Wenn das Kapital seine Zähne zeigt…

Murat Çakır über die vermeintliche Änderung der Türkei-Politik der Bundesregierung, 28.07.2017

In den über 150-jährigen deutsch-türkischen Beziehungen war die enge Kooperation zwischen den herrschenden Klassen in beiden Ländern eine Konstante. Selbst der verlorene Weltkrieg, der deutsche Faschismus oder die zahlreichen Interventionen der türkischen Militärs konnten dieser engen Kooperation nichts anhaben. Für die Bundesregierungen war das Festhalten an der »deutsch-türkischen Waffenbrüderschaft« und die Unterstützung aller bisherigen türkischer Regierungen, stets eine strategische Imperative. Und unter dem Protektorat der BRD konnten türkische Regierungen ihre Politiken umsetzen.

Doch die aktuellen Entwicklungen zeigen deutliche Risse in dieser »Brüderschaft«. Es stellt sich die Frage, ob die graduelle Korrektur des bisherigen Kurses der Bundesregierung eine Veränderung an der historischen Konstante zur Folge haben wird. Ohne Frage, die Beziehungen sind bis zum Äußersten gespannt und die Bundesregierung scheint, trotz der anstehenden Bundestagswahlen in seltener Eintracht gewillt zu sein, alle außenpolitischen Instrumente einsetzen zu wollen. Wie geht es nun weiter? Ist die strategische Partnerschaft nun am Ende? Können wir, wie liberale Geister es erhoffen, erwarten, dass die Bundesregierung und damit die EU den Druck auf dem AKP-Regime für die Wiederherstellung des parlamentarischen Systems erhöhen? Nicht zuletzt, worum geht es der Bundesregierung: um die Demokratie in der Türkei?

Was ist?

Um diese Fragen beantworten zu können, sollten wir uns zuerst die neuesten Schritte der Bundesregierung anschauen. Zwar deuten diese eher auf eine Symbolpolitik, haben aber durchaus materielle Auswirkungen, die das AKP-Regime arg ins Bedrängnis bringen werden. So könnte z.B. der verschärfte Reisehinweis des Auswärtigen Amtes als ein de facto Tourismus-Boykott verstanden werden. Dieser Hinweis wird aufgrund des damit verbundenen erhöhten Ausfallrisikos für deutsche Reiseunternehmen, für einen Rückgang der Zahl von deutschen Türkei-Touristen und damit Deviseneinnahmen sorgen. Da die Türkei die Verluste aus dem Tourismusgeschäft mit europäischen Tourist*innen nicht über russische bzw. arabische Tourist*innen kompensieren kann, wird sie empfindliche Verluste hinnehmen müssen.

Aber viel empfindlicher wird das AKP-Regime von der Investitionszurückhaltung deutscher Konzerne getroffen werden. Laut Aussage des Außenhandelschefs der DIHK haben BRD-Unternehmen viele Direktinvestitionen vertagt. Seit dem gescheiterten Putschversuch im letzten Jahr und der Verhängung des Ausnahmezustandes mit ihrer Enteignungspraxis sowie der entstandenen Rechtsunsicherheit sitzen mehr als 6.000 BRD-Unternehmen in der Türkei auf heißen Kohlen. Eine mögliche Einschränkung der Kreditabsicherungen und Garantien für Investitionen würde ihre Zurückhaltung erhöhen. Wenn man bedenkt, dass die BRD-Unternehmen in den wichtigsten Wirtschaftssektoren der Türkei, wie Kfz, Maschinenbau, Textil, Chemie, Pharmaka etc. tätig sind und zehntausende Arbeiter*innen beschäftigen, können die Auswirkungen eines Investitionsrückgangs erahnt werden.

Die wirtschaftlichen Beziehungen sind ohnehin belastet, das deutsche Exportvolumen in die Türkei liegt zwar bei rund 20 Milliarden Euro, zeigt aber deutliche Abwärtstrends. Die DIHK geht davon aus, dass das Exportvolumen in diesem Jahr um 10 Prozent schrumpfen wird. In einer solchen Situation haben Diskussionen über mögliche Einschränkungen der Zollunion, was ja für die Türkei die ökonomische Achillesferse bildet, für BRD-Unternehmen abschreckende Auswirkungen. Informierte, so auch deutsche wie türkische Regierungen wissen, dass nicht der etwaige Stopp der EU-Beitrittsgespräche, sondern Einschränkungen der EU-Zollunion verheerende Folgen für die türkische Wirtschaft haben werden.

