat voranzutreiben.

Redur Halil: Uns wurde eine Fortführung der Unterstützung in Manbij und den Gebieten östlich des Euphrats zugesagt.

Ist dies eine sichere Zusage?

Redur Halil: Ja, es ist eine sichere Zusage. Die USA machen Manbij zu einer Sache des Prestiges, sie möchte die Kontrolle über Gebiete, die vom IS befreit worden sind, nicht übertragen. Das uns Gesagt ist, dass sie sich nicht aus Manbij zurückziehen werden. In der Praxis sehen wir auch genau dies.

Doch könnte die USA, ohne Manbij zu verlassen, die Kontrolle mit dem türkischen Militär teilen. Was wäre in diesem Fall die Haltung der Kurden? Afrin war ein sehr symbolischer Ort für die kurdische Bewegung. Seit Jahren sprach sie davon, dass Afrin ein besonderer Ort sei. Die YPG kann sich, wenn sie sich [schon] aus Afrin zurückzieht, auch nach und nach aus den nicht mehrheitlich kurdisch-besiedelten Tel Rifaat und Manbij ebenso zurückziehen. Sie könnte dies machen, um ihre Position in den Gebieten östlich des Euphrats zu schützen.

Redur Halil: Unabhängig von unseren Positionen wird die Haltung der internationalen Koalition bestimmend sein. Die USA haben ihre eigenen Berechnungen.

Und was ist mit Tel Rifaat?

Redur Halil: In Tel Rifaat sind noch viele Zivilisten, die aus Afrin evakuiert worden sind. Dort hat die YPG keine besondere Präsenz. Im Falle Tel Rifaats ist der Iran das eigentliche Hindernis für die Türkei. Tatsächlich greift dort der Iran-Faktor. Denn dort befinden sich die schiitischen Orte Zehra und Nubl. Der Iran hat großes Interesse an dem Gebiet und möchte kein Eindringen der Türkei.

Phasenweise die Rede davon, dass die syrische Armee dort eindringen würde. Dann wurde angeführt, dass sich Russland und die Türkei wie in Afrin sich so auch bei Tel Rifaat geeignet hätten.

Redur Halil: Das Regime spielt überhaupt keine Rolle. Das Wort haben die Russen. Die Stationierung der syrischen Armee in diesen Regionen hat Russland verhindert.

Unterdessen hat sich die Partei Zukunft Syriens gegründet. Es wird behauptet, es handle sich um ein Projekt der Amerikaner zur Umgehung der Widerstände gegen die PYD. Wozu wurde diese Partei gegründet, zu wem oder was stellt sie die Alternative dar?

Redur Halil: Es handelt sich um kein amerikanisches Projekt. Es handelt sich um ein eigens entwickeltes Projekt unsererseits, zur Repräsentanz der Gebiete unter der Kontrolle der SDF. Es ist das Projekt des SDF. Die Amerikaner haben es natürlich unterstützt. Eigentlich haben wir diese Partei für eine Vertretung jener Gebiete gegründet. Es handelt sich also um ein Projekt, das sich mit der Zukunft Syriens befasst. Die PYD ist die Partei der Kurden. Die neue Formation jedoch umfasst (mehrheitlich nicht kurdische) Gebiete wie Raqqa, Manbij und Deir ez-Zor und alle Gebiete mit verschiedenen ethnischen Gruppen. Diese Alternative dient der Errichtung der Zukunft Syriens. Dies hat nichts mit den Absichten der USA zur Besänftigung der Türkei zu tun. Sie wird auch nicht die PYD ersetzen. Die PYD wird wie auch in Vergangenheit ihre eigenen Aktivitäten fortführen.

In Gaziantep wird eine zu Ihnen alternative Verwaltung für Afrin eingerichtet. Gibt es hierzu einen Gegenpart in Afrin? Dies gebärt natürlich eine Entwicklung, die alte Feindschaften zwischen den Kurden heraufbeschwören könnte. Wie sehen Sie das?

Redur Halil: Nein, diese Personen haben nichts mit Afrin zu tun. Sie werden keine Unterstützung durch die Bevölkerung erfahren. Dass sie Kurden sind, ändert auch nichts.

Im Original erschien der Artikel am 04.04.2018 unter dem Titel “Elysée’de ne konuşuldu? Afrin’den sonra Kürtler ne bekliyor?” auf der Homepage des Nachrichtenportals Gazete Duvar.