Noch sind die ergriffenen Maßnahmen der Bundesregierung symbolischer Natur. Aber das deutsche Kapital hat längst seine Zähne gezeigt. Ob weitergehende Schritte folgen werden, ist jedoch höchst zweifelhaft. Denn die Türkei hat mit ihrer geostrategisch einzigartiger Lage sowohl für das deutsche Kapital, als auch für die Bundesregierung, die das Ziel der »Weltmachtwerdung« verfolgt, einen unschätzbaren Wert. Und die Reaktionen des AKP-Regimes zeigen, dass das »Zähne zeigen« längst seine Wirkung entfaltet hat.

Was wird?

Das AKP-Regime ist wieder einmal einer Fehleinschätzung unterlegen und dabei, zurück zu rudern. Aber das Regime hat auch gelernt, die EU-Beitrittsgespräche und die deutsch-türkischen Beziehungen zu instrumentalisieren. Der Flüchtlingsdeal, die Beitrittsgespräche, die günstige Lage des Landes und dessen Rolle bei der sog. »Energiediversifizierung« der EU sowie die aktuellen Entwicklungen im Nahen Osten werden so zu Hebelwirkungen für die Durchsetzung von Forderungen gegenüber europäischer Partner. Das Regime war sich sicher, dass die Bundesregierung gegenüber der Verhaftung deutscher Staatsangehörige, der quasi Verunmöglichmachung von konsularischen Hilfen an die Verhafteten und allgemein ihrer autoritärer Politik eher zurückhaltend und beschwichtigend handeln würde, was sie ja auch praktiziert hat. Fehleinschätzung des AKP-Regimes war es aber, dass die Bundesregierung der »Terrorlistung« von BRD-Unternehmen und damit dem Enteignungsrisiko von deutschem Kapital genauso reagieren würde.

Nun hat die Bundesregierung der AKP ihre Grenzen aufgezeigt – in der Sprache, die sie versteht. Weitergehende Maßnahmen, oder gar Abbruch der Beziehungen sind nicht zu erwarten. Zu erwarten ist aber, dass das AKP-Regime ihrem autoritären und aggressiven Kurs folgen wird. Mehr noch; heute ist die Gefahr einer offenen faschistischen Diktatur größer als denn je. Denn für das AKP-Regime – die, wie im Referendum deutlich wurde, an gesellschaftlicher Unterstützung verliert – ist die Machterhaltung nur auf diesem Wege möglich. Die Wiederherstellung des parlamentarischen Systems und der Gewaltenteilung wird unter der Präsidentschaft von Erdogan auf friedlichem Wege nicht möglich sein. Die Türkei ist längst ein Unrechtsstaat geworden und in Anbetracht der Gleichschaltung des Justizapparates kann konstatiert werden, dass ein demokratischer Machtwechsel kaum möglich ist. Und solange Erdogan und seine Regierung dazu lernen, die wirtschaftlichen und strategischen Interessen des Westens nicht anzutasten, solange werden sich sicher sein können, dass weder die »Demokratien« Europas noch andere strategische Partner mit einer faschistischen Diktatur in der Türkei ein Problem haben werden. Die bisherige Praxis der engen europäischen Zusammenarbeit mit Despoten und Diktaturen werden Erdogan und das Regime nur ermutigen, ihren Kurs beizubehalten.

Es ist der Türkei zu wünschen, dass die einzig wahre demokratische Opposition aus den Linken der Türkei und der kurdischen Befreiungsbewegung die Herausforderung meistern kann, ein breit aufgestelltes gesellschaftliches Oppositionsbündnis aufzubauen und entgegen der Erwartung des Autors, es bewerkstelligen können, einen demokratischen Wechsel herbeizuführen.

Der Artikel erschien erstmals auf der Seite des Autors: www.murat-cakir.de